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Veröffentlicht am 15.09.2016

Achtung Sadist! Sehr spannend, ungewöhnliches „Ermittler“-Duo, unnötige Schwächen bei der Umsetzung

Post Mortem - Tränen aus Blut
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Zur Handlung möchte ich wie immer bei Krimis und Thrillern möglichst wenig verraten, nur das, was für einige Leser die Kaufentscheidung beeinflusst:
es gibt einige sehr harte Szenen mit willkürlicher ...

Zur Handlung möchte ich wie immer bei Krimis und Thrillern möglichst wenig verraten, nur das, was für einige Leser die Kaufentscheidung beeinflusst:
es gibt einige sehr harte Szenen mit willkürlicher sadistischer Folter im Buch, dabei sind als Opfer sowohl Frauen als auch – sehr heftig – Kinder betroffen. Es gibt Verluste im Tierreich, wenn auch eher als „Kollateralschaden“. Es gibt eine berufstätige alleinerziehende Mutter als Ermittlerin, deren Teenie-Tochter unter der Woche im Internat ist wegen der beruflichen Einbindung der Mutter (das störte einige Leserinnen, ich erwähne das nur deshalb). Für mich persönlich hätte gelangt, wenn die Lektüre „nur“ den Tod des Kindes vermittelt hätte; die Details hätte es nicht gebraucht, um darzustellen, mit was für teuflischen Gegenspielern es das ungleiche Ermittler-Team hier zu tun hat.

Mark Roderick, so das Pseudonym des deutschen Autors, kann definitiv spannend schreiben. Ich hatte das Buch in drei Abenden durch und wäre noch schneller gewesen, wenn ich nicht gelegentlich schlafen müsste…Die Kaufentscheidung wurde bei mir durch die Idee eines recht ungewöhnlichen „Ermittler“-Duos bewirkt: Das Verschwinden einer Familie, das Auftauchen einer Leiche wollen eine Interpol-Agentin und ein Profi-Killer aufklären, dieser Ansatz wurde auch glaubhaft umgesetzt. Dabei verhält sich der Profi-Killer eher wie ein Polizist, er sichert, durchsucht, befragt… - die Parallelen zur Vorbereitung eines Profikiller-Einsatzes und im Polizei-Einsatz sind eigentlich so offensichtlich (einmal die Intentionen ganz außen vor gelassen), dass es eigentlich verwundert, dass das noch kein anderer Autor aufgenommen hatte. Für mich ist diese Grundsituation wirklich das, was den Roman für mich trägt.

Allerdings gibt es für mich auch einige Mängel, erst mit dem zweiten Band wurde ich richtig „warm“ mit Autor und Geschichte (ich habe den zweiten Band nach dem ersten gelesen, ihn bewusst gekauft angesichts meiner Einwände - aber vorher rezensiert, weil ich ihn einfach um einiges besser, schlüssiger finde):
Einige Handlungsstränge wirken im Band 1 nicht stimmig oder werden nicht aufgelöst. So war ich nicht die einzige, der die Entwicklung des privaten Liebesglücks von Emilia etwas zu schnell, zu „süß“ war – ohne dass hier in Band 1 ein Cliffhanger aufgebaut würde, mit Band 2 wird klar, wozu es das gebraucht hat (also wollte wohl der Autor „schnell dahin“). Auch die Sache mit Ludwig Botts Fingern wird erst im zweiten Band aufgelöst (nicht, dass man das wirklich in Band 1 bräuchte – aber es wird halt deutlich hier erwähnt).
Da der Film „Pretty Woman“ recht bekannt ist, nehme ich den als Beispiel dafür, dass auch ziemlich oft NICHT aufgepasst wurde von einer Szene zur nächsten: so ist einer der bekannteren Anschlussfehler, die Szene mit Julia Roberts und Richard Gere auf einer Picknickdecke, sie zieht ihm die Schuhe aus. In der nächsten Szene liest er ihr etwas vor – und hat die Schuhe wieder an…. (soll wohl Filmminute 88 sein lt. Internetrecherche). Ungefähr in dieser Art sind mehrere Stellen im Buch: keine wirklich groben Fehler, eher Dinge, die man recht leicht hätte korrigiert haben können, spätestens im Lektoriat. So nimmt Avram das Smartphone von Emilia an sich und wirft es aus dem Fenster seines Autos. Später im Hotel hat sie es und schaut darauf Unterlagen durch, die vorher drauf waren (o.k., da gibt es so Backup-Tools via Cloud, über die man sich Unterlagen sichern kann und sie könnte ganz schnell ein neues gekauft haben – das ist auch alles nur in der Theorie so schön einfach und jemand mit Verstand speichert wohl keine Ermittlungsunterlagen in der Cloud…). Zum Beispiel hätte stattdessen Avram einfach das Phon in den Fußraum werfen und losfahren können und später findet man es im abgestellten Auto.
Diesmal also ein etwas schrägeres Fazit: Band 2 unbedingt kaufen. Und dann nach Wunsch eventuell Band 1 danach lesen. Das fände ich weniger „sperrig“ im Lesegenuss.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ruhige eindringliche Geschichte über Wege der Verlust-Verarbeitung

