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Veröffentlicht am 04.09.2020

Viel versprechender Beginn, dann verliert es sich

Herzklappen von Johnson & Johnson
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Ach schade, das war nicht wirklich ein Buch für mich. Dabei hat es durchaus ansprechend angefangen und ist auch grundsätzlich recht schön, im Sinne von fast poetisch geschrieben - das hat mich dann aber ...

Ach schade, das war nicht wirklich ein Buch für mich. Dabei hat es durchaus ansprechend angefangen und ist auch grundsätzlich recht schön, im Sinne von fast poetisch geschrieben - das hat mich dann aber letztlich doch eher unbefriedigt zurückgelassen, mehr dazu gleich.

Zunächst einmal dies: Das Buch ist leider ein klarer Fall von fehl geleitetem Marketing. Der Klappentext spiegelt die hauptsächliche Thematik eher unzureichend wieder und führt diejenigen, die an dem dort im Mittelpunkt stehenden Thema interessiert sind, in eine frustrierende Irre. Für mich fließt das nicht direkt in meine Bewertung ein, da ich keine besondere Erwartung hatte, Klappentext hin oder her - zumal die Autorin nichts dafür kann. Dennoch hat es meine mit jeder Seite wachsende Verwirrung nicht wirklich reduziert.

Beherrschendes Thema ist der Umgang und das Leben mit Schuld. Im Mittelpunkt stehen Alma, ihre Lebensgeschichte (vom Kindesalter bis zur Mutterschaft) und Beziehungen. Wir erfahren einiges über ihre Kindheit, etwas über ihre Eltern, am meisten aber über ihre Großeltern. Abwechselnd werden Opa und Oma, deren persönliche Schicksale und die wechselnde bzw. wachsende Beziehung zu Alma beleuchtet.

Der Opa, der als junger Mann im Zweiten Weltkrieg kämpfte, dabei viel Schuld auf sich lud, in Kriegsgefangenschaft geriet und als Mann heimkehrte, dessen "Nachher" von eben jenen Faktoren und Erlebnissen geprägt wurde. Die Oma als seine Konstante, die die "Vorher"-Version ihres Mannes nie kennengelernt hat. Valerie Fritsch beschreibt die Gräuel des Krieges und ihre (Spät)folgen. Dieser Teil - gerade die Kontraste der kleinen Alma, die aus dem schweigsamen Opa nicht schlau wird, mit der großen Alma, die sich den Großeltern mit Wissen und Verständnis neu annähert, hat mir gefallen. Geschickt spielt Valerie Fritsch mit Selbst- und Fremdbild und wie sich diese durch Erfahrungen ändern - garniert mit wirklich tollen Sätzen wir zum Beispiel: "Wie alle wollten sie [die Eltern] anders sein als die eigenen Eltern, aber später Kinder haben, die waren wie sie.". So gut, so wahr.

Spätestens, als die Erzählung mehr in die Gegenwart schwenkte und die stets von der Vergangenheit der Geschichte geprägten Großelterngefilde verlässt, fing irgendetwas an, mich zu stören. Alma lernt ihren späteren Mann kennen, sie bekommen einen Sohn (jenen schmerzunempfindlichen Emil)... und dann fiel es mir auf: Hier passte die Erzählung für mich nicht (mehr). Das gesamte Buch kommt komplett ohne Dialoge aus, es findet sich keine einzige direkte und auch kaum indirekte Rede. Alles wird beschrieben, bis ins kleinste Detail, doch mir fehlte die direkte Interaktion, die Kommunikation zwischen den Figuren. Die "neuen" Verbindungen blieben für mich kalt, blass, unnahbar. Was bei den wie Rückblenden wirkenden Passagen gut funktioniert hatte, ja, mir dort nicht mal auffiel, störe mich umso mehr im späteren Teil.

Hinzu kam, dass die Geschichte ca. ab der Hälfte einen Bruch vollzieht und die zweite Hälfte - in der Alma mit ihrer Familie nach Kasachstan reist, um der Vergangenheit des Opas (der einst dort im Einsatz und in Kriegsgefangenschaft war) zu folgen, sich sehr gezogen hat. Da stimme die Gewichtung der Erzählstränge für mich überhaupt nicht mehr. Alma hält die Geschichte(n) zusammen, gleichzeitig fungiert ihr Sohn, der keinen Schmerz empfinden kann, als eine Art Klammer bzw. Spiegelung der "Stumpfheit" des Großvaters. Auch das ging alles nicht so richtig für mich auf. Das Thema postnatale Depression wurde auch noch für ein paar Seiten eingestreut - nun ist das Buch allgemein nicht wirklich lang, aber weniger wäre hier und da vielleicht (noch) mehr gewesen.

