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Veröffentlicht am 29.02.2020

Vom Sterben, Auftauchen und Leben.

Marianengraben
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Paula verliert auf tragische Art und Weise ihren kleinen Bruder Tim, was sie in tiefe Depressionen stürzt. Auf dem Bucheinband steht „in eine Depression“, aber ich stelle mir Depressionen eher wie eine ...

Paula verliert auf tragische Art und Weise ihren kleinen Bruder Tim, was sie in tiefe Depressionen stürzt. Auf dem Bucheinband steht „in eine Depression“, aber ich stelle mir Depressionen eher wie eine Menschenmenge vor, in der man gerade noch treibt und plötzlich versinkt. Auch Paula geht unter und sitzt nun auf dem tiefsten Grund ihrer Seele fest, allein im Marianengraben, am tiefsten Tiefpunkt einer Welt, zu der sie ohne Tim sowieso nie so richtig Zugang hatte.

„Ich saß im Marianengraben mit einer kleinen Suppenkelle und sollte damit all das Wasser und den Schmerz aus mir herausholen, damit es mir besser ginge … Doch das funktionierte nicht.“

Tim fehlt, der vor Leben sprühte und der größte kleine Entdecker aller Zeiten war. Ohne, dass Paula die Welt mit seinen Augen sehen kann, bleibt sie für die junge Frau einfach stehen, und alle ihre Pläne und Träume erscheinen nichtig. Erst durch eine (sehr witzige) Zufallsbegegnung wird sie eines Tages aus ihrer Trauer-Wachstarre gerüttelt, nämlich als sie auf den schrulligen Rentner Helmut trifft, der auch noch eine Rechnung mit dem Leben offen hat. Bald finden die beiden sich im langsamsten Roadmovie aller Zeiten wieder, denn Helmuts Ferienmobil ist auch nicht mehr das jüngste. Zusammen beginnen die anfänglichen Zankhähne, sich mit dem Leben zu versöhnen.

„Wenn Trauer eine Sprache wäre, hätte ich jetzt zum ersten Mal jemanden getroffen, der sie genau so flüssig sprach wie ich, nur mit einem anderen Dialekt.“

Ein Buch darüber, dass man sterben muss und leben sollte.

MARIANENGRABEN ist ein Roman über Trauer, Liebe, Hoffnung und darüber, dass sich zwar keiner von uns entschließen kann, nicht zu sterben, aber wir uns alle entscheiden können zu leben. Was die ohnehin schon sehr nahegehende Geschichte noch ergreifender macht, ist der Erzählstil, der oft fast in Briefform an den Bruder adressiert ist. Man fühlt nahezu körperlich die Sehnsucht eines Menschen, der seinen einzigen Verbündeten und damit auch sich selbst verloren hat.

„Wäre Sehnsucht eine olympische Disziplin, ich hätte längst Gold geholt.“

Das Buch ist sowieso gefühlt von viel Wahrhaftigkeit durchzogen. Daher passt es für mich, dass Jasmin Schreiber seit Jahren als ehrenamtliche Sterbe-Begleiterin und Sternenkinder-Fotografin arbeitet und auch Depressionen ihr wohl nicht fremd sind. Der Bruder der Autorin erfreut sich jedoch nach eigenen Angaben erfreulicherweise bester Gesundheit und dürfte definitiv älterer als Tim sein.

Fazit: Wäre mein Herz ein Bücherregal, würde MARIANENGRABEN neben Mariana Lekys WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN stehen. Ich bin mir sicher, dass es ein Highlight meines Jahres bleibt, und es wäre nahezu fahrlässig von dir, es nicht zu lesen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.11.2019

Prag sehen und verzweifeln.

Melmoth
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Schwierig, denke ich. Es fällt mir in der Tat richtig schwer, zu diesem Buch Stellung zu beziehen oder irgendwas ansatzweise Ausgefeiltes zu schreiben. Denn wenn man nicht zusammenpasst, dann muss man ...

Schwierig, denke ich. Es fällt mir in der Tat richtig schwer, zu diesem Buch Stellung zu beziehen oder irgendwas ansatzweise Ausgefeiltes zu schreiben. Denn wenn man nicht zusammenpasst, dann muss man auch nicht lang nach Worten kramen.

