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Veröffentlicht am 31.08.2022

Unverklärter Blick auf Mutterschaft

MTTR
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Ein Schwangerschaftstest auf der Bürotoilette verändert Teresas Leben, aber will sie wirklich Mutter sein? Erinnerungen an eine lieblose Kindheit und ein angespanntes Verhältnis zu den eigenen Eltern machen ...

Ein Schwangerschaftstest auf der Bürotoilette verändert Teresas Leben, aber will sie wirklich Mutter sein? Erinnerungen an eine lieblose Kindheit und ein angespanntes Verhältnis zu den eigenen Eltern machen die Entscheidung nicht einfacher. Doch als man sie in der Abtreibungsklinik zum Eingriff drängt, erwacht ihr Kampfgeist. Teresa wagt den Schritt in ein neues Leben als Mutter – wird sie ihrem Kind das geben können, was ihr selbst verwehrt blieb?

Julia Friese erzählt in „MTTR“ die Geschichte ihrer Protagonistin Teresa in der Ich-Perspektive und der Gegenwartsform. Zu Beginn ist der Stil ungewohnt kühl, wie ein Bericht, mit knappen, stakkatoartigen Sätzen und ungekennzeichneter mündlicher Rede. Teresa schildert wie in einem einzigen langen Gedankenstrom alles, was ihr widerfährt und was sie epmfindet. Dabei entspricht sie so gar nicht dem Klischee der freudigen werdenden Mutter, die schon vor der Geburt die Antworten auf alle Fragen hat.

Teresa ist eine ungemein „echte“ Figur. Die Beziehung zu ihrem Partner Erk hat Unsicherheiten, aber beide wollen gute, gleichberechtigte Eltern sein. Über ihnen schwebt das jeweilige Elternpaar, in den Nachkriegsjahren erzogen und sozialisiert. Vor allem Teresas Eltern behandeln ihre Tochter sehr abwertend und machen erst gar nicht den Versuch, deren Bedürfnisse zu befriedigen. Als Kind, das selbst mit Eltern dieser Generation aufgewachsen ist, sind mir viele der von ihnen verwendeten Sätze nicht unbekannt.

„MTTR“ steht als Abkürzung eigentlich für „Mean Time To Recover“, also die Zeit, welche ein System nach der Reparatur zur Wiederherstellung benötigt. (Sinnigerweise ist hier aber auch das Wort „Mutter“ ohne Vokale versteckt.) Wie ein defektes System, so fühlt sich Teresa – eine Frau, die an sich und ihren Qualitäten als Mutter zweifelt. Einige Schilderungen, zum Beispiel über die Tage im Krankenhaus, vor und nach der Entbindung, sind schwer zu ertragen, aber umso wichtiger. Es gibt schon genug Romane, die Schwangerschaften als einfache, romantische Angelegenheit verklären und damit Frauen unnötig unter Druck setzen. Ein bedeutsames und längst überfälliges Buch!

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Veröffentlicht am 29.08.2022

Interessanter Reihenauftakt

Mord in bester Gesellschaft
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England, 1816. Beatrice Hyde-Clare ist 26 und damit im Grunde schon eine alte Jungfer. Seit dem Tod ihrer Eltern lebt sie bei Tante und Onkel, vom Leben hat sie nicht viel zu erwarten. Als sie mit ihren ...

England, 1816. Beatrice Hyde-Clare ist 26 und damit im Grunde schon eine alte Jungfer. Seit dem Tod ihrer Eltern lebt sie bei Tante und Onkel, vom Leben hat sie nicht viel zu erwarten. Als sie mit ihren Verwandten den Landsitz Lakeview Hall besucht, stolpert sie nachts über die Leiche des Gewürzhändlers Mr. Otley. Vor Ort ist jedoch auch der unausstehliche Duke of Kesgrave, der den offensichtlichen Mord unbedingt als Selbstmord tarnen möchte – für Beatrice natürlich ein Grund, ihre eigenen Nachforschungen anzustellen.

„Mord in bester Gesellschaft“ ist der erste einer im Original bereits zehn Bände umfassenden Reihe der US-amerikanischen Autorin Lynn Messina. Auf Deutsch erscheint die Reihe nun im Thiele Verlag und besticht durch ihre verspielten Cover und das handliche Kleinformat. Die Handlung wird aus der Sicht von Beatrice in der dritten Person und der Vergangenheitsform erzählt. Die Sprache ist dabei der Regeny-Periode angepasst, wobei die Protagonistin für die Zeit ausgesprochen feministisch und willensstark erscheint.

