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MichaelKarl

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Veröffentlicht am 29.12.2021

Aufbruch aus der Apathie

Die 68er Bewegung
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Die Professorin für Allgemeine Geschichte an der Uni Bielefeld legte 2001 eine angenehm knappe und sehr dichte, europäisch - transatlantische ausgerichtete Darstellung vor, die nun in der 6. Auflage (!) ...

Die Professorin für Allgemeine Geschichte an der Uni Bielefeld legte 2001 eine angenehm knappe und sehr dichte, europäisch - transatlantische ausgerichtete Darstellung vor, die nun in der 6. Auflage (!) weiterhin zum Sparpreis erhältlich ist. Einen solchen Kauf muss also niemand bereuen, wenn er eine einführende Darstellung zum berühmten Thema der 68er lesen möchte. Aber auch der schon etwas kundigere Leser wird hier noch auf manch Überraschendes stoßen, etwa dass Charles de Gaulle am 29.05.1968 als französischer Staatschef quasi aus der Hauptstadt floh und „mit dem Hubschrauber nach Baden-Baden (!) fliegt, überzeugt, die Macht verloren zu haben“ (90) oder dass Kunzelmann und Konsorten „in der Atelierwohnung des in NY lebenden Schriftstellers Uwe Johnson (…) die erste Kommune in Berlin ein(richten)“ (55) oder dass „der ehemalige SDS - Vorsitzende Reimut Reiche (…) auf einer Vollversammlung der Soziologen am 10. Dezember (1968 in Frankfurt/M) in Anwesenheit der Professoren Jürgen Habermas und Theodor W. Adorno (erklärt habe), dass (…) man den herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb zerschlagen und alle Professoren, die nicht gewillt seien, an der (…) von Studenten selbst organisierten Wissenschaft teilzunehmen, in die Zonenrandgebiete oder (!) nach Konstanz schicken könne.“ (108) Hätten Sie das gewusst? Hatte Konstanz, heute eine Exzellenzuni, das verdient (oder das ´Zonengebiet´)? Der allen bekannte Dutschke (Jg.1940) wird von Rudolf Augstein „monatlich mit 1000 DM unterstützt“ und nach einem „Titelphoto in der Zeitschrift `Capital´ auf Ausschluss aus dem SDS verklagt und „angeklagt sich zum ´Hofnarren der herrschenden Klasse´ degradiert haben zu lassen.“ (106) Herrliche Zeiten! Weniger herrlich waren dann die „bleiernen (70er) Jahre“, die Anni di piombo (76), aber sie liegen eigentlich nicht mehr in der Reichweite dieses meisterhaften „Überblick(s) über den Aufstieg, die Ziele und den Zerfall der 68er Bewegung“ (Klappentext). Der „Ausbruch aus der Apathie“ wird in „Soho, Frühjahr 1960“ verortet, im Erdgeschoss von No7 Carlisle Road, der Redaktion der New Left Review um Historiker und Soziologen wie E.P. Thompson, 37, oder Raymond Williams, 48. Das französische Pendant ist in Paris, das deutsche in Berlin („Das Argument“) oder das italienische ist der „Rigionamenti“. Die „freischwebenden Intellektuellen der Neuen Linken“ schaffen parallel zum deutschen Wirtschaftswunder in den 60er Jahren eine „neue kognitive Orientierung.“ (12-17) Ideen müssen allerdings „Sozialrelevanz (…) entfalten“ wie etwa in Port Huron (Michigan), 40 Meilen von Detroit entfernt, wo es auch einen SDS gibt und wo ein Autor wie C. Wright Mills als „the big daddy of the New Left“ nicht nur Studenten der Soziologie wie Tom Hayden, 23, aus Ann Arbor (Michigan) beeinflusst hat. (19) Der deutsche SDS hat 1962 schon seinen 17. Delegiertenkongress, denn er wurde bereits 1946 gegründet. (20) 1962 legt er eine überarbeitete Fassung der Hochschuldenkschrift vor, die uns heute wieder zu denken geben müsste: „Kritisiert werden in dieser Denkschrift die Reduktion von Bildung auf Ausbildung, d.h. ´die Verdinglichung des Wissens zum Stereotyp, zur bloßen Parole des know how.“ (21) Eine Broschüre aus „Straßburg, Herbst 1966“ geißelt „die Kritiklosigkeit (…), die auch den Universitätsalltag prägt.“ (23) In „Berkeley, September 1964“ eskaliert der Streit um einen Büchertisch, Zielscheibe des Protests sind die „akademischen Bürokraten“ und das Multiversity - Bildungskonzept der Hochschulleitung. (26-29) An der FU Berlin gibt es Trouble um ein Hausverbot für Erich Kuby und regt zum Nachdenken über den Namen „Freie Universität“ an. (30-33) In Vietnam steigt die US - Präsenz in zwei Jahren (1964-66) um das Zweihundertfache (35), was die angesprochene Entfaltung der Sozialrelevanz stark begünstigte - „der Vietnamkrieg als Katalysator der Proteste“ -, dessen wellenartiger „Transfer der Proteste von Amerika nach Europa“ (45) die Autorin in Kapitel II,2 darstellt, wo sich Kürze auf Würze reimt. (35-49) Das Auto von Robert McNamara wird auf dem Camups von Harvard von den Studenten kräftig durchgerüttelt. (47) In Kapitel II,3 wird dann die „Diffusion von Ideen“ (49) als Aufweichen von harter Politik durch weiche Soziokultur gesehen: Marihuana, Beat - Boheme (Beat, Folk, Rock), Kerouacs ´On the Road´, Hare Krishna, Hippies, Räucherstäbchen und Dr. Spocks Sauberkeitserziehung mit ihrer entspannten Haltung gegenüber Masturbation. (50-54) „Was die jugendlichen Rebellen mit dem SDS verbindet, sind die Abkehr von der `wahnsinnigen Rationalität´ technokratischer Apparate.“ (52) Auf dem deutschen Festland (Kap. II,4) scheint es sich dagegen in der Hauptsache um intellektuelle Kopfgeburten gehandelt zu haben - Marcuse, Adorno oder Enzensberger stehen dafür. (58-61) Im 3. Teil (III.) werden die „Mobilisierungsprozesse“ in dichter Folge skizziert. (61-94) Mit den „Doors“, einer Band, fordert man den Sofortvollzug NOW (78), Mai 68 mobilisiert in Frankreich in kurzer Zeit „7,5 - 9 Millionen Arbeiter im Streik.“ (86) Autogestion (Selbstverwaltung) und Contestation (das sich selbst in Szene Setzen) sind die Losungen des Tages, der Stunde. Parallel sitzt der Deutsche Bundestag an der 3. Lesung der Notstandsgesetze. (91) Im Sauseschritt kommt es im 4. Teil (IV.) zu dem Zerfall und den Nachwirkungen. (95-125) Der Ruf „Organisation statt Aktion“ wird gehört, die Mäßigung sogar in Frankreich oder Italien angestrebt. (100-105) Die deutschen K-Gruppen sind in den 70er Jahren zwar weiter aktiv, aber „die Antiautoritären lösen sich in Subkulturen auf.“ (106) Horst Mahler sieht sich einer Schadenersatzklage des Hauses Springer „in Höhe von 506.696,70 DM“ ausgesetzt (107, die Gegenrevolution nimmt es also genau. „Der SDS hat sich am 21. März 1970 aufgelöst.“ (111) Die Rebellion ist kein Selbstzweck, allenfalls ein Mittel zum Zweck, der aber demokratischer Kontrolle bedarf - und die findet im Parlament statt. Zur Not tut es wie zu Goethes Zeiten eine Einstellung in den Staatsdienst auch, pompös zum „Marsch durch die Institutionen“ heroisiert. Die Veteranen beziehen heute nach langen Dienstjahren ihre verdienten Pensionen.
Michael Karl

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Veröffentlicht am 29.12.2021

Summa cum gaudi: “We´re the Children of the Eighties”

Warum unsere Studenten so angepasst sind
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Im Klappentext wird ein “Blick hinter die Kulissen des Uni - Alltags” und eine Beschreibung versprochen, „was zwischen Credit Points und PowerPoint - Präsentation im Argen liegt.“ Ob solches auf weniger ...