Einerseits empfinde ich das Buch Melmoth als eines, das intelligent und von einer beachtlichen Tiefe ist. Andererseits lässt es mich seltsam kalt, obwohl es aufgrund seiner Geschichte ergreifend sein sollte. Vielleicht verstehe ich das Buch in seinen Tiefen einfach nicht.

Melmoth ist eine ewig über die Erde wandernde Frauengestalt, die sich immer dort manifestiert, wo sie großes Leid bezeugen kann. Sie verfolgt jene, die auf ihrem Weg die oft dünne Schwelle zum Bösen überschritten haben und reicht ihnen die Hand, damit sie ihr Gesellschaft und gleichzeitig Abbitte leisten.

Die Erzählung von Sarah Perry greift mit Melmoth die Gestalt von Melmoth dem Wanderer auf, Hauptfigur des gleichnamigen, bereits 1820 erschienenen Schauerromans. Auch bedient sie sich einer charakteristischen Erzählweise dieses Genres, denn ihr Buch besteht aus vielen einzelnen Erzählungen, Briefen, Tagebüchern und weiteren Augenzeugenberichten von denen, die Melmoth gesehen haben und sie aus ganz unterschiedlichen Gründen fürchten.

Ich bin versucht, Melmoth der Wanderer zu lesen, um Sarah Perrys Werk besser zu verstehen. Das, was ich über ihn lese, erscheint mir so viel schlüssiger als bei Perry, denn in der Ursprungserzählung wird der Wanderer als einer beschrieben, der faustgleich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat und nun jemanden finden muss, der seinen Platz einnimmt. So macht das Händereichen Sinn. Bei Perry wirkt es seltsam zutraulich von einer Figur, die die Sünder holt, um sich gemeinsam die Füße blutig zu laufen.

Sarah Perry hat mich somit nach ein paar Seiten verloren und nicht einfangen können, auch wenn ich die Intelligenz ihrer Geschichte von außen bewundere.
Nur bleibt es eben ein „von außen“ ohne echte Berührung, obwohl zwischen den Zeilen viel Leid, Erzählkunst und Bedeutung steckt.

Vielleicht bin ich selbst völlig falsch an das Buch rangegangen. Ich hatte mir das Ganze gruseliger vorgestellt. Ich wollte zwischen den Seiten überdies das Gefühl kennen lernen, in Prag zu sein, habe aber seitenweise nur auf eine schneebedeckte Kulisse geguckt. Und ich fand die Dohlen, die permanent als Unglücksboten herangezogen werden, regelrecht nervig.

Mein Fazit: Melmoth ist nichts für Menschen, die alle Jubeljahre mal ein Buch lesen und dann ganz schnöde spannend unterhalten werden wollen.
Es ist sicher ein literarischer Gewinn für diejenigen Leser, die anspruchsvolle, ungewöhnlich gewebte und langsame Erzählungen mit einer melancholisch dunklen Note schätzen. Meine Welt ist es nicht. Zu dunkel. Zu unnahbar. Zu viel wirre Schatten ohne das rechte Licht.

Veröffentlicht am 01.11.2019

Keine Zauberei, aber heilsam.

Der Ernährungskompass
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Am Anfang war es ein bisschen wie bei Harry Potter. Alle hatten es gelesen. Alle haben darüber geredet. Am Ende bin ich eingeknickt und wollte mitreden. Ich habe es also gelesen. Ich habe über nichts anderes ...

Am Anfang war es ein bisschen wie bei Harry Potter. Alle hatten es gelesen. Alle haben darüber geredet. Am Ende bin ich eingeknickt und wollte mitreden. Ich habe es also gelesen. Ich habe über nichts anderes mehr geredet. Alle waren genervt. Ich war glücklich.

Natürlich kommen im Ernährungskompass von Bas Kast keine Zaubersprüche vor, und ich werde nie ein riesiger Fan von Ernährungs- oder Kochbüchern werden. Aber das Buch, und darum ist es hier erwähnt, hat meine Art zu essen und einzukaufen leise und dauerhaft verändert.