Der Fokus der Geschichte liegt sicherlich auf dem fortlaufenden Schlagabtausch zwischen Beatrice und dem Duke of Kesgrave. Dieser erscheint zwar am Anfang als unerträglich arroganter Schnösel, erweist sich im Laufe der Handlung aber als jemand, der Intelligenz und Selbstvertrauen an Frauen durchaus zu schätzen weiß. Für ihn ist es zwar eine neue Erfahrung, aber ebenso erfrischend, dass Beatrice ihm gegenüber den erwarteten Respekt vermissen lässt und sich als in jeder Hinsicht ebenbürtig erweist.

Hinter den Interaktionen der beiden Hauptfiguren bleibt die Kriminalhandlung leider zurück. Einer der Nebencharaktere fragt sich an einer Stelle des Romans zurecht, wie irgendjemand bei einem Todesfall, der durch einen Schlag auf den Hinterkopf mit einem Kerzenleuchter herbeigeführt wurde, ernsthaft an Selbstmord glauben kann. Und auch die Auflösung des Falles ist nicht unbedingt komplex. Dennoch möchte ich gerne wissen, wie es mit Beatrice weitergeht und zum Glück erscheint Band 2 bereits am 29. September.

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Veröffentlicht am 25.08.2022

Außergewöhnlich

Herr Gröttrup setzt sich hin
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Ich kenne niemanden, der so schreibt wie Sharon Dodua Otoo. Das beweist sie mit „Herr Gröttrup setzt sich hin“, ihrer neu erschienenen Sammlung von insgesamt drei Texten ganz unterschiedlicher Art.

Zunächst ...

Ich kenne niemanden, der so schreibt wie Sharon Dodua Otoo. Das beweist sie mit „Herr Gröttrup setzt sich hin“, ihrer neu erschienenen Sammlung von insgesamt drei Texten ganz unterschiedlicher Art.

Zunächst wäre da die Titel gebende Kurzgeschichte rund um Herrn Gröttrup, seine Frau Irmi und ein widerspenstiges Ei. Als Vorbild der Figuren dienen dabei der reale Raketenwissenschaftler Helmut Gröttrup und seine Ehefrau. Insgesamt erinnert das Setting in seiner Spießigkeit ein wenig an einen Loriot-Sketch: die Gröttrups wollen ihr Frühstück wie gewohnt einnehmen, doch das Ei entscheidet sich, hart zu bleiben. Damit nimmt die Autorin schon eine Technik vorweg, die sie in ihrem Roman „Adas Raum“ perfektionieren wird: Dinge erzählen die Geschichte; auch eine Ada, hier die Putzfrau der Gröttrups, kommt bereits vor. Mit dieser grandiosen Erzählung gewann Dodua Otoo 2016 den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Als zweiter Text ist ihre Klagenfurter Rede zur Literatur aus dem Jahr 2020 abgedruckt, die den Titel „Dürfen Schwarze Blumen malen?“ trägt. In ihr setzt sich die Autorin und Aktivistin mit dem Thema Sprache auseinander. Diese verkraftet, ihrer Meinung nach, Veränderung ausgezeichnet und ist von einem ständigen Lernprozess begleitet. Natürlich geht es aber auch darum, auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen und darauf, dass Schwarze Kunst immer auch als Repräsentation einer ganzen Community verstanden wird – ob Künstler*innen das nun wollen oder nicht.

Der dritte Text „Härtere Tage“ ist sicherlich der Persönlichste. Hier entwirft Sharon Dodua Otoo eine Vision davon, was geschehen wäre, wenn ihre Eltern in Klagenfurt anwesend gewesen wären und schreibt aus dem Jahr 2022 an ihr damaliges Ich. Die Botschaft? Unterschiedliche Lebensläufe prägen uns, aber wir sind mehr als das, was unsere Eltern in uns sehen – darum lasst uns Frieden schließen mit ihnen, unseren Differenzen und Erwartungen aneinander.

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Veröffentlicht am 24.08.2022

Reihenauftakt mit Schwächen

Die Geister von New York
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Lionel ist investigativer Journalist und er ist gut in seinem Job. Hauptsächlich beschäftigt er sich damit, Scharlatane auffliegen zu lassen – an Übernatürliches kann und will er nicht glauben. Eines Tages ...

Lionel ist investigativer Journalist und er ist gut in seinem Job. Hauptsächlich beschäftigt er sich damit, Scharlatane auffliegen zu lassen – an Übernatürliches kann und will er nicht glauben. Eines Tages wird er dann von der mysteriösen Regina Dunkle kontaktiert. Die erteilt ihm den Auftrag, für sie ein verschollenes Manuskript von Edgar Allan Poe zu beschaffen; im Gegenzug wird sie ihm helfen, seine Vergangenheit für immer unter Verschluss zu halten.

