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Veröffentlicht am 02.05.2019

Arrangement mit dem Vergessen

Deutsches Haus
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In Frankfurt am Main finden um 1963 von den Menschen zunächst wenig beachtet die Vorbereitungen für den ersten Auschwitz-Prozess statt. Auch für Eva Bruhns, die in einer Agentur als Dolmetscherin für Polnisch ...

In Frankfurt am Main finden um 1963 von den Menschen zunächst wenig beachtet die Vorbereitungen für den ersten Auschwitz-Prozess statt. Auch für Eva Bruhns, die in einer Agentur als Dolmetscherin für Polnisch angestellt ist, hat dies keine Bedeutung, bis sie überraschend gebeten wird, bei der Staatsanwaltschaft die Aussage eines Mannes zu übersetzen. Während der eindringlichen Schilderung des Zeugen erfährt sie Unglaubliches, ja Unfassbares über Ereignisse im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz.

Hat es dieses absurde und monströse Geschehen, dass Gefangene in dem Lager vergast wurden, tatsächlich gegeben? Durch die Beschreibungen sensibilisiert, entwickelt Eva eine besondere Nähe, so dass sie sich als Ersatz für den ausgefallenen Übersetzer im Prozess zur Verfügung stellt.

Die unbedarfte junge Frau stammt aus gutbürgerlichem Haus und lebt mit ihrer älteren Schwester Annegret, einer auf der Neugeborenenstation tätigen Krankenschwester, und ihrem jüngeren Bruder Stefan noch bei ihren Eltern. Ludwig und Edith Bruhns betreiben das beliebte Lokal „Deutsches“ Haus“, in dem sie gutbürgerliche Küche auf den Tisch bringen. Der Vater kocht mit Leidenschaft, die Mutter bedient die Gäste.

Als ihre Eltern von Evas Vorhaben erfahren, reagieren sie mit Ablehnung. Von ihrer Mutter Edith bekommt Eva zu hören: „Lass die Vergangenheit Vergangenheit sein, Eva. Das ist das Beste, glaub mir." (Seite 67) Für ihre Schwester ist unbegreiflich, auf was sie sich da einlassen will. Der Krieg liegt doch in weiter Ferne. Und so schlimm es auch gewesen sei, über das damalige Geschehen sei am besten der Mantel des Schweigens gezogen.

Selbst ihr Verlobter Jürgen, dessen Vater einen erfolgreichen Versandhandel betreibt, ist vehement gegen Evas Vorhaben. Obwohl gerade auch Jürgens Vater als Kommunist von den Nazis verfolgt und eingekerkert wurde, vermeidet Jürgen den Rückblick in die Vergangenheit. Außerdem hat nach seiner Ansicht Eva als seine zukünftige Frau seinen Wünschen zu gehorchen, so dass er sie vor die Wahl stellt, entweder am Prozess teilzunehmen, oder die Beziehung zu beenden.

Wenngleich Eva Gefahr läuft, die gute Partie, die sie mit Jürgen gemacht hat, zu verlieren, und sie sich nicht für willensstark und selbstsicher hält, regt sich in ihr ungeahnter Widerstand, sich dem gängigen Rollenbild von der gehorsamen (Ehe)Frau nicht zu fügen.

Und so beeinflusst der Verlauf des Verfahrens nicht nur Eva und ihre Sicht auf das Leben. Während die Aussagen der Opfer und das damit verbundene Leid sich in Eva Kopf einbrennen, empört sie die augenfällige Uneinsichtigkeit, ja maßlose Überheblichkeit die Angeklagten, keinerlei Schuld zu tragen.

Infolge des Prozesses verschlechtert sich nicht nur die Beziehung zu Jürgen, sondern auch ihre Eltern reagieren immer noch mit Ignoranz und Unverständnis. Eva kommt der ungeheuerliche Verdacht, dass sie etwas vor ihr verbergen. Und sie entdeckt, dass sich in ihrer eigenen Familie Abgründe auftun...


Mit „Deutsches Haus“ hat die Drehbuchautorin Annette Hess ihren ersten Roman geschrieben, mit dem sie einen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit leistet.