Den Ernährungskompass als Diätbuch zu bezeichnen ist ein bisschen wie Harry Potter als Kinderbuch zu bezeichnen: möglich, aber viel zu flach.
Mehrere Jahre hat sich der Autor und Wissenschaftsjournalist durch aktuelle, teils widersprüchliche Studien gekämpft, um aus dem Latest Shit in Sachen Ernährung endlich mal ein Fazit zu ziehen. Anfangs im eigenen Interesse, weil sein Körper vor zu viel Junk Food in die Knie ging. Nun ist Kast mit der Angewohnheit, Chips zu Abend zu essen, sicher nicht alleine (räusper). Aber er ist der Einzige, der aus seiner radikalen Ernährungsumstellung das gegenwärtig immer noch erfolgreichste Sachbuch zum Thema gemacht hat.

Die buchgewordene Essenz aller gängigen Ernährungsformen und -theorien, unterhaltsam und charmant in kleinen Häppchen aufbereitet.
Was ist gesund? Was macht krank? Was hält uns jung? Was lässt uns aus dem Leim gehen? Welcher Diät gehen wir besser nicht auf den Leim? Kast wollte es wissen. Und schafft es brillant, auch die detailliertesten Sachzusammenhänge interessant rüberzubringen. Statt Vorträge zu halten, nimmt Kast sich wichtige Lebensmittelgruppen, Food-Hypes und Ernährungsmythen vor und räumt so mit dem allgemeinen Chaos auf, das mal unser Essen war. Ok, ich brauche nicht unbedingt das Foto des inneren Bauchfetts einer Maus, die mit Fast Food gefüttert wurde. Aber anschaulich ist es schon, das gebe ich gerne zu.

Wenn ich Bas Kast auf einer Party am Büffet kennen gelernt hätte, dann wäre er bestimmt ein hervorragender Gesprächspartner gewesen.
Ich mag sein Buch, weil es so schön intelligent und unprätentiös ist. Ich mag die Tipps, etwa nichts zu essen, was die eigene Großmutter nicht als richtiges Essen erkannt hätte. Ich finde es gut, dass er mir beigebracht hat, wie man ein gutes von einem schlechten Olivenöl unterscheidet. Und wegen seiner Ausführungen haben wir nach Jahren wieder eine RICHTIGE Kaffeemaschine.

Mein Fazit aus all den Gedanken hier: endlich mal ein gut geschriebenes Sachbuch, das Bock macht und nicht nur Zeit frisst. Ich liebäugle sogar mit einem passenden Kochbuch. Aber das ist eine andere Geschichte.

Veröffentlicht am 01.11.2019

Zum Totlachen.

Achtsam morden
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Mein Vater war Rechtsanwalt, ein Meister der Rhetorik und ein großer Fan alter Screwball-Komödien. Ich bin mit Zitaten aus dem BGB und fröhlichen Wortgefechten am Mittagstisch aufgewachsen. Er hat immer ...

Mein Vater war Rechtsanwalt, ein Meister der Rhetorik und ein großer Fan alter Screwball-Komödien. Ich bin mit Zitaten aus dem BGB und fröhlichen Wortgefechten am Mittagstisch aufgewachsen. Er hat immer diese roten Taschenbuch-Krimis gelesen, die in einer langen Reihe in der Kaminecke standen, und dabei dieses lustige, schmunzelnde Geräusch von sich gegeben. Der Krimi seines Kollegen Kasten Dusse hätte ihm bestimmt gefallen. Denn Achtsam morden ist ein ungemein witziges Gesamtpaket aus einer schlicht genialen Idee, herrlich schrägen Figuren und zum Totlachen skurrilen Situationen.

Zur Story:
Anwalt Björn Diemel ist gestresst. Das liegt zum einen an Björns einzigem Mandanten Dragan, der alles andere als ein Vorzeigebürger ist. Zum anderen steigt ihm seine zickige Frau aufs Dach, weil Björn lieber Großkriminelle wie Dragan verteidigt, als mit seiner kleinen Tochter mal den Spielplatz zu frequentierten.