„Die Geister von New York“ ist der Auftakt einer Urban Fantasy-Reihe und Craig Schaefers erster Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde, während im Englischen bereits mehr als 20 Romane vorliegen. In diesem ersten Band begleiten wir Lionel bei einem Auftrag, der sein ganzes Leben und das, woran er geglaubt hat, auf den Kopf stellen wird. Erzählt wird hauptsächlich aus seiner Perspektive, in der Er- und Vergangenheitsform; ab und zu steht aber auch Maggie im Fokus, eine Frau, die denselben Auftrag zu haben scheint, wie er selbst.

Die Handlung nimmt von Anfang an schnell an Fahrt auf und erweist sich als Mix aus Agententhriller und fantastischem Roman, komplett mit Hexen, Geistern, Ghouls und weiteren übernatürlichen Wesen. Gemeinsam jagen Lionel und Maggie einen geheimnisvollen Mann mit unheimlich blauen Augen und kommen dabei dem Geheimnis um Lionels düstere Vergangenheit immer näher. Die Geschichte rund um das Poe-Manuskript dient dabei leider nur als Aufhänger der Handlung, der Autor und seine Werke spielen keine größere Rolle.

Auch der Zugang zu den Protagonisten fiel mir nicht leicht. Maggies Identität ist in der Geschichte recht schnell klar und mit einigen Klischees ausgestattet. Auch Lionel präsentiert sich als starker Held, der sich quasi sofort in einer magischen Welt zurechtfindet, die er zuvor mit aller Macht verleugnet hat und darüber hinaus als Fels in der Brandung für Maggie, die ihn eigentlich in jeder Hinsicht in die Tasche steckt. Das Worldbuilding hingegen ist durchaus gelungen und macht Lust, tiefer in diese Welt einzutauchen.

Fazit: Ein typischer erster Band mit einigen Schwächen, aber dennoch Potenzial

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Veröffentlicht am 22.08.2022

Die Frage nach dem "Warum"

Der Duft von Eis
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Ryoko bügelt gerade, als sie den folgenschweren Anruf bekommt: Hiroyuki, ihr Freund, mit dem sie seit Jahren zusammen ist, hat sich an seinem Arbeitsplatz das Leben genommen. In der Leichenhalle trifft ...

Ryoko bügelt gerade, als sie den folgenschweren Anruf bekommt: Hiroyuki, ihr Freund, mit dem sie seit Jahren zusammen ist, hat sich an seinem Arbeitsplatz das Leben genommen. In der Leichenhalle trifft sie auf Akira, Hiroyukis jüngeren Bruder, von dessen Existenz sie bisher nichts wusste. Die beiden tauschen sich aus und Ryoko muss feststellen, dass sie eigentlich gar nichts über ihren Partner gewusst hat. Ihr bleibt nur ein Parfüm, das er für sie kreiert hat und eine willkürlich erscheinende Liste von Beschreibungen. Und so begibt Ryoko sich auf die Suche, in Hiroyukis Kindheit, seiner Heimat, seiner Familie – bis sie am Ende schließlich in Prag landet.

„Der Duft von Eis“ der mehrfach preisgekrönten Autorin Yoko Ogawa wird aus der Sicht ihrer Protagonistin Ryoko in der Ich- und Vergangenheitsform erzählt. Auf diese Weise sind wir ganz nah an den Geschehnissen, ihrer Trauer und den verzweifelten Versuchen, Hiroyukis Tat einen Sinn zu geben. Es ist seltsam, denn eigentlich lernt Ryoko ihn erst nach seinem Tod richtig kennen, erfährt von seiner Liebe zur Mathematik, zum Eislaufen und von einem einschneidenden Erlebnis in seiner Kindheit. Einziges Problem: Sie kann nicht mehr mit ihm darüber sprechen.

Während sein Bruder Akira sich mit der Situation arrangiert und versucht, seiner Mutter den Lieblingssohn zu ersetzen, verbeißt Ryoko sich in die Suche nach der Wahrheit: Was hat Hiroyuki in den Tod getrieben? Warum hat er über so viele Dinge nie mit ihr gesprochen? Und was bedeutet die seltsame Liste, die er hinterlassen hat? Irgendwann glaubt Ryoko, in seinen Worten bestimmte Orte und Ereignisse wiederzuerkennen und reist in ihrer Obsession nach Prag, wo Hiroyuki als Schüler den letzten Mathematikwettbewerb seines Lebens einfach abgebrochen hat.

„Der Duft von Eis“ ist ein emotionaler, zarter Roman über Trauer und Verlust und die Unmöglichkeit, in schrecklichen Geschehnissen einen Sinn zu entdecken. Nach und nach verlässt die Handlung den Bereich des Wirklichen und geht in magischen Realismus über. Ob Ryoko all das tatsächlich erlebt oder ob sie es sich in ihrer Trauer nur einbildet, bleibt offen.

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