Allgemein hinterließ das alles einen sehr unausgegorenen Eindruck bei mir, schade und enttäuschend nach dem viel versprechenden Beginn.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Böse, düster, schlau

Mein Jahr der Ruhe und Entspannung
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Dieses Buch war eine köstliche böse Leckerei. Auf den ersten Blick geht es um eine junge, hübsche und finanziell unabhängige Frau, die sich entschließt, einen selbst herbeigeführten "Winterschlaf" zu halten ...

Dieses Buch war eine köstliche böse Leckerei. Auf den ersten Blick geht es um eine junge, hübsche und finanziell unabhängige Frau, die sich entschließt, einen selbst herbeigeführten "Winterschlaf" zu halten in der Hoffnung, besser, kraftvoller und ernuert aufzuwachen. Mit Hilfe einer Psychiaterin (einer der schlimmsten literarischen Beispiele eines medizinisch tätigen Charakters, die ich je gelesen habe) testet sie sich durch Medikamente und Pillen, immer auf der Suche nach der Art von Tiefschlaf, nach der sie sucht. Klingt öde? Ist es aber ganz und gar nicht!

Unsere unbenannte Protagonistin scheint, aus den oben bereits genannten Gründen, ein sorgenfreies Leben zu führen. Doch wie es oft der Fall ist, erweisen sich diese Annahmen als Trugschluss, sobald die Hintergrundgeschichte der Erzählerin nach und nach ans Licht kommt - langsam und gemütlich, so wie der drogeninduzierte Schlaf, der sie immer wieder befällt. Dies ist also nicht nur eine böse Geschichte über von ärztlicher Seite unterstütztem Medikamentenmissbrauch, sondern auch über verschiedene dysfunktionale Beziehungen. Als da wären:

- Die Erzählerin und ihre beste Freundin Reva (die hilfsbedüftigt ist, klammert und ziemlich nervig rüberkommt, die aber von der Erzählerin aber auch emotional ausgenutzt wird und mir nach einer Weile sogar leid getan hat)

- Die Erzählerin und ihr on/off "Boyfriend" Trevor (der diesen Titel in der Anführung eigentlich nicht verdient, da er sie nur benutzt, wenn ihm dannach ist, und nicht klar wird, warum die Erzählerin das überhaupt mit sich machen lässt)

- Die Erzählerin und ihre Elter, vor allem ihre Mutter (merkwürdig, wenn nicht gruselig) im krassen Kontrast zu Reva und ihrer Mutter.

Ein weitere interessantes Detail bilden Ort und Zeit der Erzählung: Es spielt New York in den frühen 00er Jahren, also vor 9/11 - die "Unschuld", fast Naivität der Charaktere, die nicht wissen, was vor ihnen liegt, fügt der komplexen, düsteren Geschichte eine weitere, geradezu traumähnliche Nuance hinzu.

Dies ist also mehr als ein "verschlafenes Buch". Es hat mich aber doch eingelullt, und zwar so, dass ich es nicht erwarten konnte, wieder darin zu versinken, in seinem beständigen Rhythmus, seiner Suche nach Schlaf und seiner einzigartigen Protagonistin. Sie ist nicht besonders sympathisch, aber wenn ich so einen super interessanten, ziemlich "anderen", konsequenten weiblichen Charakter habe, der sich nicht rechtfertigt, ist mir das ziemlich egal.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Eindringliches Buch, das anprangert

Das Mädchen
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"Das Mädchen" ist eine brutale, erschütternde Geschichte über ein Land, in dem der Terror wütet, und über die, die am meisten darunter leiden. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Maryam, das eines Tages gewaltsam ...

"Das Mädchen" ist eine brutale, erschütternde Geschichte über ein Land, in dem der Terror wütet, und über die, die am meisten darunter leiden. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Maryam, das eines Tages gewaltsam mit ihren Klassenkameradinnen von den Mitglieder von Boko Haram entführt wird. Leider keine Seltenheit, denn im ländlichen Nigeria des Romans ist kaum jemand von der Terrorgruppe sicher. Ganze Dörfer werden verwüstet, die meisten Einheimischen getötet, nur den Kindern droht ein ganz "besonderes" Schicksal. Beide Geschlechter werden mittels Gehirnwäsche und Gewalt gefügig gemacht: Die Jungs so zu Kämpfern gegen das eigene Volk "erzogen", die Mädchen zu (Sex)sklavinnen entmündigt. Maryam bekommt diesen Terror mit voller Wucht zu spüren: Ihrer Welt entrissen, emotional und körperlich auf übelste Weise missbraucht, als Dienerin zu niederen Arbeiten gezwungen und schließlich zwangsverheiratet und geschwängert - leider bringt sie aber nur ein weiteres Mädchen zur Welt, statt eines ersehnten zukünftigen "Soldaten".

