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Veröffentlicht am 23.01.2019

Prinzessinnen sind nicht zu beneiden

Skandal bei Hof
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In "Skandal bei Hof" (den Titel finde ich persönlich zu effektheischerisch) geht es wie im Buch "Ungeliebte Königin" um unglückliche Ehen und Lebensgeschichten der europäischen Königshöfe. Ich habe beide ...

In "Skandal bei Hof" (den Titel finde ich persönlich zu effektheischerisch) geht es wie im Buch "Ungeliebte Königin" um unglückliche Ehen und Lebensgeschichten der europäischen Königshöfe. Ich habe beide Bücher kurz nacheinander gelesen und das war aufgrund teils unterschiedlicher Interpretationen der Autorinnen ganz interessant.

Thea Leitner berichtet hier von fünf Frauenschicksalen, die fast alle irgendwie verwandtschaftlich verbunden sind (wie in der europäischen Königswelt auch kaum anders möglich), so daß uns manche Personen durchaus öfter begegnen, was eine ganz angenehme Kontinuität in das Buch bringt. Alle Frauen wurden gegen ihren Willen oder zumindest ohne ihr Einverständnis verheiratet, alle erlebten ihre ganz persönliche Ehehölle, dies ist ein weiteres verbindendes Element der Kapitel und überhaupt der Töchter europäischer Adelshäuser jener Zeit. Abgesehen davon sind die Schicksale sehr unterschiedlich, so bekommen wir unter anderem einen Blick in die jahrzehntelange Gefangenschaft der Sophie Dorothea von Hannover; den Geschehnissen am dänischen Königshof, die einem übertriebenen Historienschinken entstammen könnten, oder dem befremdlichen Haß von George IV auf seine Ehefrau.

Dies ist meist in einem recht flotten Schreibstil berichtet und beinhaltet auch einen Blick auf die Elterngeneration oder das generelle Familienumfeld, so daß man recht umfassend informiert wird. An einigen Stellen fehlte mir die Neutralität der Autorin etwas. Oft wurde mir zu sehr in Details oder Nebensächlichkeiten verweilt, gerade das Kapitel über Wilhelmine von Preußen, welches ich auch vom Inhalt her weniger interessant fand als die anderen Kapitel, zog sich sehr - detaillierte Zitate von Wilhelmines Tagebuchaufzeichnungen und minutiöse Berichte, wer wann wohin reiste oder wer wem wann was sagte / schrieb, lasen sich mir zu zäh. Dies fiel mir auch im letzten Kapitel über Karoline von Braunschweig-Wolfenbüttel öfter auf. Obwohl die Kapitel alle in etwa gleich lang sind, kamen mir diese beiden Kapitel länger vor als die anderen.

So erhält man im Ganzen einen recht abwechslungsreichen Überblick über die verschiedenen, teilweise bedenklich verhaltensgestörten, Herrscher diverser europäischer Länder und des Leides, welches die dynastisch orientierte rücksichtslose Ehepolitik verursachte. Eine straffere Erzählweise hätte aber an mehreren Stellen nicht geschadet.

Veröffentlicht am 22.01.2019

Die schlechteste aller möglicher Welten

Fabian
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Erich Kästners autobiographisch angehauchte Erzählung über Jakob Fabian, der das ausschweifende Berlin der späten Weimarer Republik erlebt, und daran untergeht, wirft einen sehr klaren, von Schopenhauers ...

Erich Kästners autobiographisch angehauchte Erzählung über Jakob Fabian, der das ausschweifende Berlin der späten Weimarer Republik erlebt, und daran untergeht, wirft einen sehr klaren, von Schopenhauers Pessimismus geprägten Blick auf die Welt und die Menschheit. Das 1931 erschienene Buch ist an manchen Stellen sogar beängstigend prophetisch, so sagt Fabian im Gespräch mit einem Nazi: "Wo nehmt ihr die Dreistigkeit her, sechzig Millionen Menschen den Untergang zuzumuten, bloß weil ihr das Ehrgefühl von gekränkten Truthähnen habt und euch gern herumhaut?"

Die Endzeitstimmung dieser Zeit kommt deutlich zum Vorschein, man merkt geradezu, wie die Menschen fiebrig am Rande des Vulkans tanzen, kopulieren und saufen, um die düstere Welt, die Aussichtslosigkeit zu vergessen. Mittendrin und doch abseits Fabian, der sich dieses ausgelassen-unfrohe Treiben betrachtet, aber nur am Rande und mit einem gewissen Widerwillen daran teilhat.

