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Veröffentlicht am 10.01.2022

Die Flucht des Stofflichen vor dem Zusammenhalt (105)

Der Detektiv-Roman
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Ernst Bloch, Kracauer und Brecht haben jeweils das Bedürfnis verspürt, sich zu Kriminalroman und Detektiv-Geschichte ausführlicher zu äußern, aber nur bei Krac ist daraus ein ganzes Buch geworden - der ...

Ernst Bloch, Kracauer und Brecht haben jeweils das Bedürfnis verspürt, sich zu Kriminalroman und Detektiv-Geschichte ausführlicher zu äußern, aber nur bei Krac ist daraus ein ganzes Buch geworden - der vorliegende, recht schmale „philosophische Traktat“ mit zehn Kapiteln: „Beendet: 15. Februar 1925“. Aus dem Vergleich mit Brecht und Bloch, der beim Detektivroman ebenfalls zum Mittel der „Philosophischen Ansicht“ gegriffen hat (Lit. Aufsätze, stw 558, 242-263) und wahrlich weit hergeholte Artefakte aufbot, sollten die Krac´schen Eigenheiten deutlicher zum Vorschein kommen. Nur Brecht, scheint es, hatte das Zeug zum Bodenständigen und war besser in der Lage, konkrete Angaben zum Plotgeschehen beizusteuern (Ges. Werke Bd.19, 450ff): „Mord im Bibliothekszimmer eines lordlichen Landsitzes“; „Da ist ein Leichnam. Die Uhr ist zerbrochen und zeigt auf zwei Uhr. Die Haushälterin hat eine gesunde Tante. Der Himmel war in dieser Nach bewölkt. Und so weiter und so weiter.“ (450-52) Bei einer „philosophischen Betrachtung“ fallen solche Konkretionen offenbar durch den Rost. Bloch denkt zuerst an den Leser - „persönlich gut gesichert und ruhevoll in gefährliche Dinge vertieft, die flach sind.“ (242) Dann geht es recht stramm vom Pariser Juwelier und Meuchelmörder (1819) zu Poes hinterhältigem Orang-Utan (1841), zur „Junggesellenbude in der Bakerstreet“ und zur „völlig unkriminalistischen Anfangslehre Hegels“ (259) - „einziges Thema ist das Herausfinden eines bereits Geschehenen ante rem“ (254) und die Stoßrichtung sei auch immer klar - „Draperieverdacht, Illusionsverdacht: Gegen all das Idealische oder Biedere der Oberfläche, das zu schön oder zu bequem ist, um wahr zu sein.“ (253) An dieser Stelle übernimmt Krac den Staffelstab, verschärft aber Gangart und Tempo, wenn „der Detektiv das zwischen den Menschen vergrabene Geheimnis aufdeckt“, mehr noch - „das Geheimnis der entwirklichten Gesellschaft und ihrer substanzlosen Marionetten“ werde „im ästhetischen Medium“ des Romans gelüftet. (23) Wie solches in einem „im Äußerlichen sich erschöpfenden Handlungsgefüge“ (34) möglich sein soll, ist aber ebenso unklar wie das parallele Auftauchen von „Marionetten der Ratio“ (41) bzw. von „Figuranten der Ratio“ (53), etwa im „Urnebel des Hotelvestibüls“ (50), wo „der ganz zu sich abgeirrte Intellekt“ (44) einem „Gehege der genaueren Determinationen“ (70) ebenso ausgesetzt ist wie der „Bedeutungsschwere des Dinghaften“ (125). Brecht hätte das wohl „höchst kompliziert“ gefunden und sich beim Detektiv eher „an die Arbeitsweise unserer Physiker erinnert“ gefühlt, und zwar auf den Spuren des Kausalnexus. (451f,455) Das Rätselraten in die Nähe der Kreuzworträtsel zu rücken, wie Brecht das tut, wäre Krac sicher nicht in den Sinn gekommen, er wollte höher hinaus. Bei ihm ist der „Detektiv-Gott“ eine Art „säkularisierter Priester“ und nimmt „Verbrechern die Beichte ab“, aber nicht im Gotteshaus, sondern in einem Nachfolgeinstitut, in einer Hotelhalle, denn dort „zelebriert er (...) seine Messen, die gespenstischer sind als die schwarzen, weil sie der Verehrung des Indifferenten gelten.“ (54f) Diese neuen Priester der Aufdeckung leben immer noch zölibatär in einem „Junggesellentum a priori“ (59). Die Fitness ihrer Gegner, Widersacher und Bösewichte zwingt auch die detectivs zu „Taten ihrer Physis“ - am besten ist der Ermittler selber Sportsmann und „schießt wie ein Tiroler Wilddieb“. (100) Am Ende ist es also bei Krac mit Brechts bodenständigem Vergleich mit der Physikmethode nicht getan, denn das Gesamtgeschehen ist hier „ein Konglomerat von Tatsachenfetzen“ (102), „das zerpulverte Anschauungsmaterial“ sei bar jeder Kohärenz und die „Flucht des Stoffes vor dem Zusammenhang“ die eigentliche Herausforderung, was einem postmodernen und nachmetaphysischen Bewusstsein heutzutage nicht übel gefallen dürfte...
Michael Karl