Im Grundgerüst ist ihre Geschichte gut erzählt und wirkt in ihrem dramaturgischen und mit Wendungen versehenen Gesamtbild filmisch prägnant in Szene gesetzt. Besonders die Darstellung der Welt im Kleinen, des Alltags einer einfachen bürgerlichen Familie und die Beschreibung des damaligen Frauenbildes sowie des Loslösens aus einer vorgezeichneten Rolle gelingen der Autorin. Ebenso belegt die Schilderung der Ereignisse im Gerichtssaal des ersten Auschwitz-Prozesses eine aufwändige Recherche und erzeugt beim Lesen einen nachhaltigen Klang. Dabei gibt es Schicksale, die einem nahe gehen, beispielsweise das des jüdischen Ungarn Otto Cohn, der als Zeuge vor Gericht aussagt. Auch die Begegnungen in Auschwitz sind voller Kraft und Berührung.

Leider erschließt sich der Hintergrund des von Annette Hess gewählten Handlungsstrangs bezüglich Evas Schwester Annegret nicht in Gänze. Zudem wird der Lesefluss durch einige unbeholfene Unebenheiten in sprachlichen Ausarbeitung gehemmt.

Während Eva Bruhns mit einer glaubwürdigen Charakterisierung die Lesersympathie gewinnt, entwickeln sich bei anderen Protagonisten zum Teil gemischte, zweifelnde Empfindungen. Besonders David, der Rechtsreferendar, der unter einer eingebildeten Opferrolle leidet, hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Daneben ist Jürgen, Evas kleingeistiger Verlobter, ebenfalls nicht wirklich greifbar, und seine Intention bleibt blass.

Bedeutend hingegen ist die Auseinandersetzung der Autorin mit der zwanzig Jahre nach Beendigung des Krieges weiterhin vorhandenen Einstellung der Deutschen, sich nicht mehr mit der eigenen Vergangenheit beschäftigen zu wollen, das Geschehene zu verdrängen und damit ihre Kinder im Ungewissen zu lassen. Vor allem die Beschäftigung mit der Frage, ob die Behauptung, keine Wahl gehabt zu haben, nicht einfach nur Schönfärberei des eigenen Gewissens gewesen ist, ist nach so langer Zeit immer noch wichtig...

Veröffentlicht am 22.04.2019

Liebe nicht erlaubt

Liebe nicht erlaubt
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Charlotte, die im Unternehmen ihres Vaters beschäftigt ist, soll mit einer entsprechenden Crew eine große Yacht von Triest nach Zypern überführen. Es ist das Verlobungsgeschenk für einen der Colfer-Brüder. ...

Charlotte, die im Unternehmen ihres Vaters beschäftigt ist, soll mit einer entsprechenden Crew eine große Yacht von Triest nach Zypern überführen. Es ist das Verlobungsgeschenk für einen der Colfer-Brüder. Charly hat keine angenehmen Erinnerungen an Dorian und Devin, sondern spürt nur pure Abscheu. Denn bereits als Kind war sie den Hänseleien und bösartigen Streichen der beiden ausgesetzt.

Tatsächlich wird Dorian seinem Ruf als Fiesling auf jeden Fall gerecht. Devon jedoch entpuppt sich wider Erwarten nicht als der Mann, den Charly erwartet hat. Vielmehr wirft seine anfänglich Reserviertheit sie total aus der Bahn, so dass sie hinter seine Fassade sehen will. Sein melancholischer Blick berührt ihr Herz. Devin scheint ernsthaft an ihr interessiert und nicht nur daran, sie als Lustobjekt zu betrachten, wie es Dorian mit jeder Frau, die in seine Reichweite gelangt, tut. Devin ist nicht nur behutsam und zurückhaltend, sondern auch energisch und zielorientiert, und Charly kann sich seinem Charme nicht entziehen. Er verspricht ihr nichts, und Charly ist bewusst, dass eine Beziehung mit Devin nicht von Dauer sein wird. Da sie aber längst Feuer gefangen hat, beginnt sie eine Affäre mit ihm und versinkt bald in einem Strudel ihrer Sehnsucht. Sie vermutet, dass das Ende der Reise schmerzhaft ist, und ahnt nicht, wie sehr sie verletzt wird...


