Cover-Bild Bella mia
18,95
inkl. MwSt
  • Verlag: Kunstmann, A
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: zeitgenössisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 226
  • Ersterscheinung: 17.02.2016
  • ISBN: 9783956140914
Donatella Di Pietrantonio

Bella mia

Maja Pflug (Übersetzer)

Als 'Bella mia' besingt ein Volkslied die Stadt L’Aquila in den Abruzzen – 2009 legt ein Erdbeben sie in Schutt und Asche, tötet Menschen, reißt Familien auseinander.
In einer der Behelfsunterkünfte, die bald die einzige Normalität darstellen, versuchen drei Menschen, den Weg zurück ins Leben zu finden: die Erzählerin Caterina, deren Zwillingsschwester Olivia umkam, als sie noch kurz in das einstürzende Haus zurücklief, Marco, Olivias heranwachsender Sohn, der nach dem Verlust niemanden mehr an sich heranlässt, und die alte Mutter, die sich um alle kümmern will und doch selbst am meisten Hilfe braucht.
Wie soll man einem schweigsamen, störrischen Jugendlichen plötzlich Ersatzmutter sein, wie den eigenen Gefühlen wieder trauen und die Sicherheit finden, sich auf Neues einzulassen? Behutsam, über kleine Gesten und auf ganz unterschiedlichen Wegen finden die drei allmählich aneinander Halt und den Mut, der Willkür und Vernachlässigung durch die Behörden zu trotzen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ein eindringlicher Roman über Verlust und verschüttete Gefühle, aber auch über die Kraft, sich neu zu erfinden.

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Veröffentlicht am 15.09.2016

Bella Mia

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Ein Erdbeben hat ihnen 2009 alles genommen, hat alles Hab und Gut zerstört und ein Familienmitglied getötet. Die Mutter hat ihre Tochter, die Schwester ihre Zwillingsschwester und der Neffe seine Mutter ...

Ein Erdbeben hat ihnen 2009 alles genommen, hat alles Hab und Gut zerstört und ein Familienmitglied getötet. Die Mutter hat ihre Tochter, die Schwester ihre Zwillingsschwester und der Neffe seine Mutter verloren. Das Wohnviertel ist durch das Militär abgesichert und das Betreten der Zone strengstens verboten. Doch die Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach der damals vorherrschenden heilen Welt und den vertrauten Gebrauchsgegenständen bleibt, so dass man sich heimlich in diese zerstörte Zone schleicht und in Erinnerungen schwelgt, alte Klamotten, Töpfe, Decken und Möbel begutachtet und sich fragt, wann und ob man jemals wieder dahin zurückkehren wird. Wann kehrt wieder Normalität ein? Wann wird man der Trauer entfliehen können? Alles ist in Staub und einen grauen Umhang gehüllt. Die Menschen leben in provisorischen Wohnblöcken, die kurz nach dem Erdbeben errichtet worden sind, doch schon anfangen zu bröckeln. Die Vergänglichkeit ist überall sicht- und greifbar.

Caterina lebt mit ihrer Mutter und ihrem Neffen Marco, dem Sohn ihrer Zwillingsschwester Olivia, in dieser Wohnsiedlung und beschäftigt sich tagein tagaus mit den Verlusten, die ihre Familie, aber auch die Menschen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, erleiden mussten. Sie beobachten die gebrochenen Gestalten, die keinen Sinn mehr in ihrem Leben sehen, sie versucht ihren Neffen zu erziehen und hat jeden Tag ihre Schwester, die sie über alles geliebt hat, vor Augen. Jedes Mal ist es ein Stich ins Herz, wenn sie an Olivia denkt und merkt wie sehr ihre Schwester fehlt.