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Veröffentlicht am 09.01.2022

Homo vulnerabilis zwischen Lockdown und Lockerung

Die Pest
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Das Wort „plague“ hat sich im Englischen ähnlich den biblischen „Plagen“ als Sammelwort für fast alle Arten von Plagen und Seuchen in der Geschichte behauptet. Das sollte nicht wundern, denn eine trennscharfe ...

Das Wort „plague“ hat sich im Englischen ähnlich den biblischen „Plagen“ als Sammelwort für fast alle Arten von Plagen und Seuchen in der Geschichte behauptet. Das sollte nicht wundern, denn eine trennscharfe Abgrenzung von Pandemieursachen wie Pest, Pocken, Cholera, Typhus oder Masern war durch das erschreckende Unwissen von Behörden und Ärzten, die von „Miasmen“ sprachen, „Schutzanzüge mit Schnabelmasken“ (35) trugen wie der Pestarzt Dr. Chicogneau (auf dem Titelkupfer von 1720) oder schlicht zur sofortigen Flucht rieten wie der Urmedicus Galen (24), über Jahrhunderte von einer peinlichen Hilflosigkeit gekennzeichnet und wurde von einer Neigung zum „therapeutischen Lügen“ (73) begleitet, das fachlich sogar reflektiert und empfohlen wurde (medicus prudens, 1614). Eine globale Pandemie hat uns 2020 völlig unerwartet aus der Bahn geworfen und die kurze Einführung des in Stuttgart geborenen Augenarztes und Medizinhistorikers Klaus Bergdolt (Jg. 1947) kommt da wie gerufen. Man kann Konstanten im Umgang mit Kontingenzen ebenso studieren wie die Schliche, mit denen sich Eliten, Amtsträger oder sonstwie Verantwortliche aus der Affäre zu ziehen oder an der Macht zu halten suchten. Schon Bergdolts kleine Einführung von 2006 ist voll davon und verweist auf eine Vielzahl von „Chronisten“ als Gewährsmänner. Wem das nicht reicht, kann zu der XL-Fassung greifen (4 Aufl. 1994-2017). Der Umgang von Eliten mit Pandemien ist aufschlussreich, denn Macht kommt nicht nur von „machen“, sondern auch von der massentauglichen Glaubwürdigkeit im Umgang mit dem Machbaren. Pandemien sind Zeiten, in denen überkommene Machtsysteme und tradierte Ungleichgewichte bei der Verteilung von Gütern und Geldern auf dem Prüfstand stehen und diese Probe ggf. nicht bestehen (27ff, 70ff). Für Egon Friedell markierte die Große Pest in der Mitte des 14.Jhts. z.B. den Anbruch einer neuen Zeit. (50) Die alten Stadtmauern schützten die sich sicher wähnenden Bürger vor Mikroben oder Viren eben nicht mehr. Eine „Umschichtung der Gesellschaft“ (50) kann das kleine Buch allerdings noch nicht widerspruchsfrei aufhellen. Während die Ärzte vor aller Augen versagten, legten die Medici in Florenz einen geradezu kometenhaften Aufstieg hin und eroberten das Stadtregiment einer der bald schönsten Städte der Welt. (56) Einerseits geht es also um das nie da gewesene Florieren von Handel und Gewerbe im Spätmittelalter: „Der Aufstieg des Mittelstandes, vor allem der Zünfte, war für die Zeit nach 1349 charakteristisch“ (68) und „der Handel, der vor der Pest bebte, hatte sie begünstigt!“ (71) Die Pest von 1348 war „selbst eine indirekte Folge der Stabilisierung der innerasiatischen Handelswege durch die Mongolenherrschaft.“ (70) Kam im Hochmittelalter ex oriente lux, drohte im Spätmittelalter von dort eher die Pest. (8) Die Lagunenstadt Venedig ist „als Exempel“ (74) Betreiberin und Nutznießerin des Levantehandels, was aber auch bedeutet, „dass die Stadt allein zwischen 1348 und 1576 mehr als zwanzigmal (!) heimgesucht wurde.