Ein stilles Leben, behutsam rekonstruiert
Anna oder: Was von einem Leben bleibtDieses Buch hat mich von Anfang an auf eine besondere Art eingefangen. Ohne große Gesten, ohne Dramatik – aber mit stiller Intensität entfaltet sich beim Lesen eine bemerkenswerte Tiefe.
Im Mittelpunkt ...
Dieses Buch hat mich von Anfang an auf eine besondere Art eingefangen. Ohne große Gesten, ohne Dramatik – aber mit stiller Intensität entfaltet sich beim Lesen eine bemerkenswerte Tiefe.
Im Mittelpunkt steht Anna Kalthoff, eine Frau, die Ende des 19. Jahrhunderts in einem kleinen Ort im Sauerland lebt. Ihre Geschichte ist nicht in großen historischen Ereignissen verankert – und doch erzählt sie so viel über Mut, Selbstbestimmung und das stille Ringen um ein selbstgewähltes Leben. Anna widersetzt sich dem Lehrerinnenzölibat, heiratet trotz Verbots, wird zur Witwe, übernimmt Post und Gasthof, zieht ein Kind groß, heiratet später erneut – einen deutlich jüngeren Mann.
Henning Sußebach rekonstruiert Annas Leben anhand weniger überlieferter Spuren: Fotos, Briefe, ein Poesiealbum, mündliche Überlieferungen. Wo Dokumente fehlen, tastet er sich vorsichtig mit Mutmaßungen heran, ohne je etwas zu überhöhen oder zu dramatisieren. Gerade diese respektvolle Annäherung hat mich sehr berührt. Es ist kein Versuch, eine Heldin zu erschaffen, sondern das Bemühen, einen Menschen zu erkennen; mit Licht und Schatten, in einem bestimmten sozialen und historischen Kontext.
Die Sprache ist klar, schnörkellos, oft sachlich. Doch zwischen den Zeilen liegt eine spürbare Wärme. Immer wieder begegnet man feinen Beobachtungen und kleinen Gedanken über das Erinnern, über familiäre Weitergabe, über das Vergessen. Man liest nicht nur eine Lebensgeschichte, sondern spürt, wie sehr uns die Vergangenheit prägt, auch wenn sie nur in Bruchstücken überliefert ist.
Mich hat das Buch auf eine stille, aber eindringliche Weise berührt. Ohne Pathos, aber mit einem feinen Gespür für das Wesentliche erzählt es von einem Frauenleben, das so nie im Geschichtsbuch stehen würde – aber trotzdem nicht vergessen werden sollte.
Was bleibt von einem Leben, wenn irgendwann niemand mehr davon spricht? Diese Frage zieht sich wie ein leiser Nachhall durch das Buch. Ich habe es nicht nur gelesen, sondern durchlebt – manchmal mit einem Kloß im Hals, manchmal mit einem Lächeln.
Ein ruhiges, unaufgeregtes, sehr menschliches Buch. Und ein Plädoyer dafür, auch die leisen Geschichten ernst zu nehmen, denn gerade sie machen uns aus. 4 Sterne und eine Leseempfehlung.