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Veröffentlicht am 22.02.2018

Eine sehr durchwachsene Fortsetzung

Ugly – Pretty – Special 2: Pretty - Erkenne dein Gesicht
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Allgemeines:

Titel: Pretty - Erkenne dein Gesicht
Autor: Scott Westerfeld
Verlag: Carlsen (Februar 2011)
Genre: Dystopie
ISBN-10: 3551310076
ISBN-13: 978-3551310071
ASIN: B01EHV1WB8
Seitenzahl: 400 Seiten
Preis: ...

Allgemeines:

Titel: Pretty - Erkenne dein Gesicht
Autor: Scott Westerfeld
Verlag: Carlsen (Februar 2011)
Genre: Dystopie
ISBN-10: 3551310076
ISBN-13: 978-3551310071
ASIN: B01EHV1WB8
Seitenzahl: 400 Seiten
Preis: 7,99€ (Kindle-Edition)
8,99€ (Taschenbuch)
Weitere Bände: Ugly - Verlier nicht dein Gesicht;
Special - Zeig dein wahres Gesicht


Inhalt:

Tally ist von einer Ugly zur Pretty geworden. Sie sieht umwerfend aus, hat einen tollen Freund und ist wahnsinnig beliebt. Aber bei allem Spaß, den Partys, dem Luxus, spürt Tally, dass irgendetwas nicht stimmt. Dann erhält sie eine Botschaft aus ihrer Vergangenheit - und plötzlich wird ihr klar, was in der Pretty-Welt fehlt. Tally beginnt, umzudenken und begibt sich damit in tödliche Gefahr. Denn wer zu viel weiß, gerät schnell ins Visier der Behörden ...


Bewertung:

Nachdem ich der erste Band der Reihe "Ugly - Verlier nicht dein Gesicht", was mich jetzt zwar nicht umgehauen, aber mich mit doch einigen ganz interessanten Ideen unterhalten hat, vor ein paar Tagen gelesen hatte, war für mich klar, dass ich die Geschichte weiterverfolgen will. Diese Fortsetzung weist jedoch die typischen Schwächen eines Trilogie-Mittelteils auf und kann weder mit besonders viel Spannung, noch mit neuen Erkenntnissen oder einer übermäßigen Entwicklung aufwarten, was mich ehrlich gesagt ein wenig enttäuscht hat.


"Schatten bewegten sich im Wind und sie stellte sich vor, wie graue Gestalten dazwischen einherhuschten. "Das war mein Fehler"
"Wie meinst du das?"
"Es ist immer mein Fehler"
"Das ist doch Pfusch, Tally.", sagte Zane leise. "Es ist nicht schlimm, etwas Besonderes zu sein."


Das Cover zeigt ebenso wie das des ersten Teiles ein Mädchengesicht in Zoomaufnahme. Wo auf dem vorhergegangenen aber Linien und Pfeile anzeigten, wie eine Schönheitsoperation bestimmte Merkmale verändern würde, um es der Norm anzugleichen, sind diese Veränderungen hier schon vorgenommen werden und wir sehen ein typisches Pretty-Gesicht: große Augen, glatte Haut, perfekte Symmetrie. Spannend ist daran vor allem, dass das Gesicht zwar irgendwie ganz hübsch erscheint, gleichzeitig jedoch ein wenig langweilig, durchschnittlich und seelenlos wirkt, wenn man es mit dem Mädchen auf dem ersten Cover vergleicht. Das zeigt ganz wunderbar, wie den Uglies bei ihrer Operation neben ihren Makeln auch ihre Individualität und vor allem ihr scharfes Denken genommen werden, sodass am Ende eine gleichdenkende und gleichaussehende, hübsche Masse zurückbleibt. Insofern passt das Cover natürlich zum Inhalt wie die Faust aufs Auge, nichtsdestotrotz finde ich es optisch nicht sonderlich ansprechend. Natürlich passen Titel und Untertitel wieder ebenfalls gut.

Erster Satz: "Sich anzuziehen war immer der schwierigste Teil des Nachmittags."


Die Geschichte steigt direkt in Tallys neues perfektes Pretty-Party-Spaß-Konsum-Leben ein. Nachdem sie sich freiwillig den Specials gestellt hat, um nach der Operation das neue Heilmittel der Smokey-Rebellen an sich testen zu lassen gehört sie auch zu der schönen Seite der Zivilisation, deren größtes Problem es ist, wenn das Motto einer Party im letzten Moment noch geändert wird. Fragen um die richtige Clique, das perfekte Kostüm, den größten Kick bestimmen jetzt Tallys Leben in New Pretty Town. Doch obwohl Tallys größter Wunsch eigentlich in Erfüllung gegangen ist und sie kaum mehr Verbindungen zu ihrem vorherigen Leben hat, kommen immer wieder Erinnerungsfetzen hoch und leise Zweifel beginnen sich in ihrem verlullten Pretty-Hirn zu regen. Als sie schließlich auf einer Party einen Ugly-Freund aus ihrer Smokey-Zeit trifft und dieser ihr das Versteck zum Heilmittel gegen die Läsionen, die die Operation im Gehirn der Prettys hinterlässt, verrät, schnappt sie sich ihren Pretty-Freund Zane und sucht das Versteck auf. Doch als sie im Anschluss mehr über New Pretty Town herausfindet und ihr alles wieder einzufallen droht, gerät sie aufs Neue in den Fokus der Behörden und die einzige Möglichkeit zu entkommen ist die Flucht aus New Pretty Town...


"Sie seufzte. Auf eins war in ihrem Leben immerhin Verlass: Es wurde immer nur noch komplizierter."