“ (75) „Schiffe, Matrosen und Kaufleute“ (79) fungierten, wie wir inzwischen sagen, als „Superspreader“. Hafenstädte sind die ersten, die „verpestet“ werden und mit Quarantäne (von ital. quaranta = 40 Tage) reagieren (Marseille 1383, Seite 30). Andererseits sind es gerade diese aufblühenden Kräfte von Handel, Handwerk und Mobilität, die in der Zerreißprobe des Pandemiealltags die Macht in den Rathäusern übernehmen: „Objektiv versetzte der Schwarze Tod zwischen 1347 und 1351 den Adelsherrschaften bzw. der spätmittelalterlichen Aristokratie der toskanischen Städte den Todesstoß und führte zur Etablierung von Handwerkern und Zünften als neuen staatstragenden Gruppen.“ (47) Denn ein Versagen der Behörden kann die Bürger teuer zu stehen kommen: In Venedig verlieren nach Auskunft des zuständigen Dogen Andrea Dondolo „el terzo deli habitadori“ ihr Leben (74). Bis zum Sommer 1348 haben die meisten Stadtoberen den Rat Galens befolgt und sind aufs Land geflohen. Es kommt also quasi zu einem „government shutdown.“ (75) Dieser ist eine gute Basis für Verschwörungstheorien, die schon Seneca in „De ira“ in diesem Zusammenhang erwähnt mit seinem Wort von der „pestiletia manufacta“ (25). Pest und letztlich alle Seuchen sind von Menschen gemacht („man made“), aber keiner will es gewesen sein. Die Moral liegt ohnehin am Boden, denn die „Gute(n) starben und die Bösen überlebten“ (59), sodass man in Oberammergau seit 1633 alle zehn Jahre (außer 2020!) „in einem Passionsspiel des Leidens Christi zu gedenken“ beschloss. (61) Das Dilemma des homo vulnerabilis scheint also eine historische Konstante zu sein: Auch im Zeitalter von Atomraketen und Quantencomputern ist er über das Maß von Lockdown und Lockerung unschlüssig. Den obrigkeitlichen Strategien der „Verharmlosungen“ widmet der Autor ein kurzes Kapitel (70-73). „Die Regierungen hielten das Zurückhalten der Unglücksbotschaft offenbar sogar für ihre Pflicht“ (70) oder „sie reagierten (…) mit kalkulierter Verspätung“ (84). „Als die Hansestadt Bremen zwischen 1623 und 1628 dezimiert wurde, verzichtete der Rat aus populistischen und ökonomischen Überlegungen auf Versammlungsverbote. Trotz der grassierenden Seuche wurden Märkte und Volksfeste abgehalten.“ (71) Noch 1813 „entschloss sich der Rat (in Hamburg, MK) zu einer Verharmlosungsstrategie. Die ersten Pestfälle wurden als saisontypische, „hitzige“ Krankheiten verharmlost, wodurch wertvolle Zeit für Vorsorgemaßnahmen verstrich (Boysens).“ (71) Wenn die Magistrate aber dann doch handelten, konnte es sowohl für das eingesetzte Personal (Witwen, Nonnen, Ordensangehörige, 29) ebenso gefährlich werden wie für Bürger, die gegen die erlassenen Verbote (etwa der Einreise, 74f) verstießen. Eigentlich „lebensgefährlich“, denn ganze Konvente „starben (…) nicht selten aus“ (29) und auf Gebotsübertretungen stand nicht selten die Todesstrafe: „Die notwendige Sozialdisziplinierung war hart und nicht ohne Drohungen durchsetzbar.“ (79) Die wirtschaftlichen Folgen waren in jedem Fall schon damals gravierend: „Geschäfte und Gewerke kamen zum Erliegen.“ (86) Die hochgradige Ansteckungsgefahr (Kontagiosität, 32) wurde unterdessen allenthalben beobachtet, nur dass man aus Mangel an grundlegendem Wissen beim therapeutischen Zugriff zwar Himmel und Hölle in Bewegung setzte, was den Einfluss der Gestirne (Astrologie) ebenso einschloss wie das Walten eines auf Rache sinnenden Gottes (Theologie), damit aber (natürlich!) nur wenig Wirkung erzielte. Der Arzt und Humanist Felix Platter (1536-1614) habe „neun Epidemien überlebt()“ (35), aber der eigentliche, eher stille Held von Bergdolts gelungener Einführung in die Gegenstände der historischen Seuchenforschung wirkte als Erzbischof in Mailand und hörte auf den Namen Karl Borromäus (61,72,82).
Michael Karl