Im Klappentext wird ein “Blick hinter die Kulissen des Uni - Alltags” und eine Beschreibung versprochen, „was zwischen Credit Points und PowerPoint - Präsentation im Argen liegt.“ Ob solches auf weniger als 80 Seiten eingelöst werden kann, darf bezweifelt werden, aber einige Schlaglichter auf eine fortdauernde Misere wird man schon erwarten dürfen. Die Autorin bekennt sich zur „Generation Privatfernsehen“ der späten 80er Jahre, der „die Protestsängerin Joan Baez“ ein Lied gewidmet habe (71), die „mit den Elefantenrunden der Bonner Republik aufgewachsen“ sei und die sich „lange bevor das Internet zum Massenmedium wurde“ von der klassischen Politikberichterstattung abgewendet habe. „Als Gerhard Schröder 1998 Kanzler wurde, beschäftigten sich die visuell Reizbaren lieber mit seinem italienischen Schneider als mit seinen politischen Ideen.“ (17) Die Autorin hatte 1987 ein „Abitur in Westdeutschland“ in der Tasche und studierte wie „die Jugend der späten Achtziger“ eine Geisteswissenschaft „unter anderem auch deshalb, weil man Helmut Kohl als geistlos empfand.“ Die Jugend der Wendezeit und der Wiedervereinigung „feiere wieder Abibälle mit Abendkleid und Krawatten, sie mache Tanzkurse und verstehe sich gut mit den Eltern. Sie protestiere nicht mehr gegen den NATO - Doppelbeschluss, sondern träume von Eigenheim und Doppelgarage.“ (14) An der Uni Bonn jobben die Politikstudenten als „Hilfskraft beim Bundestag“, während die Politologen am Berliner Otto-Suhr-Institut „niemals für ein fragwürdiges System namens BRD die Akten schleppen wollten.“ (16, 36) Anfang der 90er Jahre lernt die Autorin an der Sorbonne den studentischen Einsatz von Diktiergeräten kennen, um das vielfach Abgehörte und Gelernte „bei der nächsten Prüfung auf das Papier fließen (zu lassen).“ (13) In der Rolle der Dozentin hat die Autorin dann in Bonn „seit dem Sommersemester 2000“ (7) eigene Studenten und Studentinnen - „im Durchschnitt fünfzehn (…) im Laufe der Jahre nicht einmal tausend“ (9f) -, die keine Diktiergeräte, sondern „diese großen Wasserflaschen aus Plastik“ mitführen. „Während einer Doppelstunde Regierungslehre schafften viele locker einen Liter.“ (12) Es sind also eben diese Studenten - „schade, dass sie Bildung als Ballast empfinden“ (8) -, die schon im Titel als „so angepasst“ bezeichnet werden. Was aber genau heißt angepasst? „Nicht - Lesen ist nicht mehr peinlich, ebenso wenig wie Nicht - Klassikhören.“ (18) Konventionen bestehen dennoch fort. „Das ideologische Feuer von einst wurde mit stillem Wasser gelöscht. Übrig geblieben ist PRAGMATISMUS. Man könnte auch sagen: Überraschungsresistenz.“ (20) „Okaysein ist das oberste Lernziel (...). Okay ist das wahre Exzellent.“ (22) Was sich nicht in den harten Tatsachen der MESSWERTE von Natur- und Marktgesetzen fassen lässt, muss in einem Laberfach wie Politikwissenschaft ausgelagert und unschädlich gemacht werden (siehe Kinders „Geplapper“ - These in Rez.12). Wurde das Wort Universität früher etymologisch von lat „ad unum vertere“ (das auf ein Ziel Gerichtete) hergeleitet, handelt es sich heute eher um ein ausuferndes Fächergestell als Folge einer wundersamen Fächervermehrung, das auf ein prokrustes Prinzip der reinen NUTZANWENDUNG zurechtgestutzt wurde - „als sei Uni die Abkürzung für Uniformität.“ (24) Zur MESSBARKEIT gehören natürlich auch die NOTEN, die einerseits immer besser werden, die aber andererseits „Orientierung und Objektivität (bloß vorgaukeln).“ (26) Aber alle (!) „haben verstanden, dass Zahlen zählen“ (28), also sind Schulen und Hochschulen zu Fabriken für die Herstellung von Punkten und Noten degradiert worden. „Denn die Note ist das, was (…) vom Studium übrig bleibt.“ (28) Das lädt zum Pokern ein, wo es auch um exakte und möglichst hohe Werte geht. „Viele fehlen (dann) punktgenau“ (bei Prüfungen), um die eigene Wertung nicht zu gefährden. „Der akademische Bildungsweg führt nach meiner Privatempirie oft über das BILD“, das ein „Durchpflügen vielseitiger (!) Texte“ vermeiden helfen soll. (35) SINN und NUTZEN sind deckungsgleich geworden. Studenten erwarten, dass Wissenschaft sofort verwertbar ist. (…) Das Nützliche macht mein Publikum ruhig, das scheinbar Unnütze nervös.“ (39) Das Attention-span-problem, das mir der Yale-Mediävist Paul Freedman schon vor Jahren in einer Mail beschrieb, findet sich auch in Florins Text: „Viele der heute 20-Jährigen haben als Kinder der Neunziger ein ausgefeiltes Langeweilevermeidungsprogramm (…) durchlaufen. Sie verweilen höchstens zwei Minuten auf einer Internetseite, meistens klicken sie deutlich früher weiter. Ein Moment nachdenklicher Stille im Seminarraum wirkt auf sie wie eine Ton- und Bildstörung. (…) Das ist die Kehrseite des Show-Effekts.“ (49)
Michael Karl

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Veröffentlicht am 29.12.2021

Die Giraffe als eine Art von Gier-Affe? Eine Menschensuche im Holozän

Der Hals der Giraffe
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Vor zehn Jahren erhob sich 2011 diese neue und junge Stimme einer DDR - Nachfolgeliteratur durch eine Doppelveröffentlichung zweier Bücher beim bekannten Suhrkamp-Verlag, hier abgekürzt betitelt als „Blau“ ...