Blöd für den Strafverteidiger, dass weder seine Ehefrau noch sein Mandant Spaß verstehen, wenn es um ihre eigenen Interessen geht: Während Dragan von Björn aus einer völlig ausweglosen Situation rausgeboxt werden will, zwingt Björns Ehefrau ihn zu einem Achtsamkeitstraining, um seine Prioritäten wieder gerade zu rücken.

Mit diesen widerstreitenden Interessen im Nacken trifft Björn auf seinen neuen Achtsamkeitscoach: Joschka Breitner, ein absolutes Buch-Highlight. Schon alleine deshalb, weil er so echt rüberkommt. Schnell lernt Björn von Breitner die Prinzipien der Achtsamkeit für sich zu nutzen – allerdings völlig anders als erwartet. Denn als Dragan einmal zu viel die neu aufblühende Work Life Balance seines Anwalts bedroht, bringt dieser ihn kurzerhand nach allen Regeln der Achtsamkeit um.

„Was mich an meinem ersten Mord bis heute so mit Freunde erfüllt, ist der Umstand, dass ich dabei wertungsfrei und liebevoll den Moment genießen konnte. So, wie mein Coach es mir in der allerersten Stunde als erstrebenswert beschrieben hatte. Mein erster Mord war eine ganz spontane Befolgung meiner Bedürfnisse, aus dem Augenblick heraus. Und so gesehen eine sehr erfolgreiche Achtsamkeitsübung. Nicht für die anderen. Aber für mich.“

Absolut großartig sind die Zitate aus Breitners fiktivem Buch Entschleunigt auf der Überholspur, die jedes Kapitel von Achtsam morden einleiten. Man möchte dieses Werk besitzen, das vom Protagonisten sehr erfolgreich genutzt wird, um sich vom gestressten Anwalt zum glücklichen Kriminellen zu entwickeln. Schließlich muss ja einer Dragans Job machen, damit dessen Ableben nicht auffliegt. Und Björn ist sowieso gerade dabei, aufzuräumen – warum also nicht auch noch in der Unterwelt.

Absolut Weltklasse ist der Einfall, Björns Familieninteressen wie etwa die Suche nach einem Kindergartenplatz so zu regeln, wie der Pate das getan hätte. Außerdem mag ich die bildhafte Schreibe und die völlig abgeklärte, aber angenehm begeisterungsfähige Hauptfigur. Mein persönlicher Lieblingssatz ist die Beschreibung des Menüs in einem russischen Restaurant.

„Für mich sah russisches Essen immer so aus, als hätte ein Chinese beim Italiener gegessen und es dann über einen Teller mit deutschen Spezialitäten erbrochen.“

Das muss man sich erstmal ausdenken und dann damit auch noch so richtig liegen. Achtsam morden ist der Debütroman von Karsten Dusse, der als TV-Autor bereits mit dem Deutschen Fernsehpreis und Deutschen Comedypreis ausgezeichnet wurde. Das Buch wird allen Spaß machen, die eine Schwäche für locker vorgetragenen, intelligenten, tiefschwarzen Humor haben. Unbedingt lesen!

Veröffentlicht am 01.11.2019

Suche nach Freiheit.

Washington Black
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Angst. Die ersten 80 Seiten umtreibt mich schlicht die Angst, denn Grausamkeit und Willkür bestimmen nahezu körperlich spürbar das Leben des elfjährigen Sklavenjungen Washington Black auf Barbados im Jahre ...

Angst. Die ersten 80 Seiten umtreibt mich schlicht die Angst, denn Grausamkeit und Willkür bestimmen nahezu körperlich spürbar das Leben des elfjährigen Sklavenjungen Washington Black auf Barbados im Jahre 1830. Er ist Feldsklave auf einer Zuckerrohr-Plantage in den britischen Kolonien, wo man immer mehr afrikanische Sklaven unter härtesten Bedingungen heranschafft, um den steigenden Zuckerkonsum der reichen Oberschicht im Britischen Empire zu decken.