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Veröffentlicht am 09.01.2022

Lindner! Kaffee holen: Grüß mir mein Hawaii!

Fast ein bißchen Frühling
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Der Leser nimmt ein Buch zur Hand, das 2002 erschienen ist und eine lange Vorgeschichte hat. Es stammt von einem 1961 geborenen Autor, der sich in Basel zum Historiker auszubilden gedachte, wo auch Jacob ...

Der Leser nimmt ein Buch zur Hand, das 2002 erschienen ist und eine lange Vorgeschichte hat. Es stammt von einem 1961 geborenen Autor, der sich in Basel zum Historiker auszubilden gedachte, wo auch Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche oder Frantisek Graus im Fach und am Ort wirkten. Aus dem Historiker wurde aber in diesem Fall ein freier Schriftsteller und das Buch über den Fast-Frühling sein erster Erfolgsroman. Wie man hört und liest, war es eine recht schwere Geburt, von der Entdeckung der Presseberichte aus den 1930er Jahren über das junge Bankräuberpaar, das die Stadt Basel wochenlang in Atem hielt, zu der Aufbereitung in Romanform in 24 vielschichtigen Kapiteln. Die reißerische Geschichte beginnt am 13.12.1933 im „Personalerfrischungsraum“ des Kaufhaus Globus am Basler Marktplatz (Kap.1) und endet (unweit davon) am 21.1.1934, einem Sonntag, im Margarethenpark, der von 800 Polizisten umstellt, aber nicht gestürmt wird, weil die beiden deutschen Bankräuber vom Jahrgang 1910, die die Liebe zur Technik und ein inniges Verhältnis verband, wie Kleist und seine unglückliche Gefährtin seinerzeit am Wannsee gemeinsam und von eigener Haus aus einem unerträglich gewordenen Leben schieden. (Kap.21) In Sandwegs Schädel fanden sich bei der Obduktion zwei Kugeln aus Veltes Revolver. Die Zeitungsschreiber, zu denen Capus einst selbst gehörte, ziehen am Montag, dem 22.1.1934, „eine Bilanz des Dramas“ und berichten u.a., „Velte und Sandweg hatten Mut, Draufgängertum, wollten, dass das Leben einen hohen Einsatz von ihnen fordere.“ (Kap.22) Ein derart wuchtiges Elexier aus Romantik und nachweisbarer Realität haben manche Leser für allzu toxisch angesehen, es gibt aber bis zum heutigen Tag auch Schulklassen, die den Deutschunterricht dank Capus wieder etwas interessanter finden. Ich zitiere die Schülerin einer 9.Klasse, die sich 2020 über die Beziehung von Marie Stifter und Ernst Walder, den Großeltern des späteren Ich-Erzählers und Beteiligten am historischen Geschehen um Velte und Sandweg, in Aufsatzform Gedanken machte: „Ernst Walder scheint sehr darauf fixiert zu sein, nach außen hin im Dorf als ´perfekter Sohn´ betrachtet zu werden, weshalb er auch so vielen Aktivitäten im Dorf überhaupt erst nachgeht und im späteren Verlauf des Buches Marie schließlich einen Heiratsantrag macht. Damit (!) er im Nachhinein nicht derjenige ist, über den im Dorf erzählt wird, wie er von seiner Freundin für einen fremden Typen, Kurt Sandweg, womöglich verlassen wurde. Marie will das alles im Herzen gar nicht, das arrangierte Heiraten, das isolierte Dorfleben oder ihre durch die Familie bereits festgelegte Zukunft.