Vor zehn Jahren erhob sich 2011 diese neue und junge Stimme einer DDR - Nachfolgeliteratur durch eine Doppelveröffentlichung zweier Bücher beim bekannten Suhrkamp-Verlag, hier abgekürzt betitelt als „Blau“ und „Giraffe“, wobei „Blau“ bereits 2008 bei einem kleinen Verlag in Hamburg quasi vorveröffentlicht worden war. Die Autorin liebte es damals wohl (oder war es der neue Verlag?), die Leute zu foppen, als stamme sie wie Grass von dickköpfigen, vierschrötigen und eigenwilligen Kaschuben ab; u.a. dürften die beiden eher ridikülen Gattungsbezeichnungen - hier Matrosenroman, dort Bildungsroman - aus der blauen Luft gegriffen worden sein, wenn sie nicht eine gehörige Portion Spottlust transportieren sollten bezüglich solcher Einordnungsmanien und -gewohnheiten im traditionellen Wissenschafts-, Kultur- und Literaturbetrieb. Der sog. Bildungsroman ist sogar das glatte Gegenteil, wie man in Schwaben vielleicht immer noch sagen würde, nämlich die für den Leser an vielen Stellen höchst beklemmende Schilderung einer festgefahrenen Situation, einer zu Tode gerittenen Intuition, während der sog. Matrosenroman mit selbigen nur insofern etwas an der Mütze hat, als die großvateraffine Protagonistin Jenny eine Schwäche für uniformierte Seeleute hat (eben Matrosen, den Erfindern der Tattoos), als sei sie komplett aus der Zeit gefallen und eigentlich eine Zeitgenossin jener feschen Leute, die nach der ersten oder zweiten Flottennovelle im Deutschen Reichstag vor 1914 auf einmal eine nautische Komponente in ihrem Leben haben und Matrosenanzüge an ihren Kindern sehen wollten. Dabei ist „Blau“ eigentlich dreigeteilt: Etwa ein Drittel wird vom famosen Großvater beherrscht, der für die Gründerväter der DDR stehen dürfte und der die burschikose Enkelin den beruflich allzu eingespannten Eltern - beide Lehrer in einer Stadt an der Ostsee (Greifswald, aus der die Autorin selber stammt), und vermutliche Repräsentanten der DDR - Trägergruppen „im Schatten der Mauer“ - abnimmt und mit Natur, frischer Luft und sozialistischem Seemannsgarn versorgt und quasi einwickelt, sodass die schon erwachsen gewordene Protagonistin, die nun ihre Sommer eher in der Bibliothek zubringt (33), im zweiten Drittel dieses Debutromans aus dem Jahr 2008 strammes Interesse an den geistigen Errungenschaften des Großen Bruders der DDR im Osten der Welt zeigt (a), während sie am Big Brother in der entgegen gesetzten Himmelsrichtung, dem neowilden Westen, ähnlich wie bei Koeppen, der vom „Tanzhaus des Dollars“, vom „Hohelied des Geldes“ und den „Vestalinnen der Großfinanz“ schrieb (b), und natürlich völlig anders als Uwe Johnsons zentrale Figur der Gesine Cresspahl im dritten Drittel von „Blau“ kein gutes Haar an dem Staat der Bonzen und Kapitalisten lässt. Es tauchen Wörter auf wie Dreamland (87), Glühbirnenparadiese(89), Rummelplatz und Wunschmaschinen(93). Hören wir kurz hinein in die usa-kritischen O-Töne von „Blau“: „Die umzäunten Paradiese sind Fluchtort der Kirmesgeschöpfe, Endlager ausgedienter Zukunftsmaschinen, Geburtsort des Hot Dog und Geburtsort der Rolltreppe (...), a pleasure to ride auf dem Spielplatz der Welt nur um der Bewegung willen. (...) Nachts ragt die sagenhafte Stadt aus dem Ozean, betrügt mit Millionen grellen Glühbirnen die Dunkelheit, rebelliert gegen die natürlichen Rhythmen.“(86f) (Survivalfächerkombination: Biologie und Sport) „Der Hals der Giraffe“, dieses kleine Wunderwerk von einem Zwittergebilde, einem Sachbuchroman, hat Felicitas von Lovenberg am 9.9.2011 in der FAZ sehr wohlwollend und ausführlich besprochen. Sie findet „alles (an dem Roman) ungewöhnlich“. Es gebe eine „Mischung aus spielerischer Vorstellungskunst und wissenschaftlicher Exaktheit“, einen „Lupenblick für das große Ganze“ durch eine gut erfundene „Biologielehrerin am Charles-Darwin-Gymnasium in einer Kleinstadt im hinteren Vorpommern“, deren 9. Klasse nur noch aus 12 Schülern besteht, die in vier Jahren das Abitur ablegen werden, dann „wird die Schule dichtgemacht“ - das Artensterben ist auch ein Institutionensterben. Die Lehrerin heißt Inge Lohmark, was in etwa auf „Brandrodung im Grenzgebiet“ hindeutet, die sich noch zu DDR-Zeiten für die ultimative Fächerkombination im Survival-Überlebenskampf entschieden hat, die Fächer Sport und Bio(logie), und nun als putative Mittfünfzigerin(37) zwischen Fachraum und Sporthalle hin- und herhechelt und im Praktischen wie im Theoretischen das von der Natur zweifellos vorgegebene Gesetz der immer währenden körperlichen Fitness in jeder sich bietenden Form darbietet, die Pausen wie andere Lehrer auch im Lehrerzimmer im Gespräch mit den Kollegen verbringt, nur dass hier sowohl die Kollegen wie auch die Schüler vor der Messlatte fachlicher Gesetzmäßigkeiten und Überzeugungen meist mit einem Ungenügend bewertet werden und kaum jemand den gestellten Ansprüchen der Inge Lohmark gerecht werden kann. (Nomenclatura: natura bruta) Der Roman kommt wie ein Sachbuch daher - mit drei größeren Kapiteln, die mit „Naturhaushalte“ (7-82), „Vererbungsgänge“ (85-173) sowie „Entwicklungslehre“ überschrieben sind, und wie bei einem Sachbuch über jeder geradzahligen Seite (jeweils oben links) den Titel des Kapitels wiederholt. Aber auch über jeder ungeradzahligen Seite (jeweils oben rechts) sind die meisten mit evolutionsbiologischen Stichworten als Seiten-Lemmata beschriftet, nach meiner Zählung im Ganzen immerhin 90, und zwar 33 beim ersten, 40 beim zweiten und schließlich noch einmal 17 beim dritten Kapitel, die von A wie Artenvielfalt (95) bis W wie Wirbellose (101) reichen. Als fachlicher Laie musste ich zahlreiche Fachbegriffe der Evolutionsbiologie, ich gestehe es freimütig, nachschlagen, etwa Dickenwachstum (37), Kahnstellung (73), Fetalzeit (121), Torbogenreflex (127), Jarowisation (141), Morganismus (143), Kraneometrie (171), Neotenie (185), Lamarckismus (209) oder Anagenese (211). Diese Nomenclatura einer natura bruta gibt mithin einen begrifflichen und sachlichen Rahmen vor, der u.a. ergänzt wird durch filigrane Illustrationen, etwa zwei Dutzend an der Zahl, die mitunter unpaginierte Doppelseiten einnehmen und der erklärenden Beschriftung vollkommen entbehren, als sei ihre Kenntnis eine triviale Selbstverständlichkeit: Raupe (16), Walross (26f), Quallen (32f), Jahresringe (38f), Amöbe? (46), Flughund als Skelett (56f), Farne vor Baumlandschaft (66f), Vogelzug (87), Vom Zellhaufen zum Frosch (100), Doppelhelix + Biene? (109f), Vererbungsmatrix + Chromosomenkatalog (115f), Fleckvieh (120), verhaltensauffälliger Hund (133), Gangliengewächs? (188f), Barbe? + Schnabeltier (192f), homo erectus (195), Flugsaurierfossil (196), Phylogenese (200f) sowie Spalierastkultur (214f). Über die Auswahl und Streuung der Bildmotive ließe sich streiten, die Verbindung von Nomenclatura und Illustration jedenfalls schafft ein Gehäuse der Aufmerksamkeit, wenn nicht der Hörigkeit (Max Weber), aus dem es für Leser wie Autor auszubrechen gilt. (Skrupellose Oberweiten) Ortega Y Gasset hat schon vor fast 100 Jahren davor gewarnt, bei menschlichen Wesen das Biologische wichtiger zu nehmen als das Biografische. Wie recht er hatte, kann man bei Frau Lohmark mehr als bestätigt finden, die nur reine Fachliteratur kennt, diese aber, durchaus ein Erkenntnisgewinn für die Leser, ausgiebig und bis zum Exzess verästelt memoriert, rezipiert, rezitiert und quintessenzialisiert: Am Anfang war nicht das Wort, sondern „die Qualle“ (35); der Mensch ist nur „ein flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis“ (70). „Die Begattung war nun einmal eine Kampfhandlung“ (88) und der Erbgang - mit einem TV-Format aus der DDR-Unterhaltung - letztlich „ein Kessel Buntes“ (119). Anpassung ist „der Kern aller Gesundheit“ (151), auch bei „sprechenden Tier(en)“, die schon Aristoteles so bezeichnet hat (zoon logon echon), was die Lohmark aber nicht weiß.