Bella mia
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https://www.youtube.com/watch?v=v48WRmli4QA - wie der Klappentext mitteilt, ist es dieses Volkslied, in dem von L’Aquila in den Abruzzen gesungen wird als „Bella Mia“. Das zerstörerische Erdbeben 2009 ...

https://www.youtube.com/watch?v=v48WRmli4QA - wie der Klappentext mitteilt, ist es dieses Volkslied, in dem von L’Aquila in den Abruzzen gesungen wird als „Bella Mia“. Das zerstörerische Erdbeben 2009 hatte ich nur noch schwach aus den damaligen Nachrichten in Erinnerung – was mir nicht präsent war: es hatte lange Zeit Vorbeben gegeben – und ebenso lange offizielle Beschwichtigungen. Häufig war beim Bau gepfuscht worden. Und danach wurde viel versprochen – und wenig gehalten.
http://www.spiegel.de/panorama/erdbeben-in-l-aquila-viel-geld-fuer-wenig-wiederaufbau-a-771336.html
https://de.wikipedia.org/wiki/L%E2%80%99Aquila


Die Ich-Erzählerin hat das Erdbeben überlebt, ihre Zwillingsschwester nicht, dafür deren Teenager-Sohn. Beider Häuser sind unbewohnbar und liegen jetzt in einer vom Militär bewachten Sperrzone, nicht viel wurde dort wieder hergestellt. Auch das Haus der Mutter der Zwillinge in einem Dorf in der Nähe wurde zerstört. Jetzt leben drei Generationen zusammen, der Heranwachsende Marco, die Tante Caterina und die Großmutter, in erdbebensicheren Wohnanlagen, schnell, aber schlampig errichtet für die vielen obdachlos gewordenen Menschen, Provisorien ohne sinnvolle Infrastruktur, defizitär in der Verkehrsanbindung wie für die menschlichen Beziehungen.
Auf dieser Ausgangssituation setzt Donatella di Pietrantonio ein:
Ihr Roman erzählt von der Situation in L’Aquila, ruft diese ins Gedächtnis zurück und klagt durchaus an, was es an Versäumnissen auf offizieller Seite gab und gibt – schließlich fragt man sich zwingend bei der Lektüre, warum das Provisorium der Dauerzustand geblieben ist.


Das ist es aber längst nicht:
Melancholisch schreibt die Autorin über den Schmerz der Überlebenden im Provisorium, über das Gefühl der Schuld, über das schlechte Gewissen der Überlebenden, über die Gedankenlosigkeit derer ohne Verluste geliebter Menschen, über die vielen Formen der Trauer, die Sprachlosigkeit, das Verharren in der Schuld, das Einander-Ausweichen, das Vermeiden. Die Erinnerung. Ich hatte in diesem Jahr mit Lot Vekemans „Brautkleid aus Warschau schon ein Buch, in dem die, die einander lieben, unfähig sind, miteinander zu reden. Aber während ich dort den Personen am liebsten zugerufen hätte, sie möchten doch ihre Probleme miteinander bereden, weiß ich in dieser Handlung hier, dass das nichts helfen würde. „Die wenigen Wörter, die wir wechseln, prallen an unsichtbaren Hindernissen ab und rollen verzerrt zurück.“ (S. 98). Einig ist sich die erzwungene Schicksalsgemeinschaft nur in der Ablehnung von Marcos von der Mutter geschiedenem Vater Roberto:
S. 101 „“Wenn er bei ihr geblieben wäre, wäre sie nicht zum Sterben nach L’Aquila zurückgekommen““, ist es ihr [der Großmutter] einmal bei der Blumenhändlerin vor dem Friedhof herausgerutscht, aber halblaut, als spräche sie zu sich selbst. Das werfen wir Roberto innerlich vor. Alle drei brauchen wir irgendwie einen Schuldigen an diesem unfassbaren Verlust.
Marco braucht auch einen Vater.“