Der erste Teil des Buchs ist eine etwas zusammenhanglose Betrachtung der diversen Berliner Ausschweifungen, die Fabian sich anschaut. Zusammen mit ihm werfen wir einen Blick in das Nachleben Berlins: auf Frauen, die sich für freien Eintritt in eine Bar und einen Schnaps halbnackt präsentieren, die offensiv ihre körperliche Befriedigung suchen, auf einvernehmliche und nicht-einvernehmliche offene Beziehungen, auf Manipulierung von Zeitungsberichten, viel Alkohol und betrunkene Ausraster, gleichgeschlechtliche Beziehungen und auch auf die in diesen Jahren allgegenwärtige politische Gewalt, die aufkommenden Nazis. Das war farbig erzählt, mir persönlich an manchen Stellen ein wenig zu vignettenhaft und mit recht vielen philosophisch-politischen Monologen (die auch im restlichen Verlauf des Buches immer wiederkehren).

Allmählich bewegt sich das Buch weg von den Einblicken hin zu einer fortwährenden Handlung und wir lernen den Beobachter Fabian nun auch besser kennen. Er ist letztlich zu gut für die Welt, stets hilft er anderen, verteilt sein knapp vorhandenes Geld bereitwillig, handelt dort, wo andere zusehen. Immer wieder wird er von den Menschen enttäuscht, mit dem allgemeinen Egoismus und der Jagd nach Geld und Erfolg konfrontiert, auch wenn man sich im Laufe dieser Jagd selbst verkaufen muß. Die Gedankenlosigkeit der Menschheit wird ebenfalls gut geschildert, sie kostet Fabians besten Freund das Leben.

Zwischendrin dann als scharfer Kontrast die Unschuld von Fabians Mutter, dem gänzlich anderen Kleinstadtleben. Nicht überraschend, daß Fabian sich immer wieder in Erinnerungen an die Kindheit und die Mutter flüchtet, auch wenn diese Kindheit alles andere als sorgenfrei war. Die Szenen zwischen Fabian und seiner Mutter sind sehr liebevoll und berührend.

Das düstere Lebensgefühl dieser verlorenen Generation wird mit messerscharfem Blick und viel treffender Ironie gezeichnet. Die Reise Fabians von Arbeitsamt zu Arbeitsamt nach seiner Entlassung ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Keiner ist zuständig, alle schicken ihn weiter, die Wände sind behängt mit Verboten und amtlichen Informationen - nach fünf Stunden Irrweg durch die Behörden wird er wieder an den Ausgangspunkt zurückgeschickt. Er paßt nicht so richtig ins bürokratische System und letztlich auch gar nicht in diese Welt. Die Jugend wurde ihm - wie auch Kästner - als Siebzehnjährigem durch den Ersten Weltkrieg brutal beendet, das Studium und die Intelligenz helfen ihm wenig im wirtschaftskrisengeplagten Land. Verbiegen und verkaufen möchte er sich nicht, was ihn von so vielen anderen unterscheidet. Offen und direkt ist er, beobachtet scharfsinnig und hält deshalb vielen Leuten den Spiegel vor, was ihm meist schadet. Zu aufrichtig und vertrauensvoll ist er anderen gegenüber. Die guten Eigenschaften Fabians bringen ihm letztlich nur Nachteile.

All dies wird berichtet in Kästners hervorragendem Sprachstil - schnörkellos und gekonnt, oft humorvoll, bissig, treffend. Wer Erich Kästner vorwiegend oder nur als Kinderbuchautor kennt, wird hier überrascht und beeindruckt sein. Kästner konnte mit Worten umgehen, das ist in jedem Satz ersichtlich und viele Sätze habe ich mehrfach gelesen.

Veröffentlicht am 22.01.2019

Persönliche und berührende Geschichte eines Nachkriegsschicksales

Hoffnungsschimmer in Trümmern
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Pia Wunder setzt mit diesem Buch ihrer Großmutter und Mutter ein Denkmal. "Jede Familie hat ihre einzigartige Geschichte" ist der erste Satz, und es gelingt der Autorin gut, diese einzigartige Geschichte ...