Auch wenn ich den ersten Teil erst wenige Tage zuvor beendet hatte fand ich es sehr schwer wieder in die Geschichte reinzukommen, da sich sowohl Tallys Charakter als auch ihre ganze Lebenswelt nach der Operation komplett verändert haben. Ich muss zugeben, dass mir dieser Wandel und vor allem das oberflächliche, prettyhafte Denken Tallys zu Beginn gehörig auf die Nerven gegangen ist. Auch wenn die Handlung eigentlich recht bald damit startet, dass Tally Croy wieder trifft und es an Handlung eigentlich nicht wirklich mangelt, hatte ich ein großes Problem, die Geschichte ernst zunehmen. Vor allem die ätzenden Wortwiederholungen von "prickelnd", "Pfusch", "Glücks-Faktor" und anderen Modeausdrücken, die in fast jedem Satz vorkamen, den Tally aussprach oder dachte, haben mich wirklich genervt. Ich kann durchaus verstehen, warum der Autor diese Mittel genutzt hat, um uns eindrücklich klar zu machen, dass Tally jetzt anders ist und die Läsionen in ihrem Gehirn ihr Denken vernebeln, aber das hätte ich auch nach 10 Wiederholungen des Wortes "prickelnd" schon verstanden. Gerade hier am Anfang hätte ich mir doch ein wenig mehr Abstand zu Tally gewünscht, eine etwas distanziertere Sicht auf sie und ihr Verhalten.


"Als sie hier über der Erde schwebte und ihr perfektes Gesicht von der Kapuze verborgen war, kam sie sich vor wie ein auferstandenen Geist, der neidisch die Lebenden beobachtete und versucht sich daran zu erinnern, wie es gewesen war, auch am Leben zu sein."


Dazu kommt dass eigentlich nichts Neues passiert und das Buch im Aufbau sehr starke Parallelen zu "Ugly" hat. Zuerst eine lange Beschreibung des Pretty-Daseins, das Nehmen des Heilmittel und zum Ende hin auch wieder eine Flucht in die Wildnis. Klingelt es da bei jemandem? Für mich war dieser Zwischenteil ein typischer Überbrückungsband, wie man ihn leider so oft bei Trilogien findet. Ich finde es wirklich schade, dass der Autor hier nicht die Möglichkeit gefunden hat, die ganze eigentliche Story wesentlich einfacher zusammenzufassen und sofort ohne weitere unnötige Umwege in die gewünschte Richtung zu lenken. In diesem Format kam bei mir kaum Spannung auf, da die vielen Geschehnisse zwar ganz unterhaltsam zu lesen waren, die Handlung aber um kein Stück voran brachten.


"Du solltest die Welt so sehen wie ich, Tally." "Sie bieten mir einen Job an? Als Special?"
"Keinen Job. Eine komplett neue Existenz."


Besonders geärgert hat mich, dass wir hier fast gar nichts mehr über die Hintergründe des dystopischen Pretty-Ugly-Special-Systems erfahren, in dem die Geschichte spielt. Schon der erste Teil war kein tiefgründiges Meisterwerk, mir hat die dargestellte Grundidee aber sehr gut gefallen. Die Idee, die Evolution und die Gleichheit aller Menschen als gute Begründung für übergreifende Schönheitsoperationen anzusetzen, ist wirklich logisch und innovativ, genau wie die interessante Umsetzung in New Prettytown und Uglyville. Da im Anfangsband die präsentierte Gesellschaft nur recht lückenhaft angerissen wird und man nur einen groben Überblick über die Lebensweise der Menschen, die Luxusprobleme und die Oberflächlichkeit, die überhand nimmt, wenn jegliche Individualität verloren geht, bekommt, hätte ich es hier aber dringend erwartet, dass wir mehr über die Gesellschaft der Pretties und Uglies erfahren. Dass hier leider Großteils nicht viel Neues passiert und wir auch keine interessanten Hintergrundinformationen mehr präsentiert werden, die den Blick auf die Handlung nochmal verändern oder auch nur einen Schlenker oder gar Twist im Plot andeuten, hat für mich sehr viel Potential verschenkt.

Der Schreibstil ist noch schlichter und oberflächlicher als zuvor, was angesichts der Zielgruppe der Leser und dem geringen Anspruch der Handlung jedoch vollkommen in Ordnung ist. Neben der nervigen und wenig einfühlsamen Wortwahl, über die ich mich oben schon beschwert habe, lässt sich das Buch flüssig und schnell lesen. Die 400 Seiten lesen sich wie 200, hinterlassen dafür aber wenig Eindruck.


"Wir haben es geschafft, Tally. Wir sind frei!"
Sie schaute in seine Augen und die Erkenntnis, dass sie endlich hier waren, am Stadtrand, am Anfang der Freiheit, verursachte ihr ein Schwindelgefühl.
"Ja. Wir haben es geschafft."


Bei den Charakteren sehe ich ein weiteres Problem. Wieder erzählt hier Tally als personaler Er-Erzähler mit Innensicht. Seltsamerweise ist man hier aber viel näher an ihren Gefühlen und Gedanken dran, was ich genau an dieser Stelle der Handlung gar nicht verstehen konnte. Hier hätte ich mir wirklich ein wenig mehr Distanz gewünscht, um ihr Verhalten aus der Ferne begutachten zu können. Denn wo sie zuvor noch als vielfältige Person, die in verschiedenen Szenen versucht, jemand anderes zu sein - naive Bürgerin, gewitzte Rebellin, besorgte Freundin, Spionin, Heldin - präsentiert wurde, verliert sie hier durch den Gehirnschaden erstmal komplett ihr Profil und steht dann langsam als fast andere Person wieder auf. Als sie es schließlich schafft, die stupiden, idiotischen, naiven und abgekoppelten Denkweisen abzustreifen, konnte ich sie nur schwer mit der Person in Einklang bringen, die sie mal war. Mir fehlte ihre echt, ehrliche und ungeschönte Authentizität, ihre fehlerhafte Teenagerseite mit naiven Wünschen, Ängsten, unnachvollziehbaren Gedankengängen, Trotzphasen und Höhenflügen. Irgendwie scheint sie sich während der ganzen Pretty-Sache verändert, scheint sie irgendwie erwachsen geworden zu sein, ohne dass der Leser davon irgendetwas mitbekommt. Ich hatte plötzlich das Gefühl, das Gefühl für die eigene Protagonistin verloren zu haben und sie gar nicht mehr richtig zu kennen. Das wirft natürlich im Verständnis der Geschichte natürlich recht stark zurück.