„Liebe nicht erlaubt“ mutet zunächst wie eine klassische Liebesgeschichte an, in der die Liebe – wie es der Titel bereits aussagt – nicht erlaubt ist. Doch Manuela Fritz gestattet sich, der aus Sicht von Charly und Devin erzählten glaubhaften Geschichte neben leichten und frischen Szenen zudem einen ernsten Hintergrund mit durchaus traurigen Momenten zu geben.

Die Autorin lässt ihre Figuren vor allem auf beschränktem Raum der Yacht agieren und ihre Gefühle entwickeln. Im Verlauf der Ereignisse bindet Manuela Fritz ebenso die Umgebung mit ein und punktet hier mit Lokalkolorit.

In der Handlung gibt es viele Andeutungen, doch wenn es um den Akt als solches geht, blendet Manuela Fritz das Geschehen aus. Damit macht sie deutlich, dass nicht die Erotik im Vordergrund steht, sondern die Emotionen ihrer Protagonisten. Vielleicht hätte sie Charly und Devin zumindest eine Szene gönnen sollen...

An ihrer Figurenführung gibt es bis auf kleine Abstriche nichts zu bemängeln. Mit Charlotte und Devon hat sie sympathische und ansprechende Menschen kreiert, die sich durch eine lebendige Empfindungswelt auszeichnen und neben ihren Stärken auch ein paar Schwächen besitzen.

Charly verlässt nicht gern die Wohlfühlzone ihres Schreibtisches und steht im Mittelpunkt. Sie ist geschickt, ein Organisationstalent und behält den Überblick. Der direkte Umgang mit Kunden liegt ihr nicht. Schon gar nicht, wenn es sich um solch ein arrogantes, gemeines, boshaftes und halt- und rücksichtsloses Ekelpaket wie Dorian Colfer handelt, der im Luxus schwelgt und den sie wegen der vielen Drangsalierungen in der Kindheit hasst.

Auch Devin gilt anfänglich ihre Abneigung. Doch im Gegensatz zu seinem Bruder hat er sich verändert. Er schätzt zwar die Annehmlichkeiten, die ihm auf Grund der Vermögenssituation der Familie geboten werden, verabscheut aber die Zurschaustellung, wie sie sein Bruder pflegt. Gegen den Strich geht ihm außerdem, dass er Dorians Arbeit erledigt, ohne die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu erhalten, und ständig hinter diesem aufräumen muss, wenn er wieder einmal über die Strenge schlägt.

Und doch ist es Devin, der Charly etwas verheimlicht und nicht aufrichtig zu ihr ist...

Wer also eine Liebesgeschichte mit viel Gefühl und ein wenig Drama lesen will, ist mit „Liebe nicht erlaubt“ gut beraten.

Veröffentlicht am 09.04.2019

Der Maulbeerbaum

Der Maulbeerbaum
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Die zehnjährige Immy zieht mit ihren Eltern aus dem weit entfernten Sydney nach England, damit einerseits Immys Mutter in einer Spezialklinik in Cambridge arbeiten kann. Andererseits bedeutet dies auch ...

Die zehnjährige Immy zieht mit ihren Eltern aus dem weit entfernten Sydney nach England, damit einerseits Immys Mutter in einer Spezialklinik in Cambridge arbeiten kann. Andererseits bedeutet dies auch einen Neuanfang für die Familie. Denn die emotionalen Probleme von Immys Vater bedrohen den Familienzusammenhalt. Als ehemaliger Hausarzt leidet der Vater nach einem Vorfall mit einem seiner Patienten, in dessen Folge zwei Menschen ums Leben kamen, an Depressionen und kann nicht mehr arbeiten.

Auf der Suche nach einem neuen Heim entdecken sie ein ansehnliches Cottage in einem kleinen Dorf, das ihren Vorstellungen entspricht. Nur der uralte, knorrige und völlig blattlose, ja dadurch dunkel und sehr wild aussehende Maulbeerbaum im Garten lässt sie in der Entscheidung wanken. Und dann ist da noch die Legende, dass eben jener Baum Mädchen am Vorabend ihres elften Geburtstages "stiehlt".

Während das ganze Dorf sich von dem Baum fernhält, und obwohl bereits zwei Mädchen spurlos verschwunden sind, glauben Immys Eltern nicht daran und ignorieren die Warnungen. Immy selbst fühlt sich vom Haus und den Gerüchten über den unheimlichen Baum angezogen, bald hört sie ein seltsames Lied in ihrem Kopf.