Pia Wunder setzt mit diesem Buch ihrer Großmutter und Mutter ein Denkmal. "Jede Familie hat ihre einzigartige Geschichte" ist der erste Satz, und es gelingt der Autorin gut, diese einzigartige Geschichte ihrer Familie zu erzählen. Damit erzählt sie auch ein Stück Zeitgeschichte, denn die Todesangst während des Krieges und auch der ersten Nachkriegszeit, die unglaublichen Leiden von Vertreibung, Flucht, Willkür einiger Besatzer sind ein Teil vieler europäischen Familienerinnerungen.

Pia Wunder erwähnt im Vorwort, daß in ihren Gesprächen mit Großmutter und Mutter einige Taschentücher verbraucht worden seien, und das kann ich gut verstehen, denn sogar als reine Leserin gab es einige Stellen, an denen mir die Tränen in die Augen stiegen. Die grausame Vergewaltigung einer 14jährigen (sehr dezent im Buch dargestellt) durch Besatzungssoldaten, das Leiden ihrer Eltern, deren Behandlung - das hat mich noch tagelang beschäftigt, ebenso wie überhaupt das Ausgeliefertsein an die Soldaten. Dagegen war die Schilderung des ersten Nachkriegsweihnachtsfestes, bei dem sich unerwartet Gutes ereignete, auf ganz andere, positive Weise anrührend. Die Großmutter der Autorin, Grete, hat viel durchgemacht. Direkt vom Anfang des Buches an hat sie es mit gedankenlosen, teils bösartigen Menschen zu tun, muß fast ständig auf sich selbst gestellt kämpfen. Es ist unglaublich, was diese zarte, aber offensichtlich zähe kleine Person alles erduldet und geleistet hat. Gretes Schicksal hat mich von Anfang an berührt. Die Leiden der letzten Kriegsmonate und der Flucht werden deutlich und eindringlich geschildert. Das Verhalten der Menschen wird hier ebenfalls gut dargestellt - die meisten sind sich selbst die Nächsten, das aber nicht aus reiner Bequemlichkeit oder Bosheit, sondern weil es um das nackte Überleben geht. Wenn es an diesen Urinstinkt, diese Urangst geht, dann treten andere menschliche Gefühle schnell weit in den Hintergrund. Dadurch sind die von der Autorin geschilderten wenigen Ausnahmen besonders eindringlich. Dieser erste Teil des Buches ist der packendste und der, der einen Leser auch nachher noch gedanklich beschäftigt.

Pia Wunder berichtet die Geschichte ihrer Großmutter und Mutter im Romanstil, eine gute Idee. Der Schreibstil liest sich flüssig, er ist einfach (an manchen Stellen für meinen Geschmack zu einfach) und schnörkellos. Ab und an fand ich einige Formulierungen etwas ungeschickt, oder Worte falsch gewählt (zB "linkisch" statt "link").
An mehreren Stellen hätten ein oder zwei erklärende Sätze das Verständnis erheblich erleichtern können, hier fehlten mir doch recht relevante Hintergrundinformationen.

Während der erste Teil des Buches (ca 60 %) sich auf Grete konzentriert und aus ihrer Perspektive berichtet, wechselt diese Perspektive im zweiten Teil zu ihrer Tochter Ilse und erzählt hauptsächlich deren Geschichte. Diese ist naturgemäß weniger dramatisch als die direkten Kriegs- und Nachkriegsjahre. Während ich es gut fand, daß wir auch Ilses Weg weiterverfolgen konnten, war mir hier einiges zu detailliert berichtet und ich habe einige Abschnitte eher überflogen. Hier hätte man meiner Meinung nach wesentlich straffen können, das mag aber auch rein persönliche Präferenz sein.

Es ist der Autorin gelungen, die Geschichte ihrer Großmutter und Mutter mitreißend zu erzählen, zu zeigen, wie wichtig der Familienzusammenhalt war, welche Nachwirkungen die schwierigen Jahre später in der Mutter-Tochter-Beziehung oder auch sogar bei der Berufswahl der Tochter hatten. Mit wenigen Worten wird aufgezeigt, daß die Traumata der Kriegs- und Nachkriegszeit bei den betroffenen Generationen fortwirken.

Es ist ein lesenswertes Buch, das eine katastrophale Epoche unserer Geschichte beleuchtet und mit persönlichen Schicksalen verknüpft.