"Bald würden sie springen müssen, im freien Fall, bis ihre Hubbretter das Magnetgitter der Stadt spürten und sie auffingen. Es war nicht so einfach wie ein Sturz mit einer Bungeejacke, aber auch nicht zu schwierig, hoffte Tally. Als sie nach unten sah schüttelte sie den Kopf und seufzte. Manchmal kam es ihr so vor, als sei ihr Leben eine Serie von Stürzen aus immer größerer Höhe..."


Auch David erkennt sie fast nicht mehr wieder, vom rein äußerlichen mal abgesehen. Da passt es natürlich ganz wunderbar ins Konzept, dass Tally ihn sowieso schon lange abgeschrieben und ersetzt hatte: durch den hübschen Pretty Zane. Dass sie sich nicht mehr an David erinnern kann mag ja einleuchten, dass sie sich aber sofort und ohne jedes mulmige Gefühl in die nächste Beziehung stürzt ist ein wenig fragwürdig. Jetzt hoffe ich mal, dass wir es im letzten Teil nicht mit einer Dreiecksbeziehung zu tun bekommen, dann wäre ich mit meinem Latein wirklich am Ende, was diese Geschichte anbelangt.


"Pretties mochten keine Konflikte. Pretties gingen keine Risiken ein. Pretties sagten nicht Nein. Aber Tally war keine Pretty mehr. Sie packte ihr Hubbrett und ließ sich ins Leere fallen."


Interessant wird der Roman nur nochmal gegen Ende. Als Tally nach ihrer Flucht auf ein geheimnisvolles Reservat trifft, in dem Menschen auf ganz ursprüngliche Art und Weise leben und sie als Art Gottheit verehren. Diese Idee hat für mich das Buch gerade nochmal retten können, sodass ich dem letzten Teil "Special - Zeig dein wahres Gesicht" wohl doch nochmal eine Chance geben werde.



Fazit:

Eine sehr durchwachsene Fortsetzung, die meine Erwartungen nicht erfüllen konnte und unter den typischen Symptomen eines Trilogie-Mittelteils litt. Meine Hoffnung auf einen guten Abschluss ruht nun ganz auf dem letzten Teil!

Veröffentlicht am 18.02.2018

"Du gehörst mir, Kleine Eule!"

Gated - Sie sind überall
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Allgemeines:

Titel: Gated - Sie sind überall
Autor: Amy Christine Parker
Verlag: dtv (1. Mai 2015)
Genre: Thriller
ISBN-10: 3423761083
ISBN-13: 978-3423761086
ASIN: B00SMRWZJW
Vom Hersteller empfohlenes ...

Allgemeines:

Titel: Gated - Sie sind überall
Autor: Amy Christine Parker
Verlag: dtv (1. Mai 2015)
Genre: Thriller
ISBN-10: 3423761083
ISBN-13: 978-3423761086
ASIN: B00SMRWZJW
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 14 - 16 Jahre
Seitenzahl: 336 Seiten
Originaltitel: Astray
Preis: 14,99€ (Kindle-Edition)
16,95€ (Gebundene Ausgabe)
Weitere Bände: Gated - Die letzten 12 Tage



Inhalt:

"Mutig zu sein, bedeutet nicht, keine Angst zu haben; es bedeutet nur, dass man in der Lage ist, trotz seiner Angst zu handeln", sagte er. "Und das kannst du außerordentlich gut." Er tätschelt mir den Kopf und ich spüre seine Wärme noch, als er die Hand längst weggezogen hat."

Die Gemeinschaft von Mandrodage Meadows ist offiziell aufgelöst, die ehemaligen Mitglieder leben in Freiheit, und Pioneer, ihr brandgefährlicher Führer, wartet hinter Gittern auf seinen Prozess. Lyla glaubt, das Böse sei besiegt – doch während sie versucht, sich in Codys Familie einzuleben und einen normalen Teenageralltag zu führen, lenkt Pioneer aus dem Gefängnis heraus unbemerkt weiter die Geschicke der Gemeinschaft. Er und seine Jünger haben nur ein Ziel: Sie wollen Lyla wieder zu einer der ihren machen; koste es, was es wolle ...


Bewertung:

"Ein guter Hirte
legt sich nicht schlafen,
solange sich eines seiner Schafe
auf Abwegen befindet."
-Pioneer, Gemeindeführer -

Nach dem fesselnden ersten Teil war bei mir nicht sofort klar, ob ich die Fortsetzung ebenfalls lesen möchte. Denn eigentlich war die Geschichte nach Band 1 relativ abgeschlossen und zu einem logischen Ende gebracht. Nachdem ich Band 2 nun gelesen habe, wurde mir aber klar, wie dringend dieser noch nötig war: nicht nur zu unserer Unterhaltung, damit wir noch ein Teil mit fiebern können. Nein, dieser Teil zeigt, dass nach einer spektakulären Befreiungsaktion noch nicht immer Schluss mit der Geschichte ist, dass ein polizeilich unterstützter Showdown keinem ganzen Leben Gehorsam und Glauben ein Ende setzen kann, sondern dass das Entkommen aus den gefährlichen Verstrickungen einer Sekte viel schwieriger zu lösen ist und manche Abhängigkeiten niemals verfliegen.


"Du gehörst mir, Kleine Eule."


Das Cover ist dem ersten Band in Machart und Motiv sehr ähnlich. Wo zuvor ein Wald und Brauntöne zusehen waren, dominieren hier dunkle Grünschattierungen und das Setting ist die Wohnwagensiedlung, in der die Gemeinde nun lebt. Gleichgeblieben ist jedoch die düstere Grundstimmung und das übernatürlich anmutende Licht am Ende der Dunkelheit, das eher wieder an ein Weltuntergangsszenario denken lässt, als an einen Thriller um eine außer Kontrolle geratene Sekte. Mit dem verzerrt, verschwommenen Blick, der sich hier durch das Grün besser ausmachen lässt und super aufzeigt, wie entrückt der Blick auf die Realität in der Geschichte manchmal ist und dem mysteriösen Vignetten-Effekt verbreitet es eine packende, geheimnisvolle Stimmung und auch die Silhouette des Mädchens, das auf ein helles Licht zuhält stimmt den Betrachter auf die Geschichte ein. Alles in allem wird durch den Titel, bei dem sich nur der Untertitel ändert, was den Wiedererkennungswert steigert, das Cover und durch die ganze restliche Gestaltung wunderbar auf den kommenden Thriller eingestimmt.