Aber der Text schafft noch mehr: in Rückblicken wird das Erdbeben beschrieben wie auch die nachfolgende Zeit in der Notunterkunft:
„Im Camp waren wir Luxusgefangene; berühmte Köche kamen, um für unseren fehlenden Appetit zu kochen, und Politiker besuchten uns in sportlicher, den Umständen angemessener Kleidung und mit Gesichtern, die Solidarität ausstrahlen sollten. Die Fernsehkameras filmten sie vor dem blauen Hintergrund der Zelte, während sie versprachen, sich für den baldigen Wiederaufbau des gesamten, vom Erdbeben betroffenen Gebiets einzusetzen, und den Mut und die Würde der so hart geprüften Bevölkerung lobten. Ich ging hinaus und lief herum oder legte mich auf mein Feldbett, um sie nicht zu hören. Abends Aufführungen und Konzerte, alles gratis. Wir hatten keine große Lust darauf, der größte Teil des Publikums kam von außerhalb. Dank des Erdbebens kamen Persönlichkeiten in unsere Breiten, denen es im Traum nicht eingefallen wäre, in L’Aquila aufzutreten, doch niemand übernachtete anschließend hier. Sie fuhren zurück nach Rom, wie sie vor den ständigen Erschütterungen und Unannehmlichkeiten sicher waren.“ (S. 114)


Es steht leider nicht im Buch, aber das italienische Original erschien bereits am 15. Oktober 2014; wann man den nötigen Vorlauf mit bedenkt, also sicherlich vor den großen Flüchtlingsströme nach Europa. Ungeachtet dessen schafften es gerade die Schilderungen dieses Buches, die Notgemeinschaft, den plötzlichen Verlust des bisherigen Lebens besser für mich begreifbar zu machen als etliche dedizierte Romane zum Thema, aktuelle Situation der Flüchtlinge oder andere Konflikte, schlicht, weil für mich als deutlich nach dem zweiten Weltkrieg geborene Deutsche Kriege oder Hungersnöte (zum Glück!) einfach viel weniger vorstellbar sind als die beschriebene Situation mit einer Naturkatastrophe als Auslöser – auch in Deutschland stürzte der Gebäudekomplex des Stadtarchivs Köln samt zweier benachbarter Wohngebäude ein, bei einem Hangrutsch in Sachsen-Anhalt wurden drei Bewohner mitgerissen. Vielleicht verfolge ich damit kein politisch korrekter Ansatz, aber authentisch.


Aber selbst hier findet noch eine Steigerung statt in der Analyse der inneren Konflikte der Hauptpersonen:
„Das Erdbeben hätte es nicht gebraucht; schon vorher hatte jeder seinen eigenen Schmerz.“ (10). Faszinierend, wie die Überlebende Caterina die Erstgeborene Olivia als unerreichbares Ideal empfindet, geliebt, bewundert, beneidet. Sich selbst sieht sie lange als die zur kurz gekommene. „Später, als die Gesichter ausgeprägter wurden, ließen winzige Details eine von uns heiter und gewinnend erscheinen, und mich gewöhnlicher.“ (S. 26) Im Verlauf der Geschichte erkennt sie, dass sie als die jüngere stets aller Fürsorge auf sich konzentrierte.
Die Heilung beginnt erst, als das Gefühl von Schuld schwindet und das Leben wieder zugelassen wird.