Veröffentlicht am 11.09.2024

Herrliche Sprache, interessantes Thema mit ein paar Längen

Die Bilder meines Vaters
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Im Nachwort zu diesem Buch schreibt die Autorin, sie wäre glücklich, wenn die Leser „diesen Roman als Ausgangspunkt nehmen, um mehr über die historischen Personen sowie ihre Zeitgeschichte zu erfahren“. ...

Im Nachwort zu diesem Buch schreibt die Autorin, sie wäre glücklich, wenn die Leser „diesen Roman als Ausgangspunkt nehmen, um mehr über die historischen Personen sowie ihre Zeitgeschichte zu erfahren“. Ich kann jedenfalls für mich vermelden, daß dieses Ansinnen auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Ich wußte vor dem Buch gar nichts über Marie Luise Vogeler oder ihr Familienumfeld, auch wenn mir über Worpswede einiges bekannt ist. Nun habe ich dank Astrid Goltz eine Reise in eine für mich ungewohnte, anschaulich geschilderte Welt gemacht. Marie Luise Vogelers Leben wird sehr stark durch ihren Vater und ihren Ehemann definiert – nicht einmal der Titel dieses Buches gehört ihr. Dass es vorwiegend ihre Beziehungen zu anderen sind, die ihre Geschichte ausmachen, lässt sie manchmal etwas blass wirken, führt aber andererseits auch dazu, dass hier viele interessante Perspektiven dargestellt werden.

Marie Luise fungiert in diesem Buch als Ich-Erzählerin im oft genutzten Muster der zwei Zeitebenen. Ihre von Krankheit erfüllten letzten Lebensjahre in Mexiko sind die Rahmenhandlung, vor der sie ihr Leben erzählt. Der Schreibstil ist hervorragend, ich habe ihn sehr genossen. Ich fand es ganz wunderbar, wie gekonnt die Autorin mit Sprache umgeht, und hoffe sehr, daß das nicht ihr letztes Buch sein wird. Unerfreulich fand ich lediglich, daß sie am Anfang, in den Kinderjahren Marie Luises, ganze Unterhaltungen auf Plattdeutsch schreibt. Das geht an manchen Stellen über ganze Seiten und ist für jemanden, der mit diesem Dialekt nicht vertraut ist, äußerst beschwerlich zu lesen und teils schlichtweg nicht verständlich. So sehr ich es befürworte, im Sinne der Authentizität ein wenig Dialekt einzubringen, sollte sich das im Rahmen halten. Hier war es irgendwann so, daß ich diese langen Passagen überspringen mußte, weil ich sie so gut wie unleserlich fand.
Auch die jetzt so beliebten Genderdoppelungen wie „Künstlerinnen und Künstler“ oder „Saarländerinnen und Saarländer“ fand ich wenig angebracht. Ganz abgesehen davon, daß diese die Lesefreundlichkeit beeinträchtigen, sind sie hier nicht authentisch, weil mit der Erzählstimme einer Frau geschrieben wird, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebte, in der solche Doppelungen nicht verwendet wurden. Wenn als Ich-Erzählerin geschrieben wird, dann sollte das auch stimmig sein.
Ganz wundervoll fand ich dagegen das stetige Einweben von Farben in den Text. Das ist herrlich authentisch und erinnert uns daran, daß Marie Luise als Malerin die Welt in Farben sah, auf Farben achtete, auch paßt es ausgezeichnet zum Titel und Motiv des Buches. Es wirkt völlig natürlich, wie diese Farben immer wieder Eingang in den Text finden und ich hatte beim Lesen viel Freude daran.