"Am Maulbeerbaum geh nur behutsam vorbei,
sonst holt er die Töchter sich,
eins, zwei, drei.
Im Dunkeln und heimlich – spurlos sogar,
erleben sie nie ihr zwölftes Jahr."


Die Familie zieht in das Haus, und Immy und ihre Eltern versuchen, ihre neue Existenz aufzubauen. Der elfte Geburtstag von Immy rückt stetig näher, und mittlerweile sieht Immy Dinge und Bilder, die nicht wirklich da sind. Immer öfter fragt sie sich, ob sie das Rätsel lösen kann oder ob auch sie ein Opfer des Baumes wird...


„Der Maulbeerbaum“ von Allison Rushby ist eine rätselhafte Geschichte, bei der Logik und rationales Denken ein wenig beiseite geschoben und die Fantasie des jugendlichen Lesers angeregt werden. Eine aufgeladene Stimmung und unerklärliche, paranormale Ereignisse schaffen einen gruseligen und packenden Spannungsfaktor, der altersgerecht und zu keinem Zeitpunkt verstörend oder gar abschreckend ist. Tatsächlich ruft der Baum unterschiedliche Emotionen hervor. Steht zu Beginn dessen Bösartigkeit im Vordergrund und geht damit Ablehnung einher, überwiegt später das Mitleid.

Die Autorin erzählt von alltäglichen Problemen, dem Umgang mit Mobbing und psychischen Erkrankungen, den Auswirkungen auf die Menschen und ihre Beziehungen, den Versuchen, dies alles zu bewältigen.

Allison Rushbys Figuren sind glaubwürdig und realitätsnah. Immy wächst bei fürsorglichen und liebevollen Eltern auf, die nicht losgelöst von eigenen Schwächen betrachtet werden. Die Autorin macht ihren jugendlichen Lesern bewusst, dass es eben im Leben der Erwachsenen nicht nur perfekte Momente gibt, sondern auch solche, in denen sie keine Antworten haben, dass sie manchmal nicht einmal die Fragen kennen. Dass sie manchmal sich selbst nicht mehr (er)kennen.

Immy ist unglaublich reif für ihr Alter und setzt sich entschlossen und mutig mit den Tatsachen auseinander. Streit oder Konflikte sind überhaupt nicht ihr Ding. Vorhandener Ängste und das auf sie einwirkenden übernatürliche Geschehen halten sie nicht davon ab, das Geheimnis des Baumes zu ergründen.

Dabei trifft sie immer wieder auf Gefühle, die sie einordnen muss. Gerade die Konfrontation mit dem, was ihr Vater durchmacht, nötigt ihr einen Lernprozess ab. Es ist schwer für ein Mädchen ihres Alters, ihren einst aktiven, an allem beteiligten Vater nun als traurige und defensive Person zu sehen, die sich dem Leiden hingibt.

Allison Rushby verdeutlicht an der Figur von Immy, wie wichtig es ist, verständnisvoll, leidenschaftlich und hilfsbereit für etwas einzutreten.

Und so zeigt sich „Der Maulbeerbaum“ letzten Endes als eine beachtliche und faszinierende Parabel für das Helfen, Verantwortung, Heilung, Vergebung und Wertschätzung des Lebens und verdeutlicht, dass Hass und Wut nicht funktionieren.

Veröffentlicht am 03.04.2019

Staat X. Wir haben die Macht!

Staat X
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„Es geht los, #StaatX“

Die Türen der Schule schließen sich, für eine Woche sind die Schüler im Schulgebäude auf sich gestellt, übernehmen die Verantwortung und verteilen unter sich die Macht in Politik, ...

„Es geht los, #StaatX“

Die Türen der Schule schließen sich, für eine Woche sind die Schüler im Schulgebäude auf sich gestellt, übernehmen die Verantwortung und verteilen unter sich die Macht in Politik, Justiz und Wirtschaft. Staat X ist ein Experiment. Ohne Kontrolle und Eingreifen der Erwachsenen werden die Schüler erfahren, wie ein richtiger Staat funktioniert und entscheiden, was geschieht, organisieren das alltägliche Leben in der Regierung, Polizei, im Kino, den Geschäften, Lokalen und Zeitungsredaktionen.