Ich mag den klaren Schreibstil der Autorin und die Familiengeschichte bzw. das Drama hat mich berührt und zum Nachdenken angeregt. Dem Leser wird vor Augen geführt wie schnell alles verloren und zerstört sein kann. Da fragt man sich doch, was einem im Leben wirklich wichtig ist?! Da wird einem klar, auf wie viele (materielle) Dinge man tatsächlich verzichten kann, denn diese Dinge geben uns nicht viel zurück. Es sind die Menschen, die uns im Leben begleiten, auf die wir nicht verzichten können. Die helfende Hand, die uns gereicht wird, die wärmende Umarmung, die tröstenden Worte die uns in schweren Stunden aufmuntern. Familie, Freunde, Bekannte und Nachbarn machen unser Leben lebenswert. Dies wird auch in dem Buch deutlich, indem geschildert wird wie die drei Protagonisten mit ihrer Trauer umgehen und sich gegenseitig bewusst, aber auch teils unbewusst, zur Seite stehen und unterstützen.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ruhige eindringliche Geschichte über Wege der Verlust-Verarbeitung

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https://www.youtube.com/watch?v=v48WRmli4QA - wie der Klappentext mitteilt, ist es dieses Volkslied, in dem von L’Aquila in den Abruzzen gesungen wird als „Bella Mia“. Das zerstörerische Erdbeben 2009 ...

https://www.youtube.com/watch?v=v48WRmli4QA - wie der Klappentext mitteilt, ist es dieses Volkslied, in dem von L’Aquila in den Abruzzen gesungen wird als „Bella Mia“. Das zerstörerische Erdbeben 2009 hatte ich nur noch schwach aus den damaligen Nachrichten in Erinnerung – was mir nicht präsent war: es hatte lange Zeit Vorbeben gegeben – und ebenso lange offizielle Beschwichtigungen. Häufig war beim Bau gepfuscht worden. Und danach wurde viel versprochen – und wenig gehalten.
http://www.spiegel.de/panorama/erdbeben-in-l-aquila-viel-geld-fuer-wenig-wiederaufbau-a-771336.html
https://de.wikipedia.org/wiki/L%E2%80%99Aquila


Die Ich-Erzählerin hat das Erdbeben überlebt, ihre Zwillingsschwester nicht, dafür deren Teenager-Sohn. Beider Häuser sind unbewohnbar und liegen jetzt in einer vom Militär bewachten Sperrzone, nicht viel wurde dort wieder hergestellt. Auch das Haus der Mutter der Zwillinge in einem Dorf in der Nähe wurde zerstört. Jetzt leben drei Generationen zusammen, der Heranwachsende Marco, die Tante Caterina und die Großmutter, in erdbebensicheren Wohnanlagen, schnell, aber schlampig errichtet für die vielen obdachlos gewordenen Menschen, Provisorien ohne sinnvolle Infrastruktur, defizitär in der Verkehrsanbindung wie für die menschlichen Beziehungen.
Auf dieser Ausgangssituation setzt Donatella di Pietrantonio ein:
Ihr Roman erzählt von der Situation in L’Aquila, ruft diese ins Gedächtnis zurück und klagt durchaus an, was es an Versäumnissen auf offizieller Seite gab und gibt – schließlich fragt man sich zwingend bei der Lektüre, warum das Provisorium der Dauerzustand geblieben ist.


Das ist es aber längst nicht:
Melancholisch schreibt die Autorin über den Schmerz der Überlebenden im Provisorium, über das Gefühl der Schuld, über das schlechte Gewissen der Überlebenden, über die Gedankenlosigkeit derer ohne Verluste geliebter Menschen, über die vielen Formen der Trauer, die Sprachlosigkeit, das Verharren in der Schuld, das Einander-Ausweichen, das Vermeiden. Die Erinnerung. Ich hatte in diesem Jahr mit Lot Vekemans „Brautkleid aus Warschau schon ein Buch, in dem die, die einander lieben, unfähig sind, miteinander zu reden. Aber während ich dort den Personen am liebsten zugerufen hätte, sie möchten doch ihre Probleme miteinander bereden, weiß ich in dieser Handlung hier, dass das nichts helfen würde. „Die wenigen Wörter, die wir wechseln, prallen an unsichtbaren Hindernissen ab und rollen verzerrt zurück.“ (S. 98). Einig ist sich die erzwungene Schicksalsgemeinschaft nur in der Ablehnung von Marcos von der Mutter geschiedenem Vater Roberto:
S. 101 „“Wenn er bei ihr geblieben wäre, wäre sie nicht zum Sterben nach L’Aquila zurückgekommen““, ist es ihr [der Großmutter] einmal bei der Blumenhändlerin vor dem Friedhof herausgerutscht, aber halblaut, als spräche sie zu sich selbst. Das werfen wir Roberto innerlich vor. Alle drei brauchen wir irgendwie einen Schuldigen an diesem unfassbaren Verlust.
Marco braucht auch einen Vater.“