“ (Emelie B.) Emelie hat auch erkannt, dass die Schuhreparatur, zu der sich Ernst Walder rollenkonform gezwungen sieht (Kap.8), in Anspielung auf „Aschenputtel“ Blut in den Schuh fließen lässt. Bei aller Kritik an Capus´ Neigung zu poetischen und empirischen Kraftmeiereien möge man also nicht übersehen, wie der Autor mit seinen penibel und aufwändig recherchierten Doku-Fiktionen den aktuellen Zeitgeist immer noch trifft und dabei, altmodisch gesagt, am Schicksal fast jeder Einzelfigur, also an Demokratie, Humanität und Solidarität, ein aufrichtiges und glaubwürdiges Interesse zeigt. Es lebe die Schweiz! Neben Marie Stifter ist es Viktoria (Dorly) Schupp, die den Wuppertaler Desperados, die sie als der Finne und der Österreicher wahrnimmt, Chancen einräumt, nachdem die Ehe mit dem einheimischen Steuerbeamten und Radrennfahrer Anton Beck in die Brüche gegangen war und die nun über 30-jährige Frau wieder bei ihrer inzwischen verwitweten Mutter wohnen musste. Das Kaufhaus Globus ist auf der Höhe der Zeit und hat Abteilungen für Sport und Langspielplatten eingerichtet, in denen Marie und Dorly ihre Existenz als unabhängige und selbst bestimmte Frauen sichern können. Dorly muss dafür aber ihr wahres Alter verbergen, denn in einer Abteilung mit Tango-Rhythmen aus dem heißblütigen Argentinien ist in der kalten Winterluft am Rheinknie wenig Verständnis fürs Älterwerden und die Sorgen in einer modernen Arbeits- und Alltagswelt. Die eigentlichen Helden von Capus´ erstem Erfolgsroman sind also wirklich nicht die beiden aus Nazi-Deutschland und dem Ruhrgebiet geflohenen Ingenieure aus Wuppertal oder irgendwelche Bankdirektoren oder gar Staatslenker, sondern schlicht, aber ergreifend die kleinen Leute mit eben diesen Sorgen aus dem modernen Arbeits- und Freizeitalltag. Den Hauch von Frühling (Kap.12) oder jene „halbe Stunde Freiheit und frische Luft“, die sich ein Azubi im zweiten Lehrjahr bei seinen „Botengänge(n) zur Hauptpost“ zum Durchatmen genehmigt (Kap. 10), erfrischen den Alltag von kleinen und sehr kleinen Leuten, die von vornherein wissen, dass die Haupt- und Staatsaktionen garantiert über ihre Köpfe hinwegrollen und wenig Rücksicht auf sie nehmen werden, wenn sie ihren privaten und beruflichen Pflichten in Familien, Gaststätten, Herbergen, Bankfilialen oder Kontoren Tag für Tag still, fleißig, zuverlässig und ohne zu murren nachgehen: „Lindner! Kaffee holen.“ (Kap.2) Dem Schüler Marlon K. aus der eben zitierten Klasse 9 hat dieses Anliegen des Autors Alex Capus ebenfalls imponiert: „Capus lässt in diesem Buch Krimi, Romanze und Realität zu einem harmonischen Meisterwerk zusammenfließen, für das man sich noch Jahre nach dem Erscheinen begeistert. (…) An dieser Stelle möchte ich ein Lob aussprechen für einen großartigen Roman, aber vor allem für jene Mühen, die der Autor auf sich genommen hat, um alle Quellen zusammenzutragen.“
Michael Karl

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Veröffentlicht am 09.01.2022

Lebenszeichen aus Friedenau und Sheerness

Der Briefwechsel. 1964–1983
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Der Briefwechsel umfasst 230 Druckseiten mit 125 Briefen und beginnt am 14.10.1964 mit einer Betroffenheitsadresse aus Frankfurt/M. - Lieber Uwe Johnson, Herzlich Ihr Frisch -, die der Angeschriebene am ...