Erster Satz: "Es ist einen Monat her, seit die Welt untergehen sollte."


Mit diesem Satz beginnt dieses Final der kurzen Dilogie um das junge Mädchen Lyla in ihrem Kampf gegen die Sekte um ihren Anführer Pioneer und ordnet die folgende Geschichte gleich zeitlich ein. Ein Monat ist es her, seit die Welt untergehen sollte, sie es aber nicht tat und stattdessen Pioneer in einer haarsträubenden Polizeiaktion festgenommen wurde. Ein Monat sitzt er jetzt schon in Haft und wartet auf seinen Prozess, der bald starten wird, ein Monat wohnt Lyla bei Codys Familie und versucht alles zu verarbeiten, was sie in den letzten Monaten erlebt hat. Ein Monat, nach dem sich alles der Normalität zuwenden sollte, doch was ist ein einziger Monat im Vergleich zu mehreren Jahrzehnten Gehirnwäsche?
Als versteckte Drohungen bei ihr auftauchen und sie auf Schritt und Tritt verfolgt wird, muss Lyla sich eingestehen, dass Pioneer auch noch inhaftiert in den Köpfen ihrer Gemeinde wütet und sie mit Lügen auf sie hetzt. Und als ihre Gemeinde dann auch noch das erneut nahende Ende ankündigt und sich alles Geschehene zu wiederholen scheint, muss sie erkennen, dass sie noch lange nicht entkommen ist. Welchen Preis ist sie bereit für ihre Freiheit zu zahlen?


"Wie lange wird es dauern, bis ich frei bin? (...) Ich habe ihn zweimal getroffen. In die Brust. Aus nächste Nähe. Die Kugeln haben sein Herz nur Millimeter verpasst. Er müsste tot sein. Er hätte sterben müssen."


"Once you’re in, you’re in for life . . . or death.“, steht auf dem Cover der englischsprachigen Ausgabe und kein Satz könnte die hier auftretende Problematik besser beschreiben. Auch wenn Lyla versucht an Codys Seite und mit Hilfe von ihrer Therapeutin Mrs. Rosen mit ihrer Situation klarzukommen, ihren Platz in den neuen Gesellschaft zu suchen und neue Möglichkeiten auszuloten, lässt sie die Gemeinde einfach nicht los. Ihre alten Ängste und Zweifel kommen immer wieder hoch, sodass sie während des Prozesses um Pioneer immer wieder in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Auch wenn sie zum ersten Mal eine High-School besucht, ein Date hat, ein Restaurant besucht, Filme schaut und tut, was andere Teenager in ihrem Alter auch tun, kann sie die verpassten Jahre nicht aufholen und Albträume suchen sie jede Nacht heim. Auch wenn die Handlung zu Beginn ein wenig auf der Stelle tritt und sich ganz mit Lylas Alltag und ihren Gefühlen bezüglich des Prozesses beschäftigt, wird das Erzähltempo schon bald wieder gehörig angezogen. Die Autorin schafft es hier wieder ganz wunderbar, mit leisen Worten und Situationen, den Leser zuerst in Sicherheit zu wiegen, dann aber immer wieder kleine Details einzufädeln, welches einem das Blut in den Adern gefrieren und einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen lassen und nach und nach das immer gefährlicher anmutende Gesamtbild offenbaren. Denn als Lyla immer wieder eine kleine Eule aus Holz in ihren Sachen findet und schließlich eine Schleiereule als Warnung direkt vor ihrem Augen getötet wird ist klar: die Gemeinde schreckt vor nichts zurück, um sie zurückzuholen.


"Komm zurück in die Herde, zurück in die Herde.
Dein Leib muss schon bald entseelt in die Erde.
Das Ende ist nah, er ruft die Schafe zu sein.
Eine andere Weide hast du hier nicht."
"Als Ganzes sind wird stark.
Wir sind ein Kopf.
Ein Körper.
Ein Geist.
Immer"
(...) Ich habe das Gefühl mich gleich übergeben zu müssen. Ich mag die Gemeinde verlassen haben, aber ich bin sie nicht los. Ich werde sie niemals los sein."


Zusätzlich kommt erschwerend dazu, dass Lyla mehr denn je zwischen der Gemeinde und den Außenstehenden steht, zu beiden aber nicht ganz dazuzugehören scheint. Die Stadtbewohner sehen in ihr eine Verrückte, ein Gemeindemitglied, eine Gefahr für ihre eigenen Kinder, die Gemeinde sieht in ihr eine Abtrünnige, die es zurückzuholen gilt. Nicht zuletzt die ambivalenten Reaktionen der Einwohner von Culver Creek auf die Gemeinde machen dieses Buch auch so authentisch. Die einen fürchten sie, fürchten ihren Wahnsinn, die Ansteckungsgefahr damit und wollen sie nicht in die Nähe ihrer Kinder lassen, die anderen lachen sie aus, wenn sie mit verstränkten Händen auf dem Boden sitzen, beten, psalmodieren und die kahlen Köpfe das irre Bild vervollständigen. Es entstehen zwei Lager, die sich gegenseitig für verrückt und dumm halten - und Lyla steht direkt dazwischen.


"Der Tag der Abrechnung naht. Ihr werdet noch an mich denken, wenn es so weit ist. Dann werdet ihr sehen, dass uns Pioneer wirklich ein Prophet ist, aber es wird zu spät sein. Ihr hattet eure Chance zu bereuen und ihr habt sie vergeudet."


Und trotz dass die Gemeindemitglieder mit ihren gruseligen Liedern und Psalmen, die sie ständig in der Öffentlichkeit singen, den kahlgeschorenen Köpfen, mit denen sie ihre Zugehörigkeit zu ihrem Propheten Pioneer zeigen wollen und ihre Versteifung in noch mehr Lügen, immer irrer und gefährlicher erscheinen, kommt Lyla doch wieder ins Zweifeln. Dass ein paar Worte, nachts in ein Walky-Talky gehaucht ihre Beobachtungen und Erinnerungen anzweifeln lassen, dass sie bald gar nicht mehr weiß, was sie glauben soll, wenn einige Minuten in Gegenwart der Gemeinde, Stunden der Therapie zunichte machen, zeigt wieder auf sehr frustrierende und einfühlsame Art und Weise wie eindrücklich und wirkungsvoll die Manipulationen der anderen Sektenmitglieder sind und dass Pioneer immer noch die Fäden in der Hand hält.


