Fundierte, menschlich berührende und ausgewogene Betrachtung
Zeit der SchuldigenIn „Zeit der Schuldigen“ greift Markus Thiele den Mord an Frederike von Möhlmann auf, der durch eine Ende Oktober 2023 erfolgte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder neue Aktualität erlangte. ...
In „Zeit der Schuldigen“ greift Markus Thiele den Mord an Frederike von Möhlmann auf, der durch eine Ende Oktober 2023 erfolgte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder neue Aktualität erlangte. Die menschlichen Auswirkungen dieser durchaus fragwürdigen Entscheidung und eines manchmal ungerechten Rechtssystems zeigt Thiele in diesem Buch sehr nachdrücklich und vielfältig auf. Während der Autor sich hinsichtlich der Entwicklung des Falles und dessen juristischer Betrachtung eng an den wahren Fall hält, hat er alles andere fiktionalisiert. So entspricht auch die Beziehung zwischen Mordopfer und Täter der Fiktion, auch die Ermittler sind fiktive Personen.
Thiele entwickelt diese fiktiven Charaktere sehr ausführlich, was einerseits von Sorgfalt zeugt, andererseits für mich viele Szenen aber auch zu langatmig wirken ließ und zudem den Fokus manchmal zu sehr vom eigentlichen Fall wegnimmt. Gerade der Handlungsstrang der emotional instabilen Ermittlerin Anne, die den unbestraften Täter Jahrzehnte später entführt, ist im letzten Drittel des Buches sehr dominant, war für mich etwas zu übertrieben und behandelte dann zudem auch noch Annes Beziehungsleben, was ich überflüssig und teils auch etwas zu klischeehaft fand. Auch sonst waren mir manche privaten Hintergründe und philosophischen Betrachtungen zu ausführlich. Am besten fand ich den Mittelteil des Buches, der sich auf das Wesentliche konzentriert und die Geschichte für sich selbst sprechen läßt.
Insgesamt liest sich der Schreibstil aber erfreulich fundiert, flüssig und farbig. Der Autor ist Jurist, das macht sich angenehm bemerkbar. Er bietet uns einen sehr unmittelbaren Blick in die Ermittlungsarbeit und insbesondere die rechtliche Behandlung. Thiele hat nicht nur die Erfahrung und das Wissen zu dieser Thematik, er vermittelt sie zudem gekonnt und unterhaltsam. Dabei zeigt er stets Respekt für das Mordopfer und die Angehörigen, stellt einfühlsam deren Leid dar und macht auch deutlich, welche Härten die notwendigerweise versachlichten Prozesse in Ermittlungen und Rechtsprechung für Verbrechensopfer und ihre Angehörigen darstellen. Gleichzeitig bemüht er sich um eine ausgeglichene Betrachtungsweise und die Erklärung, warum manches, das menschlich grausam wirkt, juristisch durchaus seinen Sinn hat. Er verzichtet auf künstliche Dramatik, berichtet ruhig, realistisch und vermischt das Sachliche gekonnt mit dem Menschlichen.
Auch atmosphärisch weiß der Autor zu überzeugen. Gerade die Szenen mit dem Täter sind oft so farbig geschildert, daß man das Gefühl hat, dabei zu sein. Eine der Begegnungen zwischen dem späteren Mordopfer Nina und dem Täter Volker zeigt sein manipulatives und ihr jugendlich unsicheres Verhalten so gelungen auf, daß einem beim Lesen ganz unbehaglich zumute wird. Auch eine Verhörszene veranschaulicht das Feingefühl des Autors für menschliche Nuancen. Mit geschickt eingesetzten Details schafft Thiele die jeweiligen Atmosphären. Manchmal sind mir diese zu geballt genutzt, so hat die unablässige Erwähnung von allerlei 80er-Liedtiteln in den entsprechenden Szenen etwas Listenartiges, auch einige Leitmotive und das Stilmittel der Wiederholung werden etwas übertrieben.
Der Umgang mit den verschiedenen Zeitebenen ist dagegen durchweg gelungen, auch die Erzählstimmen klingen gekonnt unterschiedlich. Wir verfolgen den Fall über mehr als vierzig Jahre, der Autor wechselt die Zeitebenen stetig, dies aber immer sinnvoll und deutlich. Trotz der Zeitwechsel wirkt die Geschichte kontinuierlich und wie aus einem Guss, auch hier erkennt man wieder die Sorgfalt, die in dieses Buch geflossen ist.