Bereits bei der Wahl des Präsidenten zeigt sich jedoch, dass hinter den Kulissen an der Machtspirale gedreht wird. Denn nicht die verantwortungsbewusste Johanna, die einen Hauptanteil des zweijährigen Vorbereitungsprozesses getragen hat, darf den Staat führen, sondern Lars wird das höchste Amt im Staat bekleiden.

Und auch sonst versuchen einige, hinter dem Rücken der Kontrollorgane ihr eigenes Ding zu drehen. Bald werden Grenzen überschritten, und das Experiment Staat X nimmt bedrohliche, wenn nicht gar lebensbedrohliche Züge an...


„Staat X. Wir haben die Macht!“ ist ein Buch für Jugendliche, und Carolin Wahl dürfte mit ihrem Schreibstil eben jene besonders ansprechen. Sie verwendet trotz der vorhandenen Ernsthaftigkeit einen lockeren und mühelos zu lesenden Ton, der gleichwohl glaubhaft und authentisch klingt, den gegenwärtigen Zeitgeist und die Probleme in der Gesellschaft widerspiegelt und eine Identifizierung möglich macht. In maßgeblichen Momenten schlägt er um und lässt die Brisanz der Ereignisse erkennen. Dadurch schafft sie es, den erwachsenen Leser ebenfalls einzubeziehen.

Die Handlung selbst ist zunächst ruhig angelegt, erfährt dann im Verlauf des Geschehens eine ansteigende Beschleunigung. Während zu Beginn Staat X als interessantes Schulprojekt, in dem jeder seine Aufgabe hat, startet, geschieht schon an Tag 1 Unvorhergesehenes, das Ursache für folgenreiche Kettenreaktionen ist.

Carolin Wahl gelingt es hervorragend, sich mit den in einem Staat vorherrschenden Gegebenheiten auseinanderzusetzen, den demokratischen Gedanken, aber auch die Herausbildung von dunklen Seiten und diktatorischen Verzerrungen darzustellen, wenn es um Politik, Wahlmanipulation, die Pressefreiheit und deren Einschränkung, die Beeinflussung von Personen und auftretende Willkür geht. Die Autorin vermag es, in zum Teil erschütternder Weise zu vermitteln, wie Menschen agieren und reagieren, wenn sie mit Macht konfrontiert werden.

Vor allem vier Schüler unterschiedlichen Charakters präsentieren in wechselnden Kapiteln ihren Blick auf Staat X:

Adrian, allseits beliebt und angesehen. Tatsächlich aber sehnt er sich nach Anerkennung und echter Zuneigung. Die Schule ist der einzige Ort, an dem er sich nicht so klein fühlt, wo er seine Unsicherheit und Zerrissenheit überspielt und zu einer Person wird, die andere wollen und brauchen.

Melina, liebenswürdig und zurückhaltend, hasst jede Art von Aufmerksamkeit. Sie hat mit ihren inneren Dämonen zu kämpfen, und auf ihrer Haut bilden unsichtbar für die anderen dünne, weiße Narben ein Muster aus Schmerz.

Vincent fühlt sich leer und allein. In seinem Leben nehmen Antriebs- und Perspektivlosigkeit viel Raum ein. Als Polizist in Staat X fühlt er sich binnen kürzester Zeit einer Truppe zugehörig. Da entsteht etwas, an dem er festhalten kann, was er nicht für möglich gehalten hat.

Lara, die Neue, ist der perfekte Sonnenschein. Doch sie weiß, was es heißt, eine Außenseiterin zu sein, weil sie schon so oft die Schule wechselte. Sie muss über ihren eigenen Schatten springen, um zu tun, was mit ihrem Wesen nichts gemein hat. Jenem Wesen, das Zahlen liebt, die Naturwissenschaften, also Dinge schätzt, die logisch und einfach sind und klaren Strukturen folgen.

Daneben lebt Staat X auch von all den weiteren differenziert ausgearbeiteten Schülerpersönlichkeiten, die sich in das stimmige Gesamtkonzept einfügen.

