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Veröffentlicht am 08.07.2020

Auf der Suche nach Glück und Liebe

Unter den Linden 6
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Das erste Kapitel des vierhundertfünfzig Seiten langen Romans ist vielsprechend im Hinblick auf die drei ganz unterschiedlichen Frauenfiguren, die sich 1907 durch Zufall in Berlin begegnen und in den folgenden ...

Das erste Kapitel des vierhundertfünfzig Seiten langen Romans ist vielsprechend im Hinblick auf die drei ganz unterschiedlichen Frauenfiguren, die sich 1907 durch Zufall in Berlin begegnen und in den folgenden Jahren gemeinsam gegen die Ungleichbehandlung von Mann und Frau zu Felde ziehen. Lise Meitner und Hedwig Brügge auf dem Feld einer Universitätslaufbahn und die Dienstmagd Anni auf dem der Autonomie durch die Befreiung aus einer rein dienenden fremdbestimmten Existenz. Im Laufe der Lektüre schien es mir allerdings zunehmend, dass Ann-Sophie Kaiser dem Leser nicht zu viel Ungerechtigkeit zumuten möchte und daher die Umstände und Ereignisse mit Empörungspotenzial nur andeutet, weichspült oder einem Happy End zuführt. Dadurch werden die Figuren und die Handlung unglaubwürdig und zuweilen kitschig. Viele Szenen lechzen nach Mitleid und Bedauern, wodurch ich mich in eine Seifenoper versetzt gefühlt habe, was ich angesichts der Brisanz dieses historisch verbürgten Themas ärgerlich finde. So wird Lise Meitner, „eine der bekanntesten Physikerinnen des 20. Jahrhunderts [...] und erste deutsche Physikprofessorin“ (Klappentext), die die Kernspaltung entdeckte, eine Karikatur ihrer selbst, da sie ständig errötet, wenn sie gelobt oder von ihrem Mitarbeiter Otto Hahn freundschaftlich berührt wird, was in zahleichen Variationen abgegriffener Metaphern geschildert wird, zum Beispiel, wenn Hahn „ihr Herz ins Stolpern“ bringt. Sie wirkt arg einfältig, um es freundlich zu sagen, wenn sie nach Jahren der Zusammenarbeit mit Hahn auf die Idee kommt, dass zwischen „Hahn und ihr [...] durchaus mehr sein könnte als reine Kameradschaft.“ Hahn heiratet bald darauf eine andere, womit Lise zunächst nicht zurechtkommt, denn „diese ganzen Gefühle, mit denen sie sich zur Zeit herumplagen musste, waren wirklich anstrengend.“ Mitleid kommt da beim Lesen keins auf. Auf die Spitze treibt es Ann-Sophie Kaiser im letzten Drittel des Romans, als der Erste Weltkrieg ausbricht, dem Lise mit einer absurden Ignoranz und Dummheit begegnet, sodass ich mich gefragt habe, ob der Roman nun das Genre wechselt, in das der Groteske: „Lise kannte sich nicht so aus mit Politik und auch nicht mit den Idealen und Traditionen der Universität und ihrer männlichen Studentenschaft“ – worum es aber doch seit vierhundert Seiten geht -, „würde aber [am liebsten] auch in den Krieg ziehen“, weil man mitmachen müsse, damit man sich nützlich fühle und nicht verrückt werde. Wie jetzt, meint sie das ernst: Sie hat keine Ahnung von Politik, will aber beim Krieg mitmachen, damit sie sich nicht schlecht fühlt? Bizarr! Ich war am Ende leider etwas enttäuscht von dem vielversprechenden Plot, aber zumindest die Protagonisten fanden alle ihr Happy End: Lise wird Professorin und findet Erfüllung als Röntgenschwester an der Ostfront. Anni macht ihr Abitur und beginnt eine Arbeit als Buchhändlerin - zwischendurch wird sie nach einer einmaligen Vereinigung von ihrem Jugendschwarm schwanger, was sie erst merkt, als sie eine Fehlgeburt hat und was für sie kein Grund ist, ihn in Zukunft eventuell zu heiraten, falls er sich entschließt, seine Verlobte zu verlassen. Und last but not least macht Hedwig Karriere als Germanistin an der Universität und heiratet ihren Doktorvater, der ihr unmittelbar nach dem Tod ihres ersten Mannes, der sie kaum berührt hat, einen Heiratsantrag macht, den sie einige Jahre später annimmt. Vielleicht hätte ich den letzten Satz des Informationstextes auf der Buchrückseite ernster nehmen sollen, dann wäre ich von der eskapistisch-romantischen Ausrichtung des Romans nicht so negativ überrascht gewesen: „Die drei unterschiedlichen Frauen werden zu engen Verbündeten, die gemeinsam um ihr Glück und für die Liebe kämpfen.“ Wer einen Roman über die Suche und Sehnsucht nach Glück und Liebe lesen möchte, sollte zugreifen.