"Manchmal vermisse ich sie - die Gemeinde. Weil ich noch nicht hierher gehöre, Cody. Noch nicht, nicht ganz ... vielleicht auch nie wirklich. Was ist, wenn ich nicht normal sein kann?"
Ganz sanft legt Cody mir die Hand unter das Kinn und hebt es an, bis ich ihm in die Augen schaue. "Zufällig finde ich, dass Normalsein völlig überschätzt wird."


Als Leser ist es sehr beklemmend zusehen zu müssen, wie Lyla und die ganze Stadt Culver Creek auf das nächste Unglück zusteuert und man rein gar nichts dagegen tun kann. Ähnlich wie in Band 1 beginnen sich die Ereignisse im letzten Drittel geradezu zu überschlagen man kann das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen. Die Spannung steigert sich ins Unermessliche als Lyla sich schließlich dazu gezwungen sieht, zur Gemeinde zurückzukehren um die Stadt zu schützen und eine Actionszene jagt die nächste. Man leidet mit, hofft mit und fürchtet mit, als Lyla immer verzweifelter versucht, Pioneer und der Gemeinde zu entkommen, stattdessen aber immer mehr in ihre ausgebreiteten, grausamen Arme läuft.


"Das ist nicht fair. Alle wollen etwas von mir. Will möchte, dass ich wieder seine Versprochene werde, Jack will meine Geschichte, Pioneer meine Seele, meinen Eltern meinen Gehorsam und Brian meine Reue. Alle erwarten, dass ich weiß, was ich zu tun habe, aber das tue ich nicht. Ich wünschte, es wäre so."


Wieder lässt Amy Christine Parker Lyla selbst aus der Ich-Perspektive im Präsens erzählen. Dadurch dass Lyla selbst erzählt, sind wir näher am Geschehen und erleben ihre Gefühle aus erster Hand, wissen aber auf der anderen Seite nur was sie weiß, wodurch die Spannung weiter aufgebaut werden kann. Daneben ist Amy Parkers Schreibstil wieder recht einfach, nüchtern und kühl ohne emotionale Ausuferungen, dafür umso rasanter und schonungsloser am Ende. Dass die Liebesgeschichte hier wieder nicht zu viel Raum einnimmt und nicht breitgetreten wird, auch wenn Lyla jetzt sogar bei Cody wohnt, hat mir wieder sehr gut gefallen. Nachdem sie schon in Band 1 verdammt viel Willensstärke und Mut bewiesen hat, muss die junge Protagonistin auch hier wieder heftig Kämpfen. Ihre Zweifel, ihre Angst vor der Wahrheit, ihre Rückfälle machen sie umso glaubwürdiger und bringen den Leser dazu, sie immer mehr für ihre Stärke zu bewundern, gegen diese Gefühle in sich selbst anzukämpfen und sich gegen alles zu stellen, was sie jemals gekannt und an was sie jemals geglaubt hatte. Denn wenn fremde, laute Stimmen die eigene übertönen, geht man einfach in einer Gemeinschaft unter und verirrt sich in Gefilden, in denen man eigentlich gar nicht sein möchte.


"Ich kann dein Zuhause sein, wenn du mich lässt." Die Worte dringen mir direkt ins Herz und bleiben dort stecken. (...) Die Stimmen von Pioneer und Mr Brown in meinem Kopf verstumme. Die einzige Stimme, die ich höre, ist meine eigene."


Allein die Nebencharaktere haben mich in der ersten Hälfte des Romas etwas enttäuscht, was der einzige Grund ist, weshalb ich hier keine vollständigen 5 Punkte vergeben will. Während das Handeln Lylas wunderbar verständlich wird und auch die versteifte und irrsinnige Haltung einzelner Gemeindemitgliedern, wie zum Beispiel Mr. Brown, welcher sich schon in Band 1 als skrupellos und blindwütig herausgestellt hat, oder Lylas Mutter, die am liebsten einfach komplett vor der ganzen Welt fliehen würde, logisch hervorkommt, bleibt sehr lange etwas unlogisch weshalb die anderen Mitglieder der Sekte, wie zum Beispiel die eigentlich aufgeweckten Freunde Brian und Will weiter machen und das Netz aus Lügen weiter akzeptieren, wo Lyla doch eigentlich genügend Argumente geliefert hätte, sich abzugrenzen. Auch wenn in erschreckenden Szenen am Ende klar wird, was die Gemeinde für grausame Gehirnwäsche betreibt und welche Mittel sie einsetzen um Lyla wieder von ihrer Sache zu überzeugen, finde ich es ein wenig fragwürdig, dass alle geschlossen weiter hinter Pioneer stehen, auch wenn er bewiesenermaßen ein Mörder ist und weiter blind einer Sache hinterherrennen, die ganz klar falsch war, denn der Termin für die Armageddon ist ja ungenutzt verstrichen. Gegen Ende werden die Positionen der einzelnen Nebencharaktere noch weiter ausgearbeitet, ich hätte mir aber von Anfang an noch ein bisschen besseres Porträt eines anderen Standpunktes gewünscht.


"Grinsend schaue ich über die Schulter zu Cody. Ich fühle mich mit einem mal ganz merkwürdig. Unbeschwert. Selbstbewusst. Im siebten Himmel.
Ich kann mich nicht erinnern, mich schon einmal so gefühlt zu haben, auch nicht in Mandrodage Meadows. Mein Glücksgefühl von dort kommt mir dumpf vor im Vergleich zu diesem. Das hier ist glücklich hoch zehn. Ich fühle mich frei."