Staat X ist eine Fiktion, beinhaltet allerdings unbestreitbar Parallelen zum realen Zeitgeschehen, regt unweigerlich zum Nachdenken an und ist deshalb nicht nur als (Schul)Lektüre sehr zu empfehlen.

Veröffentlicht am 27.03.2019

Der silberne Traum

Der silberne Traum
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Als die Elfe Fiadora in ihrer Verkleidung als Elf mitten im Nordmeer auf einem Schiff erwacht, hat sie keinerlei Erinnerungen an ihr bisheriges Leben geschweige denn, wer sie wirklich ist und wie und warum ...

Als die Elfe Fiadora in ihrer Verkleidung als Elf mitten im Nordmeer auf einem Schiff erwacht, hat sie keinerlei Erinnerungen an ihr bisheriges Leben geschweige denn, wer sie wirklich ist und wie und warum sie auf die „Windjammer“ des Klaubauters Koggs gekommen ist. Unglücklicherweise ist die Besatzung, die aus gestandenen (See)Männern besteht, in die Fänge einer Sirene geraten, und nur Fi als weibliches Wesen blieb von dem verführerischen Gesang verschont. Mit Hilfe der Möwe Kriwa und des Meermannes Nikk, der auf der Suche nach einem Heilkraut für seinen Vater, Meerkönig Aqualonius ist, gelingt die Befreiung.

Aber die Situation erweist sich auch danach alles andere als einfach. Die Nebelköngin Morgoya hat sich Fis Heimat, das Elfenreich Albion, und seine Bewohner untertan gemacht. Doch davon ahnt Fi erst nach und nach etwas, ebenso dass sie mit einer wichtigen Mission beauftragt wurde. In Begleitung ihrer neuen Freunde, zu denen neben Kriwa, Koggs und Nikk der Däumlingsmagier Eulertin und zu Fiadoras Verdruss auch die Gargyle Dystariel gehören, beginnt ein abenteuerliche Zeit, die der Elfe einiges abverlangt und in der schwierige und knifflige Situationen gemeistert werden müssen.


Mit „Der silberne Traum“ hat Thomas Finn ein sogenanntes Prequel, also eine Vorgeschichte zu seinen Chroniken der Nebelkriege geschrieben. Durch den Verlag Feder & Schwert wurde die Reihe in zeitlich chronologischer Folge in einer erlesenen Neuausstattung aufgelegt.

„Der silberne Traum“ lässt sich ohne Kenntnis der später folgenden Trilogie lesen. Hier findet sich alles, was von fantastischen Geschichte erwartet wird: ein einfallsreiche Handlung, in der unscheinbare, sensible Helden, attraktive und entschlossene Helfer, charismatische Bösewichter, also eine Mischung außergewöhnlicher mythischer Wesen wie Seekobolde, Meermänner, Elfen, Feen, untote Piraten, Humeride, Gargylen und Däumlinge agieren.

Thomas Finn stattet seine Figuren einerseits mit klassischen, andererseits mit originellen skurrilen Eigenschaften aus. Kauzige Liebenswürdigkeiten finden sich auch in der Namensgebung, was des Öfteren zu amüsiertem Schmunzeln führt.

Der Autor schildert die Ereignisse bis auf wenige Ungeschicktheiten leicht verständlich und stringent, gleichwohl in bemerkenswert facettenreichen bunten Bildern. Mehrfache Andeutungen, Hinweise, Verknüpfungen mit Motiven aus alten Sagen und Legenden, dargestellte Schauplätze und auftretende Namen in seiner sorgfältig entwickelten Welt haben nicht nur für den jugendlichen Leser einen hohen und unterhaltsamen Wiedererkennungswert. So gelangt man beispielsweise über die Elbe vorbei an den Harzenen Bergen nach Hammaburg und kann diesen Weg auf der wunderschönen Landkarte von Matthias Rothenaicher verfolgen.

Ein bisschen Grusel ist ebenfalls erlaubt. Es gibt riskante Manöver und Kämpfe, doch insgesamt hält sich der Autor hier zurück, setzt hingegen auf Entdeckungen und Enthüllungen, um die Handlung und letztlich die Neugier auf die eigentlichen Chroniken der Nebelkriege voranzutreiben. Und die sind nach der Lektüre von „Der silberner Traum“ ein Muss…

4,5 Sterne