Das Buch ist, wie bereits erwähnt, brutal und schockierend. Was mich besonders bewegt hat, war, dass Maryams Alptraum nach ihrer schließlich geglückten Flucht noch nicht vorbei ist. Eindringlich schildert Edna O'Brien, wie abschätzig das verschleppte und wieder entflohene Mädchen behandelt wird. Ihre eigene Familie scheint ihr entrückt, sie wird, aufgrund des ihr aufgezwungenen Schicksals, als "Buschfrau" verunglimpft und gemieden - und das Baby, das aus dieser Gefangenschaft entstanden ist und zu dem Maryam selbst nur schwer einen Zugang finden kann, soll am besten ganz verschwinden. Offizielle Behörden halten Maryam anfangs gar für eine Attentäterin und auch im Dorf sind entflohene Mädchen aus Angst vor möglichen Repressalien seitens der Terrorgruppe unerwünscht. All dies zeigt einmal mehr die perfide "Taktik" von Boko Haram und wie sie die Menschlichkeit an so vielen Stellen negativ beeinflusst.

"Das Mädchen" liest sich schnell weg, die Dramatik der Grundgeschichte mit ihren vielen kaum vorstellbaren Inhalten treibt die Leserschaft vorwärts. Trotzdem konnte mich die Erzählung - obwohl mich diese vielen schlimmen Ereignisse natürlich ziemlich schockiert haben - nicht vollständig packen. "Maryam" selbst ist ein kumulierter Charakter, in dem die Autorin die Schicksale mehrerer betroffener Mädchen, mit denen sie während ihrer Recherchereise nach Nigeria gesprochen hat, vereint hat. Im Buch kommen weitere betroffene Stimmen zu Wort, aus verschiedenen Regionen und Schichten des Landes, doch die Art, wie diese Vielstimmigkeit hier präsentiert wird, hat mich nicht immer gut gefallen. Die Erzählperspektiven schwenken teils recht unmotiviert hin und her, etwa durch das Einfügen längerer kursiver Absätze, die dann im Kontrast zu Maryams eigentlicher Erzählung stehen und mich unnötig aus der Unmittelbarkeit der Erzählung herausgerissen haben. Ebenso wie die Zeitenwechsel, die hier und dort scheinbar willkürlich, teils innerhalb eines nacherzählten Dialogs, auftauchten, und für mich keinen Sinn ergaben.

Nichtsdestotrotz ein eindringliches Buch, das anprangert und auf die schlimmen Schicksale dieser Mädchen aufmerksam macht, sie wieder mehr in den Fokus rückt und, besonders wichtig, sie dabei alles andere als "ausschlachtet": Denn trotz dieser unfassbaren Misshandlungen werden die Mädchen hier nicht als gesichts- und hilflose Opfer, sondern sehr respektvoll, empathisch und mit ihren eigenen Stärken dargestellt.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Interessante Alternative zur Ilias

So sprach Achill
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Was für ein spannendes literarisches Experiment: Alessandro Baricco legt hier eine Art schönheitsoperierter Version der Ilias vor (wobei Schönheit, wie so oft, im Auge des/der Betrachtenden liegt): Ein ...

Was für ein spannendes literarisches Experiment: Alessandro Baricco legt hier eine Art schönheitsoperierter Version der Ilias vor (wobei Schönheit, wie so oft, im Auge des/der Betrachtenden liegt): Ein bisschen hier gestrafft, ein wenig da abgesaugt, und dort noch ein bisschen untergespritzt. Das Ergebnis konnte sich für mich durchaus sehen lassen.

Die Grundidee war folgende (der Autor erläutert das recht ausführlich in seinem Vorwort): Baricco wollte eine Art "alltagstauglichere" Version der Ilias, die von der Länge her für eine Radioübertragung umsetzbar war. Also würde hier mächtig gekürzt, unter anderem spielen die Auftritte der Gottheiten überhaupt keine Rolle. Auch wurde die Erzählweise komplett geändert: Statt choraler Verse gibt es hier Berichte in der Ich-Person aus wechselnden Erzählstimmen. Neben den bekannten Hauptcharakteren (Achilles, Odysseus, Helena usw.) der Erzählung kommen auch Nebenfiguren zu Wort. Selbst der Fluss bekommt ein Kapitel, um sich darüber zu beklagen, dass sich sein Wasser mehr und mehr vom Blut der Kriegswütigen getränkt wird. An einigen wenigen Stellen hat Barrico außerdem noch eigene Zeilen eingefügt (stets gekennzeichnet), die für mich ebenfalls gut ins Bild passten.