Besonders schade fand ich aber, dass Pioneer, die zweite Säule, auf dem diese Reihe gebaut ist, nur noch so wenig auftaucht und mehr wie ein dunkles Omen über der Handlung schwebt, als wirklich als richtige Person. Natürlich musste das gewisser Maße passieren, hier wird der wahrlich genialer Antagonist jedoch ein wenig als fanatischer Wahnsinniger abgestempelt, ohne das Hintergründe für sein Handeln erklärt wurden. Ich hätte mir von diesem Teil also ein wenig mehr Tiefgründigkeit in Bezug auf andere Charaktere gewünscht, gerade weil ich es der Geschichte durchaus zugetraut hätte, noch eine Schippe drauf zu legen.


"Wir sind alle unser eigenes Gefängnis, alle unsere
eigenen Wächter, sitzen alle unsere eigene Zeit ab.
Das Gefängnis ist in euren Köpfen.
Seht ihr denn nicht, dass ich frei bin?"
- Charles Manson, Anführer der Manson Family-


Positiv aufgefallen sind mir hingegen wieder die Zitate, die die Kapitelanfänge zieren. Wie auch schon in Band 1 beginnen wir mit den kranken Weltanschauungen Pioneers, die wie häppchenweise in kurzen Gänsehaut-Sätzen präsentiert bekommen, bekommen aber im Laufe der Handlung zunehmend Einblicke in die ebenso verstörenden Meinungen einzelner Gemeindemitgliedern. Zusätzlich sind auch wieder einige Zitate von realen Personen wie Jim Jones, dem ehemaligen Sektenführer des Peoples Temple, Charles Mansons oder David Koresh, dem Anführer der Branch Davidians, dabei. In Zusammenhang mit diesen Realitätsbezügen erscheinen die Ansichten der Gemeinde noch viel unheimlicher, denn einmal mehr wird klar, dass das Buch keine gesellschaftliche Dystopie zeichnet, sondern von der Realität vieler Menschen gar nicht so weit entfernt ist. Gerade in den USA gibt es etliche Sekten, es gibt also in der Tat einige Menschen für die der dargestellte Thriller bittere Realität ist. Gerade in Bezug auf das Ende, das nochmal alles herausholt und in einem epischen, grausamen und hochspannenden Showdown gipfelt, wird die Abhängigkeit und die große und gefährliche Macht hinter dem Sog einer Sekte noch viel deutlicher als in Band 1.


"Sie halten die Gemeinde für böse. Die Gemeinde hält sie für böse. Beide Seiten sind überzeugt, die Guten zu sein. Nur warum sehe ich dann auf beiden Seiten so viel Hass und Wut?"


Ganz besonders sensibilisiert diese Romanreihe jedoch dazu, sich nicht von Idealen und Grundsätzen leiten zu lassen, sondern selbst nachzudenken. Es wird klar, dass fast jeder aus der Überzeugung heraus handelt, selbst Gut zu sein, dass es in der menschlichen Natur liegt, zwischen Gut und Böse zu entscheiden und dass diese Entscheidung häufig positiv für die Person selbst ausfällt. Ganz viel geht es hier darum, wer nun zu welcher Seite gehört, Gut oder Böse und wie man sich vor dem Bösen schützen kann. Dass es nichts nutzt, abseits der normalen Gesellschaft zu leben, um dem Bösen zu entfliehen, hat schon der erste Teil klar gemacht. Dass es zudem schwer ist, zu entscheiden, was Gut und was Böse ist, ist zusätzlich bekannt. Doch hier wird nochmal deutlich, dass es gar nichts bringt, vor dem "Bösen" zu fliehen, sondern sich lieber ganz darauf konzentrieren sollte, sich selbst auf der entgegengesetzten Seite zu befinden und sich deshalb immer zu fragen, ob man auch wirklich richtig steht. Und wenn man wie Lyla mal auf Abwegen gerät, muss man sich eben zusammenreißen und die Seite wechseln, die Welt ist gut genug, damit solche Menschen dann Hilfe bekommen. Deshalb möchte ich meine Rezension mit meinem Lieblingszitat beenden, welches wohl die Hauptaussage des Romans widerspiegelt:


"Die Gemeinde wurde auf der Vorstellung gegründet, dass uns das Böse nicht erreichen kann, wenn wir uns von der Welt fernhalten. Aber wie sich herausgestellt hat, spielt es keine Rolle, was man tut oder wohin man geht, weil einen das Böse trotzdem findet. Es geht nicht darum, es zu verhindern; es geht darum, es auf die andere Seite zu schaffen, wenn es einen gefunden hat."


Fazit:

Ein packendes Finale, das auf höchst faszinierende, erschreckende und total realistische Art und Weise die gefährlichen Verstrickungen einer Sekte darstellt. Fesselnd, verstörend und hochspannend.

Veröffentlicht am 18.02.2018

"Du gehörst mir, Kleine Eule!"

Gated - Sie sind überall
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Allgemeines:

Titel: Gated - Sie sind überall
Autor: Amy Christine Parker
Verlag: dtv (1. Mai 2015)
Genre: Thriller
ISBN-10: 3423761083
ISBN-13: 978-3423761086
ASIN: B00SMRWZJW
Vom Hersteller empfohlenes ...

Allgemeines:

Titel: Gated - Sie sind überall
Autor: Amy Christine Parker
Verlag: dtv (1. Mai 2015)
Genre: Thriller
ISBN-10: 3423761083
ISBN-13: 978-3423761086
ASIN: B00SMRWZJW
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 14 - 16 Jahre
Seitenzahl: 336 Seiten
Originaltitel: Astray
Preis: 14,99€ (Kindle-Edition)
16,95€ (Gebundene Ausgabe)
Weitere Bände: Gated - Die letzten 12 Tage



Inhalt:

"Mutig zu sein, bedeutet nicht, keine Angst zu haben; es bedeutet nur, dass man in der Lage ist, trotz seiner Angst zu handeln", sagte er. "Und das kannst du außerordentlich gut." Er tätschelt mir den Kopf und ich spüre seine Wärme noch, als er die Hand längst weggezogen hat."