Das Erzähltempo ist gemischt. Die erste Hälfte fand ich teilweise ziemlich langatmig, was vor allem an den ausführlichen Kindheitserlebnissen mit allerlei Spielen, den o.e. Unterhaltungen auf Platt und vielen berichteten Details lag, die ich für das Gesamtbild nicht notwendig fand. Im Nachwort las ich dann, daß die meisten dieser Aspekte von der Autorin erfunden wurden. Sie erklärt im Nachwort gut, was belegbare Informationen sind; was zwar nicht explizit belegt, aber schlüssig ist, und was reine Erfindung von ihr ist. Hier war ich teilweise etwas befremdet. So hat Marie Luise im Buch eine Fehlgeburt, die sich im Nachwort als fiktiv herausstellt. Das überschreitet bei einer Romanbiographie über eine tatsächliche Person für mich persönlich die Grenzen.
Auch wird allerlei Mystisches in den Romantext verwebt. Beim Lesen irritierte es mich, daß Marie Luise häufiger von ihren Konversationen mit Katzen berichtete. Im Nachwort stellte sich heraus, daß es keine liebenswerte Marotte der tatsächlichen Marie Luise war, sondern ebenfalls reine Erfindung, um „die magische Seite ihrer Kindheit sowie ihre Imaginationskraft“ zu betonen. Das hätte man gerade in einem künstlerischen Haushalt doch etwas weniger überspannt und für die Leser nachvollziehbarer lösen können.
Recherchiert wurde allerdings insgesamt ganz ausgezeichnet, auch das erkennt man sowohl am Nachwort wie auch an der umfangreichen Quellenangabe. Einiges habe ich schon im Internet nachgelesen und stellte fest, wie farbig und gut die Ereignisse im Roman berichtet werden. Man lernt durch die Lektüre auf unterhaltsame Weise eine ganze Menge und man bekommt durch die hervorragende Sprache einen gelungenen Einblick in die Welt der Künstler, der Kommunisten, der Emigranten. Marie Luises Krankheit wird gerade zum Ende hin sehr eindringlich und berührend geschildert. Ganz zum Schluss finden sich dann noch einige Fotos von Marie Luise, was mir gut gefiel.

Insgesamt kann das Buch gerade durch die Sprache und das ungewöhnliche Sujet überzeugen – es gibt unzählige Bücher über deutsche Schicksale in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber die Kombination aus den hier geschilderten Themen, zudem mit wahrem Hintergrund, findet sich eher selten und eröffnet interessante Blickwinkel.

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Veröffentlicht am 01.07.2024

Unterhaltsamer Krimi, von dem ich mir mehr Tiefe erwartet hatte

Im Kopf des Bösen - Ken und Barbie
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Auf dieses Buch kam ich wegen meines großen Interesses an dem Homolka-Bernardo-Fall, der hier als Inspiration genommen wurde. Der tatsächliche damalige Fall dient als Grundlage für diesen fiktiven Roman ...

Auf dieses Buch kam ich wegen meines großen Interesses an dem Homolka-Bernardo-Fall, der hier als Inspiration genommen wurde. Der tatsächliche damalige Fall dient als Grundlage für diesen fiktiven Roman und es wird aufgezeigt, wie er in heutiger Zeit und mit heutigen Mitteln hätte gelöst werden können. Das ist ein origineller und spannender Ansatz, auch machte mich die Mitarbeit von Axel Petermann, den ich aus mehreren Dokumentationen kenne und schätze, neugierig.

Das recht kurze Buch steigt gleich erfreulich ins Geschehen ein, hält dieses dann aber erst einmal durch zwei lange erklärende Einschübe von je einer Seite auf, so daß ich den Einstieg nicht wirklich flüssig fand. Zudem bekommt die Ermittlerin Sophie sehr viel Raum, was gerade in der ersten Hälfte zu Lasten des Erzähltempos und Falls geht. Nachdem es lange Mode war, Krimiermittler mit allerlei Traumata auszustatten, scheint es jetzt in Mode zu kommen, Ermittler mit psychologischen Besonderheiten/Fähigkeiten als Protagonisten zu nehmen. Ich fühlte mich hier in mancherlei Hinsicht an die Bücher von Max Seeck erinnert – auch den ererbten Reichtum haben beide Protagonistinnen. Sophie ist Autistin, hat zudem noch ein Kindheitstrauma und den erwähnten Reichtum, welcher für die Handlung völlig bedeutungslos ist und auf mich etwas wahllos hineingeworfen wirkte. Ihr Autismus dominiert viele Szenen, schon weil ihre diesbzgl. Fähigkeiten ihr bei der Arbeit als Profilerin dienlich sind, ihr andere Autismus-Aspekte aber viele Situationen schwieriger gestalten. Es gibt darüber hinaus mehrere ausführliche Szenen, die ausschließlich dazu dienen, Sophies Autismus darzustellen. Diese unterbrachen leider den Handlungsfluss, waren sehr detailverliebt und wiederholten sich inhaltlich außerdem ziemlich. Zwei Fakten zu Sophie (ihr eidetisches Gedächtnis und ihre Abneigung, aus Gläsern zu trinken) werden uns mehrfach fast wortgleich mitgeteilt, auch sonst fielen mir häufiger Wiederholungen auf.