Bis hierher hatte ich dieses Buch geradezu geliebt. Mit dem Ende hingegen bin ich nicht ganz glücklich, es kommt mir etwas zu zügig, etwas zu sehr an zu vielen Fronten, etwas zu glückselig. Genau diese Tatsache hat jedoch dazu geführt, dass ich mich wesentlich länger mit dem Buch beschäftigt habe („darf man sich so schnell wieder dem Leben zuwenden?“) – was sollte Literatur mehr. Insgesamt ein starker Leseeindruck mit sehr facettenreichen Themen. Ich habe mir infolge auch den Erstlingsroman von Donatella di Pietrantonio „Meine Mutter ist ein Fluss“ gekauft.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Wunderhübsches Erwachsenen-Malbuch das gaaanz heftig entspannt

Mein Ausmalbuch für schlaflose Nächte
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Ich war skeptisch, weil ich bei Hypes immer eher skeptisch bin - aber das macht wirklich Spaß. Ich habe als Kind eher skizziert als gemalt und für die Ausmalbücher hatte ich oft nicht sehr lange Geduld. ...

Ich war skeptisch, weil ich bei Hypes immer eher skeptisch bin - aber das macht wirklich Spaß. Ich habe als Kind eher skizziert als gemalt und für die Ausmalbücher hatte ich oft nicht sehr lange Geduld. Dieses Malbuch aber fand ich wirklich sehr beruhigend, weil der Geist wirklich sehr zur Ruhe kommt.

Ich habe bislang herumprobiert mit Finelinern, Bleistiften und Wachsmalstiften, es ging mit allem. Auch die Fineliner scheinen nicht durch auf die Rückseiten der Blätter, die wirklich von guter Stärke und Qualität sind. Und man sollte sich wirklich Gedanken machen und recht früh die Farben zusammenlegen, die man so grob nutzen möchte - man merkt allerdings beim Malen, ob es zu viel wird an Farbvielfalt, was passt - ganz planbar ist das nicht für mich.

Keine Ahnung, wie lange das anhält, aber - ich mag's!

Man sollte aufpassen, wie man die Stifte etc. hält - da man aufgrund des Detailreichtums ganz schön lange benötigt für ein Motiv, kann es sonst leicht zu Verkrampfungen, Schmerzen im Nacken, Sehnenscheidenentzündung etc. führen - irgendwie war das auch anders als Kind...

Veröffentlicht am 15.09.2016

Sprachgewaltig und überrollend, teils fast überfordernd

Der Ort, an dem die Reise endet
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„Ein kurzes Ratata.
Odidis anderes Knie gibt nach.
Er bricht zusammen.
Atmet gurgelnd aus.
Es heißt.
Dass, wenn ein Mensch stirbt, er sein gesamtes Leben in einer raumlosen Zeit, einem zeitlosen Raum ...

„Ein kurzes Ratata.
Odidis anderes Knie gibt nach.
Er bricht zusammen.
Atmet gurgelnd aus.
Es heißt.
Dass, wenn ein Mensch stirbt, er sein gesamtes Leben in einer raumlosen Zeit, einem zeitlosen Raum an sich vorbeiziehen sieht und alles erneut durchleben kann, was er je gefühlt hat, nur in rasender Geschwindigkeit und in eine sonnengleiches Licht getaucht.“ (S. 16)

Die mir vorher völlig unbekannte Yvonne Adhiambo Owuor, die bisher „nur“ Kurzgeschichten veröffentlich hatte, empfinde ich sprachlich wirklich geradezu als genial, in ihrem Debütroman finde ich einen Gebrauch von Sätzen und selbst Zeilenumbrüchen, wie ich es vorher so noch nie gelesen habe, sie kann tatsächlich sogar Zeit so darstellen!

Der Roman ist ein Parforceritt durch die Geschichte Kenias, aber auch der britischen Kolonialherren dort – ich benötigte zwischendurch Rückgriff auf die Wikipedia-Artikel zu Kenia und zur Geschichte Kenias (besonders Volksgruppen, Korruptions-Skandale, die Zeit ab dem Zweiten Weltkrieg – erschreckend, wie wenig ich wusste).

Moses Ebewesit Odidi „Didi“ Oganda wird zu Beginn der Erzählung verfolgt und dann erschossen – seine Schwester Arabel Ajany „Jany“ Oganda kehrt (nicht nur) deshalb aus Brasilien zurück in ihre Heimat Kenia, zu den Eltern Aggrey Nyipir Oganda (Baba) und Akai Lokorijom „Akai-ma“. Keine, wirklich keine der vielen weiteren Personen im Buch ist nur bloße Randfigur, die meisten haben letztendlich mehrere Rollen, oft mehrere Namen.