Trotz dieser gestrafften und anders ausgerichteten Art der Erzählung bliebt die Brutalität der ursprünglichen Geschichte erhalten - dies ist keine weichgespülte Version. Die detaillierten Beschreibungen der Kampfszenen sind häufig und immer wieder erschreckend: Seitenlange Erzählungen, wer wem welche Lanze wohin sticht, wo sie wieder rauskommt, welche Organe dabei zerfleischt bzw. mit herausgerissen werden usw. - wohl keine Lektüre für den Frühstückstisch.

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dieses Buch bei Hardcore-Ilias-Fans ein Stirnrunzeln oder mehr hervorruft. Für Leute wie mich, die die Grundzüge der Ilias kennen, sich bisher aber nicht dazu motivieren konnten, das Original zu lesen, bietet dieses Buch eine gute Alternative.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Respektvolle Annäherung ans Alter

Dankbarkeiten
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In diesem Buch offeriert Delphine de Vigan eine Erzählperspektive, die, angesichts ihrer realen Häufigkeit in der Gesellschaft, viel zu wenig zu Gehör kommt: Die einer alten Frau, die den Verfall ihres ...

In diesem Buch offeriert Delphine de Vigan eine Erzählperspektive, die, angesichts ihrer realen Häufigkeit in der Gesellschaft, viel zu wenig zu Gehör kommt: Die einer alten Frau, die den Verfall ihres Körpers und Geistes bemerkt und das nahende Ende spürt. Es ist Michka, die aufgrund dieser sie immer mehr beeinträchtigenden Alterserscheinungen in ein Pflegeheim zieht. Sie weiß, ihr Ende ist nah, aber vor ihrem Tod will sie noch ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, gegenüber jener Familie, die sie als Kind einst vor den Nazis versteckte. Neben Michka spielen noch zwei jüngere Charaktere eine Rolle: Da ist zum einen Marie, die einst von ihrer Nachbarin Michka quasi aufgezogen wurde und die sich nun in einer Art Umkehr der Rollen um ihre alte Freundin kümmert. Außerdem kommt noch Jérôme zu Wort, der sich als Logopäde in dem Heim um mehr als nur Michkas Sprachverlust kümmert.

Das Buch ist dicht geschrieben und beleuchtet auf berührende Weise das Thema Altern und die damit einhergehenden Verluste. Da waren schon eins, zwei Passagen dabei, die mich schlucken ließen, denn trotz der schönen Sprache ist der Inhalt sehr berührend:

"Alt werden heißt verlieren lernen. [...] Eines Tages nicht mehr laufen, gehen, sich beugen, sich bücken, etwas aufheben, spannen oder falten können [...] Das Gedächtnis verlieren, seine Fixpunkte verlieren und seine Wörter verlieren."

Das ist ein Schicksal das - so nichts dazwischen kommt - vermutlich den meisten von uns bevorsteht. Gleichzeitig ist es das Schicksal, das möglicherweise jemand, den wir kennen (und lieben) vielleicht gerade durchmacht. Grund genug also, sich auch literarisch mal damit zu beschäftigen - und dafür ist dieses Buch eine durchaus gute Wahl. Denn Delphine de Vigan behandelt ihre Charaktere respektvoll und einfühlsam - bis hin zum Thema Tod/Sterben.

Doris Heinemann übersetzt wie gewohnt stimmig und einfach "passend" - wobei sie in diesem Buch durch Michkas immer stärker verschwindendes Sprachvermögen und die dadurch benutzten falschen Wörter bzw. Wortneuschöpfungen vor eine besondere Herausforderung gestellt wurde, die sie mit Bravour gemeistert hat.

Die Geschichte um Michka empfand ich stimmig und rund erzählt, allerdings blieben mir die beiden Nebencharaktere etwas zu blass. Bei beiden wurde eine Art Hintergrundgeschichte eingeführt, die ihrerseits auch wieder mit der von Michka verknüpft wurde - aber da empfand ich die Verteilung der Pespektiven nicht ganz stimmig. Entweder hätte ich gerne mehr sowohl von Marie als auch von Jérôme erfahren - oder jeweils weniger, denn Michka hätte die Geschichte auch alleine getragen. Trotzdem: Ein Buch, das es verdient, gelesen zu werden!