(159) „Mutterliebe, das war ein Hormon“ (166), der Verstand zwingt (nicht nur Männer) ins „Kausalitätskettenhemd“ (172) und zehn Jahre vor Corona lautet das Fazit: Bakterien und Viren sind „die wahren Herrscher der Welt.“ (183) Am Buch der Natur sind alle Siegel aufgebrochen, darin sind die Menschen bloß Sonderlinge und „die letzten Hoschis“ (144). Auf der unpaginierten Doppelseite Seite 20f finden wir einen Sitzplan der Klasse 9 mit 12 Schülern, links die sechs Mädchen, rechts die sechs Knaben - das Lehrer-Pult steht vorne mittig und seine Linie nach oben (hinten) bildet den gender gap. Der Sitzplan enthält hier aber nicht bloß die Vornamen der Schüler, sondern als eine Art auf den jungen Menschen angewandtes Periodensystem transportiert er die Festlegung des Einzelnen auf natürliche Eigenschaften, ist er Denomination und Determination in einem Vorgang. Hinten links hat die blondierte J. eine „skrupellose Oberweite“ und ist „von Geburt an selbstsüchtig“. Daneben Saskia (ohne Schminke) prägt ein „stullendummer Ausdruck“. In der Mitte folgen Laura („unauffällig wie Unkraut“), Tabea („Kindchenschemagesicht“) und Erika („das Heidekraut“). Vorne links sitzt Ellen solo - „ein dumpfes Duldungstier“ und „Opfer auf Lebenszeit“. Rechts hinten wurden Kevin und Ferdinand auseinander gesetzt; ersterer „ein Nervbolzen“ und „nur durch ständiges Füttern ruhigzustellen“. Letzterer „wirbelreich wie ein Rosettenmeerschwein“. Die beiden Jungs in der Mitte, Tom und Paul, dürfen nebeneinandersitzen; sie sind u.a. frohwüchsig, gut bemuskelt und behäbig. Vorne stört Annika die Genderordnung, denn es sind eigentlich 7 Mädchen und nur 5 Jungs (11) - aber sie passt ins Schema, denn sie zeigt maskuline Eigenschaften wie vortragsgeil oder überambitioniert. Außerdem sei sie „Klassensprecherin seit der Geburt.“ Daneben ein Pfarrerskind, „die Haare dicht wie Maulwurfsfell“, ein „typischer Erste-Bank-Schüler.“ (Busfahren und Unterrichten) Die junge Autorin gibt uns Einblicke in den beruflichen und privaten Alltag ihrer Hauptfigur und verteilt unsere Aufmerksamkeit auf lange Überlandfahrten mit dem Schulbus (71-78,91-103), das Unterrichtsgeschehen in Biologie (17-30,103-136,181-203) und Sport (53-60,211-220), Gespräche im Lehrerzimmer (40-53,136-147) und kurze Hinweise auf das Privatleben der verheirateten Lehrerin, deren einziges Kind, eine Tochter, 35 Jahre alt ist und seit 12 Jahren in den USA („Amiland“) lebt, wo die Eltern sie „vor bestimmt zehn Jahre(n)“ bisher „das einzige Mal“ besucht haben. (37,62,117) Wir werden auf das unvertraute Terrain einer Straußenfarm geführt, die Wolfgang Lohmark betreibt, und hören von einem weisen Nachbarn Hans (78-81 u.ö.), der mit bodenständigen Ansichten zu überzeugen weiß: „Letztlich hat das Wetter recht, nicht die Prognose.“ (217) Die Einblicke in das Busfahren und Unterrichten versorgen den Roman mit dem nötigen Massenfutter und Stoff, bei der Motivierung und Ausführung geht es aber nicht immer mit rechten Dingen zu oder man sieht noch etwas zu sehr die Fadenheftung, die die narrative Konstruktion zusammenhalten muss. Denn eigentlich ist die Lehrerin, wie die meisten Akademiker, keine Freundin des ÖPNV und zieht den Individualverkehr, das eigene Auto, dem Überlandbus vor, zumal dieser voll ist mit ihren eigenen SchülerInnen, sodass sie beim Busfahren die gleichen Gedanken zu den Schülern äußert, die wir aus den vielen Seiten, in denen der Schulunterricht dargestellt wird, schon hinlänglich kennen. Wer selber als Lehrer vor Schulklassen stand, wird es kaum für glaublich halten, dass ein Lehrergehirn den Anforderungen des eigenen Unterrichts, der reinen Performanz, gerecht zu werden versucht und dazu parallel noch zu fast jedem Schüler eine die Person und ihre Disposition betreffende Bemerkung vom Stapel lässt. Das ist eine literarische Überfrachtung, die dem Gesamteindruck dieses Kunstwerks ein wenig schadet. Denn Frau Lohmark ist „seit Jahren nicht mehr mit dem Schulbus gefahren“(75), sodass ein „Auto kaputt“ (78) die etwas schwache Motivierung der Busfahrten bildet, die dann zu - über den Biologiefachraum hinaus expandierenden - Versuchen in evolutionsbiologischer Feldforschung werden und u.a. „zum Testgebiet für pubertäre Anpaarungen.(...) Dabei brauchte Jennifer gar keine Führstange. Dieser kleine Bulle (Paul aus ihrer 9.Klasse) war zahm.“ (93) (Lange Hälse und kurze Sätze) Schalanskys kleines Werk ist in einer Zeit entstanden, in der die Reduktion des westlichen Menschenbildes auf ein reines Naturwesen bereits in vollem Gange war. Ein Apostel dieser neoliberalen Menschheitsbeglückung in Form der Online-Bestellung und einer globalen Warenspedition auf Knopfdruck hat seinen amazonasgroßen Gemischtwarenladen mit einer galaktischen speditiven Lieferkette verknüpft, die das menschliche Mängelwesen mit großem und anhaltendem Erfolg davon überzeugt hat, dass das, was in früheren Kulturen und Religionen Erlösung, Redemption o.ä. genannt wurde, nun leichter zu haben sei - digitale Warenbestellung und kurze Lieferfristen führen in die neue Klickseligkeit. Damit wäre auch die alte Frage geklärt, worauf die Natur mit der Kreation der Gattung Mensch letztlich hinauswollte - auf den Konsum und die Warenbestellung! Wir müssen nun unsere Schul- und Bildungssysteme entsprechend umbauen. Dafür stehen bei Judith Schalansky die langen Hälse der Evolution. Schwäne, Strauße oder Giraffen mussten sich in unvorstellbar langen Zeiträumen buchstäblich gegen die Decke strecken, damit sie an das Futter in den hohen Bäumen oder auf dem Grund der nicht so tiefen Seen und Flüsse gelangen konnten. Wo ein Wille ist, ist also auch in der Genetik ein Weg. Man muss sich mit viel Ausdauer Ziele setzen, die eigentlich unerreichbar sind, und kann dann sogar die DNA beeinflussen oder verändern. Welche Rolle dabei Kultur und Sprache in Zukunft spielen sollen, dazu steht im „Hals der Giraffe“ nichts. Wie das Menschentier auf seine körperlichen Bedürfnisse reduziert wird, beschränkt sich Frau Lohmark auf die naturwissenschaftliche Fachliteratur und hält Sprache für eine Endlosschleife von begrifflichen Etiketten, die man den Dingen aufkleben kann, als seien sie Einmachgläser für die schwäbische Hausfrau. Frau Lohmarks Reden vor der 9. Klasse und ihre Gedanken im Fachraum und im Bus bestehen nicht selten aus einer atemlosen Aneinanderreihung von Bezeichnungen, die in elliptischen Sätzen transportiert werden, als sei auch Sprache nur eine Spedition, sodass sie sehr oft ohne die Verben auskommt, auf die ein Schriftsteller wie Martin Walser noch sein ganzes Vertrauen legte. Er misstraute den Begriffen und den Ellipsen gleichermaßen. Aber Frau Lohmark legt auf die Verben so wenig Wert wie auf einzelne Menschen, die sie nur als Gattungswesen gelten lässt, die sich an die Naturgesetze zu halten haben. Und bei diesen hören Spaß und Freiheit gleichermaßen auf. Ein Nachfahre und Enkel von Darwin´s Bulldog, der britische Schriftsteller Aldous Huxley (1894-1963), hat eine Welt mit solchen Determinanten bereits zu gestalten versucht und sie 1932 Brave New World genannt. Den Sieg über den Kommunismus hat nämlich nicht der Kapitalismus errungen, sondern der Konsumismus. Und Judith Schalansky hat 2011 einen satirischen Sachbuchroman über dessen Philosophie und Menschenbild vorgelegt, was für eine junge Autorin mit ihrem zweiten Buch gewiss keine kleine Leistung war. Three cheers!
(a) Jennys literarische Zwillingsfigur in „Giraffe“ heißt Inge Lohmark und verehrt noch lange nach der Wende von 1989/90 und bis in ihre letzten Berufsjahre als Lehrerin für Biologie und Sport, der ultimativen Survival-Fächerkombination, sozialistische Fachvorbilder wie Pawlow, Lyssenko oder Mitschurin (Seite 137 u.ö.) (b) Wolfgang Koeppen, New York, Reclam 8602, Seite 30
Michael Karl