Owuor schafft es, die Geschichte Kenias anhand ihrer Personen aufzuspannen, und dabei noch voller Sprachzauber die jeweilige Atmosphäre zu vermitteln: sie berichtet über die Zeit des kenianischen Freiheitskampfes gegen die britischen Kolonialherren, mit Verhaftungen, Folter, Massenhinrichtungen, und kooperierender „Tribal Police“ aus Kenianern. Sie erzählt über die Beteiligung afrikanischer Soldaten (King’s African Rifles) in den Kriegen der Briten, über alte Seilschaften aus alten Zeiten. Sie vermittelt den Enthusiasmus der Unabhängigkeit, die Hoffnung aus den Bildungsinitiativen des Mboya-Kennedy-Airlifts – und die Ernüchterung durch Korruption, Uneinigkeit der verschiedenen Volksgruppen und wirtschaftliche Probleme.
„Mboya? Argwings? J.M.? Pio? Ouko? Ward? Goldenberg? Anglo-Leasing? Dieser Artur-Abschaum?“ (S. 355) – das sind die Probleme. Die Lösung? „Meine Amnesie, deine Amnestie – oder umgekehrt.“ (S. 358), üblicherweise mit Gegenleistung. So wurden „Kenias offizielle Sprachen: Englisch, Swahili und Schweigen.“ (S. 372), so hüten alle Protagonisten ihre Geheimnisse, verharren in dem Schmerz über das, worüber sie nicht reden.

Das alles ist nicht eine Sekunde langweilige trockene Geschichte, sondern mitreißend dargebracht. Ich wusste nie, ob ich gerade näher an der Hoffnung der Protagonisten war, die trotz allem immer weitermachten, oder an ihrer Hoffnungslosigkeit – es war teilweise einfach „sehr viel“ von diesem mir sehr fremden Land. Die Handlungen sind oft so weit außerhalb meiner Welt, dass ich sie häufiger nicht nachvollziehen kann. Dann wiederum folgen Szenen von Zartheit, Liebe, Verzweiflung, Loyalität, die universell sind. Täter wird Opfer wird Täter. Die Handlung springt sehr stark, zwischen mehreren Personen, die dazu noch an verschiedenen Orten beschrieben werden, und mit häufigen zeitlichen Rückgriffen, darüber hinaus werden häufig muttersprachliche Begriffe, Namen, Sätze, Textfetzen eingestreut, zwar jeweils übersetzt, aber doch als „Stolperstellen“ für das deutsche Lesen. Personen tauchen viele Seiten später wieder auf, Andeutungen werden klar, Handlungsstränge werden meisterhaft verwoben und weit verstreut weitergeführt. Nein, kein einfaches Buch – kein einfaches Thema. Ein Buch, bei dem es sich lohnt, dabei zu bleiben, auch wenn das zu Anfang des letzten Drittels schon anstrengend war, bis zur Erkenntnis: Auch der Tod, auch ein Ende kann ein Anfang sein.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Sprachlosigkeit trotz - oder angesichts - der Sehnsucht nach Liebe

Ein Brautkleid aus Warschau
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Lot Vekemans hat bislang Dramen geschrieben, „Ein Brautkleid aus Warschau“ ist ihr Prosadebüt – der Roman ist angenehm einfach zu lesen, es gibt keine Kapriolen in Sprache oder Erzählstil, auch die Handlung ...

Lot Vekemans hat bislang Dramen geschrieben, „Ein Brautkleid aus Warschau“ ist ihr Prosadebüt – der Roman ist angenehm einfach zu lesen, es gibt keine Kapriolen in Sprache oder Erzählstil, auch die Handlung kann der Leser leicht nachvollziehen - ein wohltuend unprätentiöser Stil.