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Veröffentlicht am 18.05.2020

Ein Sprachkunstwerk von existenzieller Skurrilität

Der restliche Sommer
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Scharnigg gewährt uns einen tiefen Blick in die Psyche von vier Figuren mittleren Alters, die zwei Dinge gemeinsam haben: Sie stehen kurz vor einem tiefgreifenden Einschnitt in ihrem Leben, bei dem es ...

Scharnigg gewährt uns einen tiefen Blick in die Psyche von vier Figuren mittleren Alters, die zwei Dinge gemeinsam haben: Sie stehen kurz vor einem tiefgreifenden Einschnitt in ihrem Leben, bei dem es bei den einen um Leben und Tod, bei den anderen beiden um eine neue berufliche Orientierung geht. Und zweitens haben alle vier einen großen Spleen und ein pathologisches Selbstkonzept.
Da wäre Paul Neulich, der seit zwanzig Jahren eine viel gelesene wöchentliche Zeitungskolumne über Stil und galantes Benehmen in aller Herren Länder schreibt und sich als „Benimm-Papst“ einen Namen gemacht hat. Privat versucht er sich an diesem äußerlichen Gerüst von richtigen Umgangsformen festzuhalten, um sein geringes Selbstwertgefühl zu verschleiern. Er hat die „Körpersprache eines umsichtigen Diplomaten“, der „zu höflich ist, um mit ihm zu streiten“. Die zweite im Bunde ist die bekannte Paartherapeutin Sonja Wilms, die sich vor einem Jahr von Paul getrennt hat. Während eines Interviews verliert sie ihre professionelle Fassung, als die Journalistin ihr die Frage stellt, wie sie mit ihrer eigenen Trennung von dem berühmten Kolumnisten umgegangen sei und gibt persönliche, Paul wenig schmeichelnde Details preis und bricht in feministische Tiraden aus. Das Interview geht um die Welt und Sonja wird zur neuen Ikone des Feminismus‘. Nummer drei ist Sara Almeida, die kurz nach Pauls Trennung von Sonja bei ihm auf der Matte steht, obwohl sie selbst noch mit Tin Hasenglock, einem Computernerd, in einer Beziehung steckt. Paul hat sie in einer Talkshow beeindruckt, weil er die ganze Zeit so gut wie nichts gesagt hat, während sich die anderen zerfleischten. Es ist ein Leichtes für sie, sich Paul auf seiner nächsten Lesung zu angeln, da sie von blendender Schönheit und extrovertierter Offenheit ist, sodass ihr kaum ein Mann widerstehen kann. In der Schule war sie der „unwahrscheinlichste Star [...], der je in dieser kleinen Stadt aus einer Zweizimmerwohnung mit alleinerziehender Mutter gekommen und in den Schulbus gestiegen“ ist. Sie hat ihrer Rolle gemäß Kunst in London studiert und hangelt sich als „diplomierte Performancekünstlerin mit eher wenigen Engagements“ durch Leben. Als sie Paul für Recherchen nach Portugal begleitet, bleiben sie an der Algarve hängen, was fatale Folgen hat, die hier noch nicht verraten werden sollen. Zuletzt ist da noch Tin (vor Sara: Martin) Hasenglock. Er ist mit der „erstbesten Idee“, einer Art Dating-Plattform namens harpf.com, „bis zu einem eigenen Gebäude im Kreativcampus [...], unendlich Pizza“ und ausreichend Geld gekommen, und übt sich seit der Trennung von Sara im Liegenbleiben, „denn Aufstehen gehörte schon unter normalen Umständen nicht zu seinen Stärken.“ Aus angeblich beruflichen Gründen macht er sich auf den Weg nach Portugal, um Sara zu sehen, kommt dort allerdings nie an, da er auf dem Flughafen ohnmächtig wird und erst im Krankenhaus mit einem Loch im Bauch wieder aufwacht. Wie es dazu kommt, dürfen die Leser selbst entdecken. Tin hat dazu jedenfalls eine eigene hanebüchene Theorie. Neben diesen vier Hauptprotagonisten treten noch einige ebenfalls völlig aus der Norm geratene Figuren auf, über die sich die Leser köstlich amüsieren werden. Auffällig ist die Fülle an sprachlicher Virtuosität Scharniggs: Es wimmelt von kreativen Verknüpfungen, Vergleichen und Metaphern, die auch das Alltäglichste in poetische Höhen treiben. Zum Beispiel ärgert es Paul, dass sich zwei hessische Touristen in einer kleinen gemütlichen, eng besetzten Taverne in einer Lautstärke unterhalten, „als würden sie auf zwei Eisschollen auseinandertreiben“. Und überhaupt bewegten sich Urlauber in der Fremde mit „der Direktheit von Abrissbirnen.“ Sara hält Paul für einen besonderen „Fund“ und hätte dafür gerne eine „Bestätigung vom Amt für Denkmalpflege, dass sie mit Paul Neulich ein etwas angestaubtes, aber schützenswertes Objekt bezogen und dabei doch eine beachtliche Verliebtheit freigelegt“ hat. Auch Paul ist in Sara verliebt und sein „Laurel blüht“ nicht selten „kräftig“, doch er kann sich zurückhalten, denn zivilisierte Schönheit wiege mehr als ein paar anatomische Glücksmomente, weshalb ihm die Kolumne auch besser bekomme als jeder Besuch im Fitnessstudio. Trotz seines Stilbewusstseins kann er morgens im Bett gegen „seine dünnen hellen Haare“, die „wie etwas, das Ornithologen interessieren könnte [...] auf seinem Kopf zerknüllt“ liegen, nichts ausrichten. Das hält Sara aber nicht davon ab, ihre Hand über Pauls Rückseite wandern zu lassen, woraufhin er sich so zu ihr dreht, dass „diese kleine Wanderung einen für ihn denkbar günstigen Ausgang nehmen kann.“