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Veröffentlicht am 28.12.2021

Rücksacktourist wird OBE - Über eine Apologie des Tatsächlichen

Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
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Vermutlich gibt es (mindestens) zwei Gemeinsamkeiten zwischen dem Großhändler AMAZON und dem Großschriftsteller Bill Bryson: Beide sind aus den USA und beide sind Omnivores (Allesfresser). Eine weltweite ...

Vermutlich gibt es (mindestens) zwei Gemeinsamkeiten zwischen dem Großhändler AMAZON und dem Großschriftsteller Bill Bryson: Beide sind aus den USA und beide sind Omnivores (Allesfresser). Eine weltweite Konsumgesellschaft zieht daraus meist einen großen Nutzen, der hier auch nicht bestritten werden soll, schließlich sollte man Erfolge nicht herabwürdigen oder gar schlechtreden. Über die Nachteile bei beiden Erfolgsgeschichten wird weniger oft gesprochen, sodass ich die Gefahr sehe, dass sie - obwohl mehr als offensichtlich vorhanden - eines Tages ganz in Vergessenheit geraten. Wenn das ungefährlich wäre, müsste ich jetzt nicht schreiben (und niemand verlöre Freizeit beim Lesen). Es ist aber vermutlich gefährlich und die Gründe zu finden, wäre dann eine lohnenswerte Aufgabe, für den Autor wie für potenzielle Leser. Ich werde allerdings nichts zu AMAZON beitragen, denn dieses Feld sollten eher die Ökonomen bestellen. Mich interessiert seit längerem der Erfolg des Sachbuchautors Bill Bryson (Jg.1951), der in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag feiert und sich vor einem halben Jahrhundert aufmachte, die Welt zu erobern. (Ehre, wem Ehre gebührt) Der Naturbursche aus Iowa, ein wahrer Herkules unter den angesagten Skribenten, hat eine Leistung vorgelegt, die fast jeder Rezensent seiner Bücher mindestens respektiert, wenn nicht glorifiziert hat. Seinen Verlagen war es immer ein Leichtes, überschwängliche Reaktionen aus dem Presse-Echo zu aktuellen Publikationen einzurücken, was den Auflagen der Bücher sicher nicht geschadet hat. Jochen Buchsteiner (FAZ 2016) schrieb z.B., dass sich „sein Reisebuch ´Notes from a Small Island´ (...) weltweit 2,5 Millionen Mal verkaufte und in manchen Ausstellungen als das erfolgreichste Reisebuch aller Zeiten bezeichnet wird.“ Meine Goldmann-Ausgabe der deutschen Fassung von „At Home“ (2010) hat in weniger als drei Jahren immerhin elf Auflagen erreicht. Das war offenbar nicht ohne Blut, Schweiß und Tränen möglich. Buchsteiner hat Bryson 2016 besucht und ihm attestiert, er habe „ein freundliches Wesen“. Bryson kommt manchmal aber auch bärbeißig und mürrisch rüber (engl. grumpy), was bei der unendlichen Arbeit, die er sich fast bei jedem Buch wieder neu auflädt - inzwischen sind es ja immerhin zwanzig - nun wirklich kein Wunder und absolut verzeihlich ist. Ich habe das Phänomen Bryson in den 1990er Jahren auf langen Pkw-Reisen kennen und schätzen gelernt, auf BBC-Kassetten mit der Stimme und der hinreißenden Sprechtechnik des in seinem Metier ebenfalls sehr großen Kerry Shale (American actor and Voice Over Artist, Jg. 1958), was meiner Kenntnis der Fremdsprache und der westlichen, im Grunde aber unvertraut-fremden Länder mit den Kürzeln UK und USA vermutlich nicht im Weg stand, obwohl es natürlich zu denken gibt, dass der so überaus produktive US-Autor „nur“ (?) beim Goldmann-Verlag untergekommen ist - vermutlich weil die Lektorate ´renommierter´ Verlage hierzulande - hoffentlich nicht aus intellektueller Überheblichkeit! - Brysons thematische Weite und Fülle eher mit Skepsis betrachten und etwa den „geistigen Tiefgang“ beim „bloß Populären“ vermissen. Doch dazu später Ausführlicheres und (hoffentlich) Genaueres. Bei Wikipedia wird Bryson als „Sohn einer Journalistenfamilie“ eingeführt, dem nach verschiedenen Engagements für diverse Zeitungsverlage „1995 mit dem Englandbuch ´Reif für die Insel´ (...) der internationale Durchbruch als Schriftsteller gelang.“ Brysons Wohnorte zeigen eine Affinität zum Grünen - im Nordosten der USA (New Hampshire) oder im Norden des UK (North Yorkshire, Norfolk), zuletzt im südenglischen Hampshire. Sie bilden den bukolischen Hintergrund für eine Karriere des Fleißes und (bei allem Reisen) der Sesshaftigkeit, welche „ihn zu einem der populärsten Sachbuchautoren der Gegenwart werden ließen.“ Er wird gemocht, von der Universität Durham, die ihn zu ihrem Kanzler machte (Nachfolge Peter Ustinov!), von einem Landschaftschutzverband, der ihn zum Präsidenten bestimmte, von der Europäischen Kommission, die ihm den Descartes-Preis verlieh, von der Queen, die ihn fast zum Ritter schlug (OBE), von der Royal Society, die ihm eine Ehrenmitgliedschaft antrug, und - nicht zuletzt - von Robert Redford, der eine Hauptrolle in „A Walk in the Woods“ (Picknick mit Bären) übernahm, nach meinen Recherchen übrigens das einzige Buch von Bill Bryson, das man im Internet kostenlos herunterladen kann. In der nicht eben kleinen, dafür weltweiten Bryson-Fangemeinde weiß man natürlich, dass ihr Held William „Bill“ McGuire Bryson OBE am 8.12.1951 in Des Moines (Iowa) geboren wurde („someone had to“), „on a foggy March night in 1973“ zum ersten Mal nach England kam und bei der Ankunft als backpacker („Rucksacktourist“) unter dem resoluten Regiment von Mrs. Smegma zu leiden hatte („we are shut, try the Churchill on the front...“), in Dover auf einer Parkbank übernachten musste („with my backpack for a pillow“) und, die wärmenden ´flannel boxer shorts´ über den Kopf gezogen, am frühen Morgen (5.55 a.m.) der Fernfahrerkneipe mit einer Art von seltsamem Turban zustreben wollte, aber noch rechtzeitig gewarnt wurde: “You might want to take them pants off your head before you go in.” („Notes from a Small Island“) Schon in Iowa als Kind, umgeben von wortkargen Farmern mit ihren grauenhaften Verletzungen durch den Maschinenpark, sehnte sich Bill nach den in den frühen 60ern „one gray Sunday afternoon“ medial vermittelten Bildern eines stimmigen und urbanen Europas: „Anthony Perkins walking along some sloping City at dusk (... in) Rome or Paris (...) hunched deep in a trenchcoat (...). From that moment, I wanted to be a European boy (...) I wanted friends named Werner and Marco who wore short pants and played soccer in the street and owned toys made of wood.