Die Geschichte ist in der Ich-Perspektive geschrieben, in drei Kapiteln – jedes Kapitel aus der Sicht eines anderen der Protagonisten:


das erste Kapitel gehört der Stimme der jungen Polin Marlena, die von ihrer ersten großen Liebe schwanger wird, vom jüdischen US-Amerikaner Natan. Dieser ist zu Besuch in Polen auf der Suche nach Spuren seiner Vorfahren und Gast im Hause von Szymon, einem Cousin seines Vaters, als er und Marlena einander zufällig begegnen. Sie treffen sich fortan heimlich in Warschau. „Für den Bruchteil einer Sekunde erwog ich, umzukehren. Die Treppe hinunter zum Bahnsteig, zurück in den Zug, zurück nach Hause, zurück zu allem, was ich schon seit Jahren verlassen wollte (S. 13)“.
Als Vorwand gegenüber ihrer Mutter dient Marlena die titelgebende Suche nach einem Brautkleid aus Warschau für eine Freundin. Natan kehrt kurzfristig in die USA zurück, ohne zu wissen, dass Marlena schwanger von ihm ist.
Marlena kann nicht bei ihrer konservativen Mutter bleiben. „Bei uns im Hause bestimmte meine Mutter alles. …. Ich hatte eine Verfehlung begangen, und sie würde die Verfehlung wiedergutmachen. Nicht meinetwegen, sondern ihretwegen, wegen ihres Anstandes und natürlich wegen ihres hart erarbeiteten Platzes im Jenseits (S. 30)“.

Sie weiß nicht, wie sie Natan erreichen soll und landet stattdessen über eine Heiratsagentur bei einem Ehemann in den Niederlanden: „Ich sah traurige Augen. Augen, die vom Leben betrogen worden waren. Augen, die ich von meinem Vater kannte. Und meinem Großvater. …. Die Augen gehörten Andries.“ S. 41 Ihm gehört das zweite Kapitel.
Marlena erzählt Andries von Natan und dem Baby.
„Wenn Du weg willst, kannst du gehen. Aber wenn du noch da bist, wenn ich wiederkomme, ist das Kind von mir. Von mir und keinem anderen (S. 51)“.
Er liebt Marlenas Sohn Stan als sein eigenes Kind. Das Familienleben ist harmonisch, bis Marlena auf Besuch mit Stan nach Polen fährt. Man erfährt, dass Andries das Leben lebt, das ihm erst von seinem von ihm als grausam empfundenen Vater, dann von seiner älteren Schwester bestimmt wurde. Der letzte Satz des Vaters war „Du schuldest mir noch etwas (S. 94)“, einen Enkel. In Stan erfüllt Andries diese Schuld sowohl als auch widersetzt er sich, wie auch in seinem Verhalten in beiden Ehen.


Und dann gibt es da Szymon, der das dritte Kapitel erzählt – er ist das Bindeglied: Jude, ohne sich als im Glauben verwurzelt zu betrachten, polnischstämmig, in Polen lebend, in den Niederlanden geboren, ein Onkel Natans.


Die Motive der Personen und die ruhige fließende Erzählung sind es, die mich an dieses Buch gefesselt hielten:
Nein, rede doch über deine wahren Beweggründe, sage, was du willst – möchte man fortwährend den Protagonisten zurufen: Vekemans Personen unterlassen – sie handeln nicht. Sie lassen geschehen – sie entscheiden nicht. Sie gehen nicht auf etwas zu, eher treiben sie von etwas weg. Sie lassen andere für sich entscheiden. Bis, ja, bis Andries sich in sein Auto setzt.


Das Buch ist eine Liebesgeschichte, allerdings eine, die in weiten Teilen nicht einmal nach Erfüllung zu suchen scheint. Die Hauptpersonen erwarten das Versagen, das Sich-Etwas-Versagen. Themen sind das Schweigen und die Sprachlosigkeit, das Hinterhertrauern und Suchen nach dem, was man nicht hat, das Verhältnis zur Heimat, Entscheidungen und ihre Konsequenzen, speziell auch die Entscheidungen von anderen über das eigene Leben. Lot Vekemans schafft es, Fragen gleichzeitig offen zu lassen und das Gefühl zu geben, für ihre Personen seien sie gerade hinreichend beantwortet (auch wenn sich der Leser nicht ganz sicher ist, wie). Sie wirkt versöhnend und beruhigend trotz eines durchgehend melancholischen Tons. Ich habe den Roman in einem Abend geradezu verschlungen, fühlte mich zwischendurch traurig ob der Situationen, in denen die Protagonisten trotz meines Kopfschüttelns landeten, beendete ihn verwundert versöhnt, aber mit dem seltsamen Gefühl, mich zu fragen, was da gerade passiert sei, wo denn das Buch hin sei. Ja, ich möchte unbedingt bald wissen, was denn Lot Vekemans da an weiterem zu liefern in der Lage sein wird.