Die Plantagenbesitzer haben die Macht über alles und jeden auf der Insel, und nach dem Ableben des alten Masters stellt sich der neue als das personifizierte Böse heraus: Erasmus Wilde, so blass und weiß, dass er fast durchscheinend wirkt und so unglaublich grausam, dass man mit dem Schlimmsten rechnet, sobald er auf den Plan kommt. Wash, wie George Washington Black gerufen wird, ist mittendrin, nur leidlich geschützt von der mütterlichen Sklavin Big Kit. Und so überträgt sich sein Gefühl, jede Sekunde wachsam bleiben zu müssen, und wird erst allmählich erträglicher, als des Masters Bruder die Plantage besucht:

Christopher Wilde, seit Kindertagen Titch genannt, verkörpert als Entdecker und Erfinder den Freigeist eines Alexander von Humboldt und setzt sich genau wie dieser für die Abschaffung der Sklaverei ein. Als der kauzige, aber rechtschaffene Mann den Sklavenjungen zu seinem Assistenten ernennt, bringt er ihn damit erst einmal in relative Sicherheit – und entreißt ihn der einzigen Welt, die der auf der Plantage geborene Junge bislang kannte. Zum ersten Mal ist Wash, der von nun an wissenschaftliche Illustrationen anfertigen darf, mehr als eine Kreatur ohne Persönlichkeit.

„Und in dieses Leben war Titch hereinspaziert, hatte mich mit seinen ruhigen Augen angesehen und an mir etwas erkannt, eine Neugier für die Welt, eine Intelligenz, ein Talent für Bilder, von dem ich selbst bis dahin nichts gewusst hatte.“

Als sich aber zwei Unglücksfälle ereignen und Wash zum Spielball zwischen den subtil verfeindeten Brüdern zu werden droht, fliehen der Entdecker und sein Schützling in einem selbst gebauten Luftschiff. Sie brechen auf in ein jahrelanges Abenteuer, das sie bis in die Arktis und in aller Herren Länder führt.

Und doch ist der imposante Roman der Kanadierin Esi Edugyan, die selbst afrikanische Vorfahren hat, nicht nur ein Abenteuerroman: Er ist eine Geschichte, die als Flucht beginnt und als Suche ihren Lauf nimmt. Anfangs gejagt sucht der langsam erwachsen werdende Wash nach einem Leitbild, einer inneren und äußeren Heimat, die für ihn aber scheinbar nie zu erreichen ist. Auch der rastlose Tish vermag ihm diese Heimat nicht zu geben, und so bleibt die Erinnerung an Big Kits raue Hand auf Washs kindlicher Wange lange Zeit der einzige weiche Anflug von Geborgenheit in einem harten Leben.

Auch nach der Abschaffung der Sklaverei, die im Buch fast nebensächlich erwähnt wird, wendet sich nicht alles zum Guten, denn mit den abwandernden Sklaven beginnen die sozialen Probleme, und Ausgrenzung und Erniedrigung lösen sich keinesfalls in Luft auf. Doch Wash ist ein Ziehkind der Wissenschaft, und letztendlich ist es immer diese Faszination, die ihm eine Richtung gibt. Der Funke, den Titch im Inneren des elfjährigen Jungen gezündet hat, erweist sich auch als Leitstern im Erwachsenenleben.

„Und plötzlich wusste ich, was ich wollte – was ich unbedingt wollte: genau das. Ich wollte mit meinen Händen eine Welt erschaffen können.“

Washington Black ist ein sprachlich beeindruckender Roman, der mich von Anfang an sehr gefesselt hat – aufgrund seiner gelungenen Übersetzung, des krassen Gegensatzes von Grausamkeit und poetischer Sprache, der Lebendigkeit der Gedanken sowie der Orte und fast versessen detailreicher Figuren.

Es fällt mir trotzdem schwer, ein Fazit zu ziehen, ohne das Ende des sehr lesenswerten und übrigens schon von außen bildschönen Romans vorweg zu nehmen. Daher ein paar Fragen, die ich mir nach dem Zuklappen gestellt habe: Ist Freiheit möglich ohne Einsamkeit? Hat ein Mensch nicht immer mehr als nur ein menschliches Motiv für seine Taten? Und: Ist das Leben eine Reise oder eine Landkarte? Auf jeden Fall lesen.