“ Bills Vater war im Grunde berechenbar, bei Ferienreisen allerdings eher unbestechlich, das Reisegefährt dabei so großräumig dimensioniert, dass Bill, sein Bruder und seine Schwester im Fond des Wagens eigenem Zeitvertreib nachgehen konnten: „if you stuck a bunch of Ohio Blue Tip matches into an apple or hardboiled egg, so it resembled a porcu-pine, and casually dropped it out of the tailgate window, it was like a bomb.“ („Lost Continent“) Um die Größe des Phänomens Bryson anschaulich zu machen - in der Anschaulichkeit hat der Meister eine seiner größten Stärken - vergegenwärtige man sich seine manifeste Buchproduktion, die Reichweite seiner Titel, die Fülle der Besprechungen und Kommentierungen und nicht zuletzt die Preise, die man antiquarisch für Brysons Erstling von 1985 heute fordert („The Palace under the Alps“). Im Interview mit Buchsteiner 2016 gab Bryson kurze Einblicke in die Abgründe der eigenen Arbeitsfron: „Sein Arbeitstag beginnt um halb sechs morgens, erzählt er. Dann setzt er sich, ohne Frückstück, nur mit einem Kaffee, an den Bildschirm und schreibt (...) sechs bis sieben Stunden am Stück.“ Bryson sagte in dem Interview nicht, wann er liest. Und dass er weit mehr liest, als er selber schreibt (wie wohl die meisten Autoren), kann man sich an verschiedenen Stellen seines Werkes ohne weiteres klarmachen. Das gilt auch für den Wälzer „At Home“(2010), der in der deutschen Fassung bei Goldmann wieder über 600 Seiten umfasst. Allein die Bibliographie am Schluss weist (trotz small print) über 20, das - höchst vorbildliche - Personen- und Sachregister nochmal 30 Seiten auf. Nicht genug: Bei genauerem Hinsehen bietet allein das Verzeichnis benutzter Bücher - der Autor verzichtet auf Fussnoten, sodass man nicht nachprüfen kann, aus welchem Werk welches Faktum herausgepickt wurde - ein ebenso faszinierendes wie herausforderndes Panorama kultureller und sozialgeschichtlicher Themen: The English at the Seaside (Marsden 1947), The History of Underclothes (Cunnington 1951), The English Parsonage (Bax 1964), A History of Shopping (Davis 1966), A History of Dining (Brett 1968), American Furniture (Bates 1981), A History of American Housework (Strasser 1982), A History of Domestic Arrangements (Hardyment 1985), The Evolution of Useful Things (Petroski 1994), Workhouse Children (Crompton 1997), A History of Walking (Solnit 2002), A History of Fear (Bourke 2005), A History of Nighttime (Ekirch 2006) etc.etc. (Neigung zum Faktischen - Segen und Fluch) Brysons manifeste, dabei zunehmend gesteigerte Neigung zum Faktischen und zur Faktenfülle ist Segen und Fluch zugleich. Das Durchhalten der Lektüre bei so dicken Wälzern wie „A Short History of Nearly Everything“ (2003), „One Sommer. America 1927“ (2013) oder „Little Dribbling“(2015) ist zu einem Seilakt geworden zwischen (Lust-) Gewinn (u.a. an gestopften Wissenslücken) und reinem Zeitverlust. In „At Home“ (2010) ist der große Autor aus dem viel zu großen Land endlich „bei sich“ angekommen, einem ehemaligen, höchst geräumigen alten Pfarrhaus (rectory), in welchen in ungezählten britischen ´crime novels´ sich die ´whodunnits´ abspielen (ersatzweise aber auch in Brettspielen wie „Cluedo“) oder sich die Gespräche der ´society novels´ von Thomas Hardy bis Jane Austen (26) zutragen. Auf den beiden Innenseiten des Taschenbuchcovers findet der Leser je einen Grundriss von Erdgeschoss und „oberes Stockwerk“ mit gefühlt so vielen Zimmern, dass auch eine Familie mit vier Kindern, vermutlichem Hauspersonal und regelmäßigen Hausgästen genügend Platz zum Manövrieren hat und sogar in Coronazeiten noch hätte. „At Home“ umfasst 19 Kapitel, die sich vom Keller (Kap.9) bis zum Dachboden (Kap.19) erstrecken und weder Prousts ´Verlorener Zeit´ noch Werthers ´Wonnen des Gewöhnlichen´ nachjagen, sondern deren geradezu parzevaleske Gralssuche („quest“) laut Vorwort einzig und allein dem Ziel dient, „sich ein Buch lang einmal nur mit ganz gewöhnlichen Dingen zu befassen und ihnen endlich Beachtung zu schenken.“ (13) Ich habe die Lektüre mit Kap.7 begonnen (181-214), da es zu dem Thema „Das Wohnzimmer“ (so der Titel) neben der Pionierarbeit von Alphons Silbermann (1963) nur wenig Greifbares gibt, und gefunden, dass das Kapitel sehr vieles behandelt - ´drawing rooms´ seien eigentlich ´withdrawing rooms´ (181), „Bau und Einrichtung großer Häuser“ (194) und „Familiensitze“, den Unterschied zwischen Edward und Jethro Tull (24,181,183 u.ö.), „das große Zeitalter des (privaten) Hausbaus“ (205) oder den „Wahnsinnsmöbelschreiner“ Thomas Chippendale (207-211) - aber eben nicht „das Wohnzimmer“ (welches auch immer). Versteh einer die Amerikaner! Kap.1 (Das Jahr, 17-44) behandelt das „goldene Zeitalter der Landpfarrer“ (43), darunter „Wahnsinnstyp(en)“ wie Joseph Paxton (19), die sich aus der Masse der rund 18.000 anglikanischen Geistlichen mit so denkwürdigen Einzelleistungen hervortaten, dass nicht weniger als 4.600 ´vicars´ und noch mal 3.300 ´rectors´ Eingang in den DNB fanden, den Dictionary of National Biography. (31) Kap.2 (Das Haus, 45-64) erwähnt nur kurz Brysons 1851 von Pastor Thomas Marsham (1822-1905) erbautes Pfarrhaus und kommt dann ausführlich vom Steinzeitdorf Skara Brae, das die Sturmflut freischwemmt, zum „Namensgeber der Neolithischen Revolution“ (63, V.G.Childe) zur Entdeckung von Catal Höyük in der „Einöde Zentralanatoliens“ 1958 durch den britischen Archäologen James Mellaart. Kap.3 (Die Eingangshalle, 65-91) geht vom Flur des Pfarrhauses aus und verfolgt die offenbar noch wenig erforschte Entwicklung angelsächsischer Behausungen vom Gruben- und Hallenhaus (71) zum ´prodigy house´ mit „nie weniger als 3 oder manchmal 4 Stockwerke(n).“ (87) Daneben geht es um Möbel, Mobiliar und Mobilität, um Truhen, Kommoden, Teppiche, den Hausrat und den Speisezettel (75-80). Kap.4 (Die Küche, 92-116) spinnt den Faden in einem „Zeitalter des überladenen Esstisches“ (113,245) weiter und bei Kap.5 (Spülküche + Speisekammer, 118-148) handelt es sich im Kern um nichts weniger als eine (skizzenhaft-brilliante) Sozialgeschichte des englischen Dienstbotenwesens. Die Behandlung von Dienstboten durch Virginia Woolf (128) oder Samuel Pepys (141) schreit zum Himmel - „Familien hatten Diener wie wir heute Haushaltsgeräte haben.