Der Briefwechsel umfasst 230 Druckseiten mit 125 Briefen und beginnt am 14.10.1964 mit einer Betroffenheitsadresse aus Frankfurt/M. - Lieber Uwe Johnson, Herzlich Ihr Frisch -, die der Angeschriebene am 22.10 aus Friedenau mit einer Erklärung beantwortet, „dass ich nach wie vor ungelenk bin im small talk.“ (12) In einer (von zahlreichen) Fußnote(n) wird der Anlass der Begegnung und der Verstimmung berührt (4.10. Lesung in Bücherstube); drei Tage zuvor soll es bei Grass in der Niedstraße im Beisein von Enzensberger und Bachmann vom Hausherr gekochten „Hasenpfeffer“ gegeben haben. (11, FN1) Es folgen nur zwei Briefe (Nr. 3+4) im Abstand von je etwa zwei Jahren. Erst 1970 erhöhen sich Frequenz und Intensität des brieflichen Austausches, denn am 21.12.70 verlautet (aus Berzona), „weil das Buch (…) einen großen Eindruck macht, es liegt wie ein erratischer Block in unserer gegenwärtigen Literatur.“ (16) Im Herbst 1970 war der erste Band der „Jahrestage“ erschienen. Dem steif - ironisch angelsächselnden Johnson - „melde gehorsamst das Auftreten einiger Vorfreude“ (34) - wird aus NY Zuwendung zu seiner bevorstehenden Büchnerrede zuteil, wie umgekehrt Johnson Frisch das Fracksausen vor der Paulskirchenrede erträglicher gestalten hilft. Johnson lektoriert auch Maxens neue Tagebuchedition (1966-1970), die Korrekturvorschläge sind in voller Länge ab Seite 245 abgedruckt. Max ist des Lobes voll: „Sie sind der beste Lektor, den ich bisher gehabt habe.“ (20) Uwe macht aber auch den Syndikus für fünfstellige Spendengelder in Schweizer Franken, die Max den Briefen in Form von Verrechnungsschecks beilegt, oder gar den Immobilienmakler, wenn er Max beim Sondieren des Friedenauer Immobilienmarktes unterstützt. (47, FN 65 + 50, FN 72) Weitere Dienstleistungen werden immerhin angedeutet (51, FN 76) und die Suhrkamp - Autoren treffen sich z.B. am 6.12.72 in Küssnacht, wenn nicht zum Rütli - Schwur, so doch „zu einem Arbeitsgespräch“, zu dem Uwe den Martin (Walser) mitbringt, obwohl es „eine nicht immer unproblematische Freundschaft mit Uwe Johnson“ gab. (51, FN 74) Zum Spendenthos von Max Frisch wird unterdessen notiert: „MF vergibt jährlich sfr. 90.000.“ (67, FN 98) Johnsons Abwanderungspläne unterstützt Frisch trotz erklärter Trauer über den möglichen Wegzug aus Friedenau: „Das Darlehen, das Sie dafür brauchen, 120.000 DM, wie Sie sagten, kann ich ohne weiteres geben (…); das Geld ist nun einmal da, viel zu viel für mich.“ (76) 1974 wurden angehende Deutschlehrer auf dem „zentralen französischen Examensprogramm“ über Johnsons Buch „Mutmaßungen“ geprüft und Johnsons Empathiestärke erweist sich darin, „dass ich den Kandidaten noch in letzter Minute Material gegen ihre beamteten Parzen (!) liefern wollte.“ (78) Zum 4.8.74 werden „Erkundungen in Sheerness-on-Sea“ erwähnt sowie die Existenz von „Reihenhäusern in wenig mehr als vier Mustern, durchquert von einem Broadway, der ein Gemeinwesen bloß herstellt als Einkaufsstätte.“ (83) Johnson schätzt Sheerness auf „etwa 14.000 Einwohner“, in den „sommerlichen Monaten deutlich umfranst von Badegästen, die sich bloß solch steinigen Strand leisten können.“ (86) Bald kommt Unseld - „unser aller Siegfried“ (120) - zu Besuch, bestellt im Gedenken an Ja-mes Joyce ein Guinness und „ist heikel betroffen von der Farbe und dem Aroma des Ge-tränks.“ (90) Am 13.12.74 sah man das neu erworbene Haus der Familie Johnson auf Sheerness „schrumpfen unter den etwa 160 Bücherkartons, die hineingetragen wurden.“ (98) Nach erfolgtem Einzug lieferte Johnson für Marianne Frisch brieflich eine mehrere Druckseiten lange Auslegung der Erzählung „Montauk“ (104-107), ohne damit die ungleiche Beziehung (111 u.ö.) oder seine eigene um den sog. „Hinterhand´schen Komplex“ (149) noch zu retten. (204) Auch die eigene Gesundheit stand nun auf Messers Schneide, wie die „Ambulanzfahrten zum Landeskrankenhaus Maidstone“ früh zeigen… (134)
Michael Karl