Die Gemeinschaft von Mandrodage Meadows ist offiziell aufgelöst, die ehemaligen Mitglieder leben in Freiheit, und Pioneer, ihr brandgefährlicher Führer, wartet hinter Gittern auf seinen Prozess. Lyla glaubt, das Böse sei besiegt – doch während sie versucht, sich in Codys Familie einzuleben und einen normalen Teenageralltag zu führen, lenkt Pioneer aus dem Gefängnis heraus unbemerkt weiter die Geschicke der Gemeinschaft. Er und seine Jünger haben nur ein Ziel: Sie wollen Lyla wieder zu einer der ihren machen; koste es, was es wolle ...


Bewertung:

"Ein guter Hirte
legt sich nicht schlafen,
solange sich eines seiner Schafe
auf Abwegen befindet."
-Pioneer, Gemeindeführer -

Nach dem fesselnden ersten Teil war bei mir nicht sofort klar, ob ich die Fortsetzung ebenfalls lesen möchte. Denn eigentlich war die Geschichte nach Band 1 relativ abgeschlossen und zu einem logischen Ende gebracht. Nachdem ich Band 2 nun gelesen habe, wurde mir aber klar, wie dringend dieser noch nötig war: nicht nur zu unserer Unterhaltung, damit wir noch ein Teil mit fiebern können. Nein, dieser Teil zeigt, dass nach einer spektakulären Befreiungsaktion noch nicht immer Schluss mit der Geschichte ist, dass ein polizeilich unterstützter Showdown keinem ganzen Leben Gehorsam und Glauben ein Ende setzen kann, sondern dass das Entkommen aus den gefährlichen Verstrickungen einer Sekte viel schwieriger zu lösen ist und manche Abhängigkeiten niemals verfliegen.


"Du gehörst mir, Kleine Eule."


Das Cover ist dem ersten Band in Machart und Motiv sehr ähnlich. Wo zuvor ein Wald und Brauntöne zusehen waren, dominieren hier dunkle Grünschattierungen und das Setting ist die Wohnwagensiedlung, in der die Gemeinde nun lebt. Gleichgeblieben ist jedoch die düstere Grundstimmung und das übernatürlich anmutende Licht am Ende der Dunkelheit, das eher wieder an ein Weltuntergangsszenario denken lässt, als an einen Thriller um eine außer Kontrolle geratene Sekte. Mit dem verzerrt, verschwommenen Blick, der sich hier durch das Grün besser ausmachen lässt und super aufzeigt, wie entrückt der Blick auf die Realität in der Geschichte manchmal ist und dem mysteriösen Vignetten-Effekt verbreitet es eine packende, geheimnisvolle Stimmung und auch die Silhouette des Mädchens, das auf ein helles Licht zuhält stimmt den Betrachter auf die Geschichte ein. Alles in allem wird durch den Titel, bei dem sich nur der Untertitel ändert, was den Wiedererkennungswert steigert, das Cover und durch die ganze restliche Gestaltung wunderbar auf den kommenden Thriller eingestimmt.


Erster Satz: "Es ist einen Monat her, seit die Welt untergehen sollte."


Mit diesem Satz beginnt dieses Final der kurzen Dilogie um das junge Mädchen Lyla in ihrem Kampf gegen die Sekte um ihren Anführer Pioneer und ordnet die folgende Geschichte gleich zeitlich ein. Ein Monat ist es her, seit die Welt untergehen sollte, sie es aber nicht tat und stattdessen Pioneer in einer haarsträubenden Polizeiaktion festgenommen wurde. Ein Monat sitzt er jetzt schon in Haft und wartet auf seinen Prozess, der bald starten wird, ein Monat wohnt Lyla bei Codys Familie und versucht alles zu verarbeiten, was sie in den letzten Monaten erlebt hat. Ein Monat, nach dem sich alles der Normalität zuwenden sollte, doch was ist ein einziger Monat im Vergleich zu mehreren Jahrzehnten Gehirnwäsche?
Als versteckte Drohungen bei ihr auftauchen und sie auf Schritt und Tritt verfolgt wird, muss Lyla sich eingestehen, dass Pioneer auch noch inhaftiert in den Köpfen ihrer Gemeinde wütet und sie mit Lügen auf sie hetzt. Und als ihre Gemeinde dann auch noch das erneut nahende Ende ankündigt und sich alles Geschehene zu wiederholen scheint, muss sie erkennen, dass sie noch lange nicht entkommen ist. Welchen Preis ist sie bereit für ihre Freiheit zu zahlen?


"Wie lange wird es dauern, bis ich frei bin? (...) Ich habe ihn zweimal getroffen. In die Brust. Aus nächste Nähe. Die Kugeln haben sein Herz nur Millimeter verpasst. Er müsste tot sein. Er hätte sterben müssen."


"Once you’re in, you’re in for life . . . or death.“, steht auf dem Cover der englischsprachigen Ausgabe und kein Satz könnte die hier auftretende Problematik besser beschreiben. Auch wenn Lyla versucht an Codys Seite und mit Hilfe von ihrer Therapeutin Mrs. Rosen mit ihrer Situation klarzukommen, ihren Platz in den neuen Gesellschaft zu suchen und neue Möglichkeiten auszuloten, lässt sie die Gemeinde einfach nicht los. Ihre alten Ängste und Zweifel kommen immer wieder hoch, sodass sie während des Prozesses um Pioneer immer wieder in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Auch wenn sie zum ersten Mal eine High-School besucht, ein Date hat, ein Restaurant besucht, Filme schaut und tut, was andere Teenager in ihrem Alter auch tun, kann sie die verpassten Jahre nicht aufholen und Albträume suchen sie jede Nacht heim. Auch wenn die Handlung zu Beginn ein wenig auf der Stelle tritt und sich ganz mit Lylas Alltag und ihren Gefühlen bezüglich des Prozesses beschäftigt, wird das Erzähltempo schon bald wieder gehörig angezogen. Die Autorin schafft es hier wieder ganz wunderbar, mit leisen Worten und Situationen, den Leser zuerst in Sicherheit zu wiegen, dann aber immer wieder kleine Details einzufädeln, welches einem das Blut in den Adern gefrieren und einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen lassen und nach und nach das immer gefährlicher anmutende Gesamtbild offenbaren. Denn als Lyla immer wieder eine kleine Eule aus Holz in ihren Sachen findet und schließlich eine Schleiereule als Warnung direkt vor ihrem Augen getötet wird ist klar: die Gemeinde schreckt vor nichts zurück, um sie zurückzuholen.