“ (120) - schreiend komisch kann man finden, wenn jemand (John Lubbock) „drei Monate lang (versucht), seinem Hund das Lesen beizubringen“ (564), oder jemand (John Ruskin) dauerhaft indisponiert ist und seiner Effie gestehen muss, „dass er sich Frauen ganz anders vorgestellt habe.“ (420) Im Jahr 1900 zählte man in England 13.000 Pfarrhäuser (575) „Die meisten Pfarrer hatten vier Bedien-stete und manche zehn oder mehr.“ (120) Aus deutscher Sicht wundert vielleicht die ausgiebige Präsenz von Heinrich Hoffmanns Langgedicht „Struwelpeter“ (545-47) oder von Friedrich Engels und Karl Marx. In Salzwedel wird man sich dagegen freuen, dass sogar Jenny Marx nicht vergessen wird (538), außer im Personenregister (613). Angeblich prahlte Marx „bei jeder Gelegenheit mit der adeligen Herkunft seiner Frau.“ Nicht einmal ausgewiesene Marxkenner dürften die Namen von Marxens unehelichem Sohn (Freddy Demuth) oder seines getreuen Dieners (Wilhelm Pieper, 120) kennen. Brysons Antriebskraft muss wohl (pauschal gesprochen) „der Fortschritt“ sein, denn früher war nicht nur alles viel schlechter, sondern die Wende zum Besseren ist allemal auf heroische Einzelleistungen und die Erfindung technischer Geräte zurückzuführen. Das Heil der Menschheit liegt für Bryson offenbar in der Technik. Diese Art Antriebskraft steht aber nur im Subtext und wird von Bryson nicht eigens reflektiert oder legitimiert. Sie ist für ihn einfach so selbstverständlich, dass man es als Europäer „amerikanisch“ finden kann, obwohl Bryson sich gegenüber Buchsteiner 2016 als „Brite“ (wenn auch mit zwei Pässen) bezeichnete. Die Liste der Erfindungen, die man dem 600-Seiten-Werk entnehmen kann, ist jedenfalls beachtlich, hier nur eine Kostprobe: Knöpfe 1650 (490), Metallkonserven ab 1810 (103), Rasenmäher 1830 (365), Maß-genaues Kochbuch 1845 (106), Kerosin-Lichter 1846 (160), Ventilator 1891 (179), Mausefalle 1897 (307), Staubsauger 1901, Bügeleisen 1909 (179), Badewanne + Toaster 1910 (478,179), Wählscheibe (am Telefon) 1917 (300), Kühlschrank 1918 (179) + Dosenöffner 1925 (103). All diese Dinge schaffen vielleicht nicht das Paradies auf Erden, bezeugen aber, so Bryson, „die Liebe der Amerikaner zu arbeitssparenden Geräten.“ (393) Meines Wissens hatte Karl Mannheim (1893-1947), ein Begründer der Wissenssoziologie, noch keinen Begriff, noch keine Kategorie für „kurioses Wissen“: „Warum haben Gabeln 4 Zinken und nicht 3 oder 5?“ (13) Warum fahren Briten auf der falschen Straßenseite? Wer war der Erfinder der Dauerwelle? Welcher Formidee folgte der Bäcker, der die erste Bretzel (Pretzel) schuf? Faktenwissen fragt nun mal nicht danach, was nützliches und was nutzloses Wissen ist. Auf jeden Fall haben wir auch hierzulande alle Schularten auf das nützliche Wissen zugeschnitten und es zu Kompentenzen erklärt. Die große Frage beim ersten Zwischenfazit kann dann aber nur lauten, ob sich Münchhausen mit dem alle Schulen beherrschenden Kompetenzbegriff tatsächlich am eigenen Schopf aus dem Sumpf wird ziehen können.
(Argumentative Stringenz? - nicht seine Stärke! M. Fetzer) Unter dem Titel „Verlorene Liebesmüh“ hat die Autorin Margret Fetzer 2008 in der FAZ eine Besprechung von Brysons damals neuem Buch „Shakespeare, wie ich ihn sehe“ geschrieben und sich gewundert, „warum ausgerechnet Bill Bryson, alles andere als ein Literaturexperte, sich jetzt in die Legendenschreiberei einreiht.“ Eine gute Frage, denn neben seinen sprachwissenschaftlich-etymologisch ausgerichteten Büchern wie „Mother Tongue“ in seiner Anfangszeit konnte der erfolgreiche zukünftige Reiseschriftsteller (travel writer) wenig Affinität zur schöngeistigen Literatur (fiction) vorweisen, von gelegentlichen Seitenhieben (auf Ben Johnson etwa) einmal abgesehen. „In Travellogues wie ´Reif für die Insel´ hat sich Bill Bryson als Meister der Anekdote erwiesen. Frei nach dem Motto „Been there, done that...“ Besonders deutsche Bryson-Rezensenten scheint das sprunghaft-essayistsische und subjektiv-assoziative Vorgehen des Skribenten-Herkules massiv zu stören, das ja beim täglichen Abarbeiten von Reisezielen (und mithin bei Reiseliteratur) durchaus seinen Platz hat, denn: „Kein Kapitel hält indes, was es in der Überschrift verspricht, und ergeht sich stattdessen in zahllosen Abschweifungen, die überall stehen könnten.“ Damit trifft die Kritikerin den Nagel auf den Kopf. Ich habe mir bei Kap.14 von „At Home“ (Die Treppe, 396-410) ganz begeistert notiert, dass hier tatsächlich dieses Thema - Treppen, Stufen, Treppenhäuser - behandelt wurde und keine den (deutschen?) Leser irritierende Formulierungen wie „An dieser Stelle wollen wir kurz überlegen, wo wir sind und warum“ (289) oder „Ich erwähne das alles nur, weil wir in den Keller hinabgestiegen sind“ (254) vorkommen. Von dieser Art von Kausalität hält man hierzulande, jedenfalls bei anspruchsvolleren Sachbüchern, eher wenig, v.a. wenn man in einem Steinbruch von Fragmenten, einem Gemischtwarenladen, einem Sammelsurium von oft bizarren Preziosen allein gelassen wird und eben nicht damit einverstanden ist, wie es ein Kunde im Warenhaus oder ein Onlinebesteller bei AMAZON ob der angebotenen Fülle und Vielfalt wohl sicher wäre. Zwischen Lesen und Kaufen ist nun mal ein Unterschied und bei AMAZON kann man ja die Schizophrenie einer Weltbuchhandlung, die eigentlich auf die Spedition von Waren fast aller Art hinauswill, jeden Tag aus der Nähe, wenn man will, bewundern oder beargwöhnen. Wer Brysons 600-Seiten-Wälzer hinter sich gebracht hat, könnte wohl tatsächlich überzeugt sein, dass „das unumgängliche Jahr 1851“(242 u.v.ö), auf das Bryson den Text immer wieder bezieht, eine besondere Bedeutung hat - eine andere jedenfalls als die schiere Tatsache, dass es genau hundert Jahr vor Brysons Geburtsjahr lag, denn hier scheint mir der eigentliche Fokus des ganzen Buches mit dem Titel „At Home“ zu liegen, nämlich der Generation aus der unmittelbaren Nachkriegszeit vor Augen zu führen, was sich in ihrer eigenen Lebenszeit abgespielt hat. Denn Brysons Geschichtsschreibung unterscheidet sich von der Rankes u.v.a. dadurch, dass eine Epoche hier nicht unmittelbar zu Gott ist, sondern dass an die Stelle von Gott und Göttern die jeweils aktive Generation tritt, zu deren Selbstvergewisserung der ganze Aufwand letztlich gedient haben soll. Honni soi qui mal y pense?
Michael Karl