Nachdem ich von der ersten Hälfte des Buches also eher enttäuscht war, weil es wesentlich mehr um Sophie als um die Ermittlungen ging, nimmt die Handlung dann endlich Fahrt auf und wird richtig gut. Der Schreibstil ist flüssig, ein wenig störte mich abgesehen von den Wiederholungen die Tendenz, das „show, don’t tell“ etwas zu vernachlässigen. Gesichtsausdrücke, Stimmungen, einfache Schlussfolgerungen etc. wurden den Lesern oft erklärt anstatt gezeigt, manchmal gezeigt und zusätzlich erklärt. Erfreulich fand ich dagegen, daß Hintergrundinformationen gut eingebunden werden. Es gibt kein Infodumping, sondern es ist immer nachvollziehbar, wenn Hintergründe in einem Dialog zur Sprache kommen oder Ermittlungsmethoden erklärt werden. Eine ausgezeichnete Szene, in der Sophie in bester Sherlock-Holmes-Manier einem Kollegen zeigt, was sie durch reine Beobachtungen und Schlussfolgerungen alles über ihn weiß, erläutert das Prinzip des Profiling handfest und nachvollziehbar.

Auch die Ermittlungen werden gut geschildert. Es gibt keine hanebüchenen Zufälle oder übertriebene Schockeffekte. Es wird ganz klassisch ermittelt, mit logisch nachvollziehbaren Schlussfolgerungen und realistischer Darstellung. Auch die Gespräche mit Zeugen oder Verwandten sind realistisch und farbig geschildert – man sieht die Szenen vor sich. Das Grausige der Tat wird uns ohne blutrünstige Schilderungen vermittelt – wir erfahren einige Szenen aus Sicht eines der Opfer. Diese Szenen sind ausgezeichnet, sie zeigen sowohl die absolute Menschenverachtung der Täter wie auch die Ausweglosigkeit und das Grauen, in welchen sich das Opfer befindet. Es sind äußerst beklemmende Szenen mit tiefdunklen Einblicken.

Der letzte Teil bringt manch überraschende Wendung und kommt erfreulicherweise ohne langgezogenen Showdown aus (leider dafür nicht ohne das überbenutzte und enervierende Klischee der Romanze zwischen Ermittlern). Dann endet die Geschichte leider sehr abrupt. Tiefere Einblicke in das Täterpaar erhalten wir überraschenderweise kaum, ihre Gedankenwelt und Beziehung wird im Buch sehr rasch abgehandelt, was insbesondere angesichts der extrem ausführlichen Beschreibung von Sophies Psyche erstaunlich und enttäuschend ist. Ein Nachwort schildert den echten Fall und zeigt auf, was im Krimi verändert wurde und was übereinstimmt – der echte Fall ist sehr nah dran, trotzdem finde ich den Begriff „True Crime“ angesichts der Gestaltung eher vollmundig, denn wir bekommen kein True Crime, sondern einen fiktiven Krimi, der von einem True-Crime-Fall inspiriert ist. Letztlich ließ mich das Buch etwas enttäuscht zurück. Vielleicht habe ich mit dem Namen Petermann zu hohe Erwartungen verknüpft. Der besondere Tiefgang, den ich gerade hinsichtlich der Psyche und des Zusammenspiels des Täterpaares erwartet hatte und der hier ein Alleinstellungsmerkmal hätte darstellen können, fehlt leider (denn auch von echten Fällen inspirierte Krimis gibt es mehrere). Meines Erachtens hätte der Fokus mehr von Sophie weggenommen und dem Täterpaar gewidmet werden können. Das Buch bietet interessante Einblicke in Ermittlungstechniken und Profiling – das machen andere Romane allerdings auch, und dies teilweise mit mehr Tiefe. „Im Kopf des Bösen“ bietet letztlich überwiegend konventionelle Krimiunterhaltung mit den bekannten und oft verwendeten Elementen des Genres. Diese ist gut erzählt und punktet durch Realismus sowie die Profilerelemente.

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