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Veröffentlicht am 09.01.2022

Die Kultur des Lesens als eine peregrinatio in stabilitate

Im Weinberg des Textes
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Ivan Illich wurde 1926 in Wien geboren. Sein Vater stammte aus Kroatien und war von Beruf Bauingenieur. „Ivan Illich ist Sohn eines katholischen Dalmatiners und einer lutherisch getauften deutschen Jüdin, ...

Ivan Illich wurde 1926 in Wien geboren. Sein Vater stammte aus Kroatien und war von Beruf Bauingenieur. „Ivan Illich ist Sohn eines katholischen Dalmatiners und einer lutherisch getauften deutschen Jüdin, er besitzt die amerikanische Staatsbürgerschaft und ist unverheiratet.“ (TAZ 30.7.2001) Wie eine Romanfigur in Robert Seethalers „Der Trafikant“ unterhielt die Familie Illich in Wien private Kontakte zu dem berühmten Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud. 1942 legte Ivan die Reifeprüfung in Florenz ab, wo er bis 1945 auch ein Chemiestudium absolviert, gefolgt bis 1951 von den Fächern Geschichte, Theologie und Philosophie am Collegium Romanum in Rom. 1950/51 wird Ivan zum Priester geweiht und parallel dazu über eine Studie zur Geschichtsschreibung von Arnold Toynbee an der Universität Salzburg zum Doktor promoviert. Es folgt ein Habilitationsprojekt über Albertus Magnus an der Universität in Princeton, das Ivan zugunsten einer Tätigkeit als Armenpriester im Elendsviertel Upper West Side in NYC aufgibt. „Im Weinberg“ erscheint 1990 unter dem Titel „L´Ere du livre“ in Paris und unterzieht einen Fixstern der Gutenberg-Galaxis einer subtilen Analyse. Es handelt sich um Hugos Didascalicon aus dem 12. Jht., das in 125 Handschriften überliefert ist (168) und in etwa „dem Unterricht Dienendes“ bedeutet (135). Die Gegenbewegung findet sich in das helle Holz einer Kirchentür der St. Giles Cathedral im schottischen Edinburgh eingraviert: Facta non verba ist dort zu lesen. Illich geht mit seinem Buch „zu den Ursprüngen der Buchherrschaft“ zurück. (8) Die Lesekundigen „hatten einen eigenen sozialen Status“ und „das Zeitalter des Buches hat den privaten Raum ebenso gebraucht wie Zeiten des Schweigens, die von anderen respektiert wurden.“ (9) Beim Übergang von Gutenberg zu Zuckerberg mussten aber die meisten Bücher den ubiquitären Bildschirmen weichen, die sich „viral“ ausbreiteten wie die asiatische Beulenpest. Bei Hugo war das Lesen noch „eine ontologisch heilende Technik“ (18) und das Buch eine „Arznei für das Auge“ (27). Durch das Lesen von Büchern wurde das Klosterleben unter der Maßgabe einer stabilitas-loci-Regel dynamisiert zu einer perigrinatio in stabilitate (29) und eine späte Folge dieser weitgehend karbonfreien Beweglichkeit findet sich bei dem Konstanzer Literaturwissen-schaftler Bernd Stiegler, der eine History of Armchair Travel (Chicago 2013) veröffentlichte, die 2010 als „Reisender Stillstand“ erstmals erschienen war. In diese Art „Selbstbegrenzung“ hat Illich bereits 1975 mit einem Buchtitel eingeführt, der auf eine „politische Kritik der Technik“ abzielt und „eine Begrenzung des Wachstums nicht nur aus ökologischen Gründen, sondern vor allem mit dem Ziel, den Menschen wieder zu einem autonomen Wesen werden zu lassen. Illich formulierte hier nicht nur erste Elemente einer allgemeinen Theorie der Industrialisierung, sondern legte zudem eine radikale Kritik der Institutionen und der Expertenzünfte vor.“ (CH Beck)
Michael Karl

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