Aber der Text schafft noch mehr: in Rückblicken wird das Erdbeben beschrieben wie auch die nachfolgende Zeit in der Notunterkunft:
„Im Camp waren wir Luxusgefangene; berühmte Köche kamen, um für unseren fehlenden Appetit zu kochen, und Politiker besuchten uns in sportlicher, den Umständen angemessener Kleidung und mit Gesichtern, die Solidarität ausstrahlen sollten. Die Fernsehkameras filmten sie vor dem blauen Hintergrund der Zelte, während sie versprachen, sich für den baldigen Wiederaufbau des gesamten, vom Erdbeben betroffenen Gebiets einzusetzen, und den Mut und die Würde der so hart geprüften Bevölkerung lobten. Ich ging hinaus und lief herum oder legte mich auf mein Feldbett, um sie nicht zu hören. Abends Aufführungen und Konzerte, alles gratis. Wir hatten keine große Lust darauf, der größte Teil des Publikums kam von außerhalb. Dank des Erdbebens kamen Persönlichkeiten in unsere Breiten, denen es im Traum nicht eingefallen wäre, in L’Aquila aufzutreten, doch niemand übernachtete anschließend hier. Sie fuhren zurück nach Rom, wie sie vor den ständigen Erschütterungen und Unannehmlichkeiten sicher waren.“ (S. 114)


Es steht leider nicht im Buch, aber das italienische Original erschien bereits am 15. Oktober 2014; wann man den nötigen Vorlauf mit bedenkt, also sicherlich vor den großen Flüchtlingsströme nach Europa. Ungeachtet dessen schafften es gerade die Schilderungen dieses Buches, die Notgemeinschaft, den plötzlichen Verlust des bisherigen Lebens besser für mich begreifbar zu machen als etliche dedizierte Romane zum Thema, aktuelle Situation der Flüchtlinge oder andere Konflikte, schlicht, weil für mich als deutlich nach dem zweiten Weltkrieg geborene Deutsche Kriege oder Hungersnöte (zum Glück!) einfach viel weniger vorstellbar sind als die beschriebene Situation mit einer Naturkatastrophe als Auslöser – auch in Deutschland stürzte der Gebäudekomplex des Stadtarchivs Köln samt zweier benachbarter Wohngebäude ein, bei einem Hangrutsch in Sachsen-Anhalt wurden drei Bewohner mitgerissen. Vielleicht verfolge ich damit kein politisch korrekter Ansatz, aber authentisch.


Aber selbst hier findet noch eine Steigerung statt in der Analyse der inneren Konflikte der Hauptpersonen:
„Das Erdbeben hätte es nicht gebraucht; schon vorher hatte jeder seinen eigenen Schmerz.“ (10). Faszinierend, wie die Überlebende Caterina die Erstgeborene Olivia als unerreichbares Ideal empfindet, geliebt, bewundert, beneidet. Sich selbst sieht sie lange als die zur kurz gekommene. „Später, als die Gesichter ausgeprägter wurden, ließen winzige Details eine von uns heiter und gewinnend erscheinen, und mich gewöhnlicher.“ (S. 26) Im Verlauf der Geschichte erkennt sie, dass sie als die jüngere stets aller Fürsorge auf sich konzentrierte.
Die Heilung beginnt erst, als das Gefühl von Schuld schwindet und das Leben wieder zugelassen wird.


Bis hierher hatte ich dieses Buch geradezu geliebt. Mit dem Ende hingegen bin ich nicht ganz glücklich, es kommt mir etwas zu zügig, etwas zu sehr an zu vielen Fronten, etwas zu glückselig. Genau diese Tatsache hat jedoch dazu geführt, dass ich mich wesentlich länger mit dem Buch beschäftigt habe („darf man sich so schnell wieder dem Leben zuwenden?“) – was sollte Literatur mehr. Insgesamt ein starker Leseeindruck mit sehr facettenreichen Themen. Ich habe mir infolge auch den Erstlingsroman von Donatella di Pietrantonio „Meine Mutter ist ein Fluss“ gekauft.