Auf der Suche nach Glück und Liebe
Unter den Linden 6Das erste Kapitel des vierhundertfünfzig Seiten langen Romans ist vielsprechend im Hinblick auf die drei ganz unterschiedlichen Frauenfiguren, die sich 1907 durch Zufall in Berlin begegnen und in den folgenden ...
Das erste Kapitel des vierhundertfünfzig Seiten langen Romans ist vielsprechend im Hinblick auf die drei ganz unterschiedlichen Frauenfiguren, die sich 1907 durch Zufall in Berlin begegnen und in den folgenden Jahren gemeinsam gegen die Ungleichbehandlung von Mann und Frau zu Felde ziehen. Lise Meitner und Hedwig Brügge auf dem Feld einer Universitätslaufbahn und die Dienstmagd Anni auf dem der Autonomie durch die Befreiung aus einer rein dienenden fremdbestimmten Existenz. Im Laufe der Lektüre schien es mir allerdings zunehmend, dass Ann-Sophie Kaiser dem Leser nicht zu viel Ungerechtigkeit zumuten möchte und daher die Umstände und Ereignisse mit Empörungspotenzial nur andeutet, weichspült oder einem Happy End zuführt. Dadurch werden die Figuren und die Handlung unglaubwürdig und zuweilen kitschig. Viele Szenen lechzen nach Mitleid und Bedauern, wodurch ich mich in eine Seifenoper versetzt gefühlt habe, was ich angesichts der Brisanz dieses historisch verbürgten Themas ärgerlich finde. So wird Lise Meitner, „eine der bekanntesten Physikerinnen des 20. Jahrhunderts [...] und erste deutsche Physikprofessorin“ (Klappentext), die die Kernspaltung entdeckte, eine Karikatur ihrer selbst, da sie ständig errötet, wenn sie gelobt oder von ihrem Mitarbeiter Otto Hahn freundschaftlich berührt wird, was in zahleichen Variationen abgegriffener Metaphern geschildert wird, zum Beispiel, wenn Hahn „ihr Herz ins Stolpern“ bringt. Sie wirkt arg einfältig, um es freundlich zu sagen, wenn sie nach Jahren der Zusammenarbeit mit Hahn auf die Idee kommt, dass zwischen „Hahn und ihr [...] durchaus mehr sein könnte als reine Kameradschaft.“ Hahn heiratet bald darauf eine andere, womit Lise zunächst nicht zurechtkommt, denn „diese ganzen Gefühle, mit denen sie sich zur Zeit herumplagen musste, waren wirklich anstrengend.“ Mitleid kommt da beim Lesen keins auf. Auf die Spitze treibt es Ann-Sophie Kaiser im letzten Drittel des Romans, als der Erste Weltkrieg ausbricht, dem Lise mit einer absurden Ignoranz und Dummheit begegnet, sodass ich mich gefragt habe, ob der Roman nun das Genre wechselt, in das der Groteske: „Lise kannte sich nicht so aus mit Politik und auch nicht mit den Idealen und Traditionen der Universität und ihrer männlichen Studentenschaft“ – worum es aber doch seit vierhundert Seiten geht -, „würde aber [am liebsten] auch in den Krieg ziehen“, weil man mitmachen müsse, damit man sich nützlich fühle und nicht verrückt werde. Wie jetzt, meint sie das ernst: Sie hat keine Ahnung von Politik, will aber beim Krieg mitmachen, damit sie sich nicht schlecht fühlt? Bizarr! Ich war am Ende leider etwas enttäuscht von dem vielversprechenden Plot, aber zumindest die Protagonisten fanden alle ihr Happy End: Lise wird Professorin und findet Erfüllung als Röntgenschwester an der Ostfront. Anni macht ihr Abitur und beginnt eine Arbeit als Buchhändlerin - zwischendurch wird sie nach einer einmaligen Vereinigung von ihrem Jugendschwarm schwanger, was sie erst merkt, als sie eine Fehlgeburt hat und was für sie kein Grund ist, ihn in Zukunft eventuell zu heiraten, falls er sich entschließt, seine Verlobte zu verlassen. Und last but not least macht Hedwig Karriere als Germanistin an der Universität und heiratet ihren Doktorvater, der ihr unmittelbar nach dem Tod ihres ersten Mannes, der sie kaum berührt hat, einen Heiratsantrag macht, den sie einige Jahre später annimmt. Vielleicht hätte ich den letzten Satz des Informationstextes auf der Buchrückseite ernster nehmen sollen, dann wäre ich von der eskapistisch-romantischen Ausrichtung des Romans nicht so negativ überrascht gewesen: „Die drei unterschiedlichen Frauen werden zu engen Verbündeten, die gemeinsam um ihr Glück und für die Liebe kämpfen.“ Wer einen Roman über die Suche und Sehnsucht nach Glück und Liebe lesen möchte, sollte zugreifen.