Fazit: Wer eine ungewöhnliche Charakterdarstellung skurriler Figuren mit existenzielle Tiefe und in kreativer Sprachkunst lesen möchte, mit denen Scharnigg nicht zuletzt auch gesellschaftliche Zustände satirisch aufs Korn nimmt, der sollte „Der restliche Sommer“ lesen.

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Veröffentlicht am 17.05.2020

Der Mensch ist nur Mensch, wenn er wandert

Die Kunst des stilvollen Wanderns – Ein philosophischer Wegweiser
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Wenn Du erfahren möchtest, wer Du wirklich bist, dann solltest Du dieses Buch lesen!
Die Glaubenssätze, die heutzutage von sogenannten Coaches, Affirmationstrainern und Psychotherapeuten, die sich vor ...

Wenn Du erfahren möchtest, wer Du wirklich bist, dann solltest Du dieses Buch lesen!
Die Glaubenssätze, die heutzutage von sogenannten Coaches, Affirmationstrainern und Psychotherapeuten, die sich vor Klienten kaum noch retten können, als Wunderweisheiten gepredigt werden, versprühte Graham bereits vor fast einhundert Jahren in seinem „philosophischen Wegweiser“ mit einem so leichtfüßigen und charmanten Tiefsinn, dass man ihm bereits beim „Aufbruch“ an den Fersen klebt. Denn wie erstrebenswert ist es, seinen „Platz in dieser Welt“ zu finden und wie „wohltuend […], sich ins rechte Verhältnis zu Gott, Natur und Mitmenschen zu setzen.“ Graham findet unnachahmlich treffende und sinnliche Metaphern für das Wesentliche des Lebens, zum Beispiel, wenn er schreibt, dass man befreit von allen Rollen, die man in der Gesellschaft einnehmen müsse, und von „Illusionen […], Vorurteilen und Gewohnheiten“ die „Natur zur Lehrmeisterin“ nehmen solle und dann das „Logbuch […] [der eigenen] Seele“ nach und nach mit Schönheit und der eigenen Bestimmung füllen könne. Erstaunlich weitsichtig und gesellschaftskritisch ist seine humanistische Erkenntnis, dass im Einswerden mit und in Demut vor der Natur alle Menschen gleich und „befreit vom Makel der sozialen Klasse“ sind: die Anwaltsrobe wird gegen Tweed getauscht und die unter Hüten und Kleidern versteckte Eva verwandelt sich „in eine Waldnymphe“. Seine Ausführungen wirken dabei nie altklug und besserwisserisch, sondern sind humorvoll, selbstironisch und von tiefer Leidenschaft und Authentizität geprägt. Seine Ausrüstungsgegenstände sind ihm Freunde, er „entwickelt eine tiefe Zuneigung zu seinen Stiefeln“ und auch der Rucksack „wird es Ihnen über nehmen, wenn Sie ihn im feuchten Gras herumliegen lassen. Glücklicher ist er, wenn Ihr Kopf auf ihm ruht.“ Jeder, der sich die Frage „Was ist der Mensch?“ schon einmal gestellt hat, wird durch Grahams humorvoll-ironische Betrachtung unserer Spezies als eine wandernde neue und erfrischende Antworten finden. Die Höhepunkte des „stilvollen Wanderns“ seien hier nicht verraten, aber die entsprechenden Kapitelüberschriften lassen einen unnachahmlichen Lesegenuss erahnen: „Der Gefährte“, „Das Bett“ oder „Baden gehen“. Wer momentan wegen der Coronapandemie die Enge fürchtet, findet hier eine erholsame luftige Genesung, auch wenn es einen nach der Lektüre in den Beinen kribbelt und man es kaum erwarten kann, seinen Fuß auf ein Stück Waldboden zu setzen.

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