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Veröffentlicht am 28.12.2021

Geschichtsschreibung aus Familienperspektive

Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit
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Der soeben verstorbene Autor Hermann Kinder (1944-2021) war gewiss ein Meister der Schwermut aus niederdeutschen Landen, der oft mit „Schwarzer Galle am Schreibtisch“ saß und schrieb, ein wenig wohl auch ...

Der soeben verstorbene Autor Hermann Kinder (1944-2021) war gewiss ein Meister der Schwermut aus niederdeutschen Landen, der oft mit „Schwarzer Galle am Schreibtisch“ saß und schrieb, ein wenig wohl auch das Produkt einer akademischen Scheinriesenhaftigkeit vom Schlage chinesischer Mandarine, wie sie etwa sein akademischer Lehrer Wolfgang Preisendanz (1920-2007) durchaus verkörperte, für den er den Nachruf im „Tagesspiegel formulieren“ durfte, von dem aber wohl nie eine Silbe ins Englische übersetzt wurde, wobei das von P. im Konstanzer Hörsaal zu hörende Englisch schon als möglicher Beleg für dessen Humortheorie genommen werden dürfte, so gewaltig war das Gefälle, mit ihm die Fallhöhe zwischen Ideal und Wirklichkeit. Für meine Generation der „weißen alten Männer“, wie man uns heute bezeichnet findet, ist auch dieses Kinder-Buch ein Manifest, das mit Blick auf das soeben Geschehene nun auch als (s)ein Vermächtnis gewertet werden darf. Es ist zudem eine Form von essayistischer Geschichtsschreibung aus Familienperspektive, die eine eisenharte Zeit des Wiederaufbaus nach 1945 im Kontrast mit den weichgespülten Wohlstandsverrenkungen unserer Tage spiegelt, die der Autor als pensionierter Nutzer von „Bussen und Bahnen“, der sich zur empirischen Prüfung von Thesen „genau umsehen“ will (77), aus der unmittelbaren Anschauung heraus zu beschreiben und zu kompilieren sucht. Im Mittelpunkt steht ein älterer Bruder (E), Jahrgang 1941, Spitzname „Schnüffel“, „ein Kindskopf von 1,90 Meter Länge“ (73), der sich mit anderen „Lulatschen“ aus einer Clique von präsumptiven Künstlern „Die Verlorenen“ (108ff) nennt, in der ersten Kinoreihe, „wo sie ihre Beine ausstrecken konnten“ (111), Heinz Rühmann oder dem „Förster aus dem Silberwald“ ausweichend Filme von Käutner oder Resnais mit Schauspielern wie Peter van Eyck oder Boy Gobert ansehen. E. ist ein „sanfter Heinrich“ (72), der zweimal sitzen bleibt und deshalb wie Salingers Alter-Ego Holden Caulfield ins Internat muss, seine Haare zeitgemäß lang trägt, eine DKW RT 175 zu Schrott fährt und „lieber schrieb als redete“ (88). Von diesem Bruder, der gegen den Widerstand eines mächtigen Vaters das Berufsziel „Schauspieler“ trotz der kargen Zeit durchsetzen möchte, waren Aufzeichnungen erhalten, für die sich niemand in der Familie zu interessieren schien und die der Akademische Oberrat ein halbes Leben lang bei sich aufbewahrte. Auf dem Dustcover sehen wir eine Tagebuchkladde des Bruders abgebildet (Foto Hermann Kinder), die wie ein Schulheft aussieht und in säuberlicher Tintenhandschrift die Aufschrift trägt: Die Wahrheit liegt zwischen den Zeilen. Den Worten glaube nicht. 10.VIII. - 30.IX.62 (siehe auch das Kapitel Hamburg I ab Seite 182). Die Schwermut lag wie bei dem ebenfalls wortmächtigen Ludwig Wittgenstein in der Familie, sodass E im 22.Lebensjahr stehend (70) und seit dem 30.11.1962 in Wien am Seminar von Max Reinhardt arbeitend (193ff) „sich im Februar (1963) um(brachte), mit Gas“ (206) - „die Fluchtmöglichkeit (!) Selbstmord (liege) zu nah“ (175), hieß es bereits in einem Tagebucheintrag vom 23.11.1962. „Er konnte nur bei sich sein, wenn er allein war.“ (182) Unsere heutigen Postmods und Neolibs dürften sich mit ihrem „du passé faisons table rase“ auf die Schenkel klopfen, sich bestätigt fühlen und wie die FAZ am 1.9.2021 zu Kinders Tod die geschmacklose Schlagzeile „Dem Trog entkommen“ wählen. Man sollte sich aber nicht aufregen und es ihnen gönnen, denn es gibt Schlimmeres als der Glaube, heute sei alles besser. Und genau von dieser Frage handelt dieses Buch um einen jungen Mann aus alter Zeit wirklich, wenn es von einer „an sich glaubende(n) Wortkultur“ (121) auf das aktuelle Geschehen blickt: „Die Deutschen sind (inzwischen) im Pornokonsum Spitzenreiter.“ (85) Denn „der Turmbau von Babel war kein Fortschritt.“ (61) Kinders Neigungen zu sprachlicher Brueghelei mag nicht jedermanns Sache sein - ihr verdanken wir immerhin u.a. die zeitlos gültige Schilderung einer fidelen Rentnergruppe im Hallenbad am Seerhein, wie sie der von Huizinga so geschätzte Vondel auch nicht treffender hätte aufzeichnen können. Kinder-Leser wissen spätestens seit 1977, was sie an diesem vielfältig begabten Schriftsteller schätzen und bewundern konnten. Im „Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit“ stoßen zwei Welten aufeinander, die sich zu Kinders Lebzeiten ablösten und die ich hier zum Schluss in Hauptwörtern, die sich (fast) alle im Text finden, gegenüberstellen möchte. Die Nachkriegszeit kannte heute so „verschollene Wörter“ wie Alte Kameraden, Ami-Schlitten, Bakelit, Bibel, Bimmelbahn, Brylcreem-Frisur, Einraumschule, Hilfsbereitschaft, Hosenklammern, Jod, Kernseife, Kloppe, Kokosnuss, Läuse + Dreck, Lederhose, Leiterwagen, Lungenschuss, Muckefuck, Notizbuch, Pichelsteiner Eintopf, Plumpsklo, Rohrstock, Rote Bete, Ruinenlücken, Rummelplatz, Russen-Föten, Sauerampfer, Schnittbogen, Schorf, Tatzen, Waschtag und Wringmangel; in unseren Tagen gibt (oder gab) es allzu bekanntlich Abibälle, Apple Stores, Austernpilze, Bärlauchpesto, Diclofenac, Dildos, Displays, Doggystyle, die Eventler, Fessenheim, Fitnessstudios, geile Warenautomaten, Google, High Heels, Hyperloops, ICEs, Kaufland, Klausu-renpunkte, 1,5-Literflaschen, Must-haves, Nokia-Handys, outdoor, PC-Disketten, Powerpoint-Folien, public viewing, Ruccola, Selbstbedienung, Skype, Smartphones, 63 Mrd. SMS p.a., Sonntagsbrunch, Starbucks Erlebnis, Y-Titty oder walkman, an die sich zu gewöhnen unser Autor des Jahrgangs 1944 sichtlich Mühe hatte. Aber nun ist er ja „dem Trog entkommen“.
Michael Karl

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