"Komm zurück in die Herde, zurück in die Herde.
Dein Leib muss schon bald entseelt in die Erde.
Das Ende ist nah, er ruft die Schafe zu sein.
Eine andere Weide hast du hier nicht."
"Als Ganzes sind wird stark.
Wir sind ein Kopf.
Ein Körper.
Ein Geist.
Immer"
(...) Ich habe das Gefühl mich gleich übergeben zu müssen. Ich mag die Gemeinde verlassen haben, aber ich bin sie nicht los. Ich werde sie niemals los sein."


Zusätzlich kommt erschwerend dazu, dass Lyla mehr denn je zwischen der Gemeinde und den Außenstehenden steht, zu beiden aber nicht ganz dazuzugehören scheint. Die Stadtbewohner sehen in ihr eine Verrückte, ein Gemeindemitglied, eine Gefahr für ihre eigenen Kinder, die Gemeinde sieht in ihr eine Abtrünnige, die es zurückzuholen gilt. Nicht zuletzt die ambivalenten Reaktionen der Einwohner von Culver Creek auf die Gemeinde machen dieses Buch auch so authentisch. Die einen fürchten sie, fürchten ihren Wahnsinn, die Ansteckungsgefahr damit und wollen sie nicht in die Nähe ihrer Kinder lassen, die anderen lachen sie aus, wenn sie mit verstränkten Händen auf dem Boden sitzen, beten, psalmodieren und die kahlen Köpfe das irre Bild vervollständigen. Es entstehen zwei Lager, die sich gegenseitig für verrückt und dumm halten - und Lyla steht direkt dazwischen.


"Der Tag der Abrechnung naht. Ihr werdet noch an mich denken, wenn es so weit ist. Dann werdet ihr sehen, dass uns Pioneer wirklich ein Prophet ist, aber es wird zu spät sein. Ihr hattet eure Chance zu bereuen und ihr habt sie vergeudet."


Und trotz dass die Gemeindemitglieder mit ihren gruseligen Liedern und Psalmen, die sie ständig in der Öffentlichkeit singen, den kahlgeschorenen Köpfen, mit denen sie ihre Zugehörigkeit zu ihrem Propheten Pioneer zeigen wollen und ihre Versteifung in noch mehr Lügen, immer irrer und gefährlicher erscheinen, kommt Lyla doch wieder ins Zweifeln. Dass ein paar Worte, nachts in ein Walky-Talky gehaucht ihre Beobachtungen und Erinnerungen anzweifeln lassen, dass sie bald gar nicht mehr weiß, was sie glauben soll, wenn einige Minuten in Gegenwart der Gemeinde, Stunden der Therapie zunichte machen, zeigt wieder auf sehr frustrierende und einfühlsame Art und Weise wie eindrücklich und wirkungsvoll die Manipulationen der anderen Sektenmitglieder sind und dass Pioneer immer noch die Fäden in der Hand hält.


"Manchmal vermisse ich sie - die Gemeinde. Weil ich noch nicht hierher gehöre, Cody. Noch nicht, nicht ganz ... vielleicht auch nie wirklich. Was ist, wenn ich nicht normal sein kann?"
Ganz sanft legt Cody mir die Hand unter das Kinn und hebt es an, bis ich ihm in die Augen schaue. "Zufällig finde ich, dass Normalsein völlig überschätzt wird."


Als Leser ist es sehr beklemmend zusehen zu müssen, wie Lyla und die ganze Stadt Culver Creek auf das nächste Unglück zusteuert und man rein gar nichts dagegen tun kann. Ähnlich wie in Band 1 beginnen sich die Ereignisse im letzten Drittel geradezu zu überschlagen man kann das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen. Die Spannung steigert sich ins Unermessliche als Lyla sich schließlich dazu gezwungen sieht, zur Gemeinde zurückzukehren um die Stadt zu schützen und eine Actionszene jagt die nächste. Man leidet mit, hofft mit und fürchtet mit, als Lyla immer verzweifelter versucht, Pioneer und der Gemeinde zu entkommen, stattdessen aber immer mehr in ihre ausgebreiteten, grausamen Arme läuft.


"Das ist nicht fair. Alle wollen etwas von mir. Will möchte, dass ich wieder seine Versprochene werde, Jack will meine Geschichte, Pioneer meine Seele, meinen Eltern meinen Gehorsam und Brian meine Reue. Alle erwarten, dass ich weiß, was ich zu tun habe, aber das tue ich nicht. Ich wünschte, es wäre so."


Wieder lässt Amy Christine Parker Lyla selbst aus der Ich-Perspektive im Präsens erzählen. Dadurch dass Lyla selbst erzählt, sind wir näher am Geschehen und erleben ihre Gefühle aus erster Hand, wissen aber auf der anderen Seite nur was sie weiß, wodurch die Spannung weiter aufgebaut werden kann. Daneben ist Amy Parkers Schreibstil wieder recht einfach, nüchtern und kühl ohne emotionale Ausuferungen, dafür umso rasanter und schonungsloser am Ende. Dass die Liebesgeschichte hier wieder nicht zu viel Raum einnimmt und nicht breitgetreten wird, auch wenn Lyla jetzt sogar bei Cody wohnt, hat mir wieder sehr gut gefallen. Nachdem sie schon in Band 1 verdammt viel Willensstärke und Mut bewiesen hat, muss die junge Protagonistin auch hier wieder heftig Kämpfen. Ihre Zweifel, ihre Angst vor der Wahrheit, ihre Rückfälle machen sie umso glaubwürdiger und bringen den Leser dazu, sie immer mehr für ihre Stärke zu bewundern, gegen diese Gefühle in sich selbst anzukämpfen und sich gegen alles zu stellen, was sie jemals gekannt und an was sie jemals geglaubt hatte. Denn wenn fremde, laute Stimmen die eigene übertönen, geht man einfach in einer Gemeinschaft unter und verirrt sich in Gefilden, in denen man eigentlich gar nicht sein möchte.


"Ich kann dein Zuhause sein, wenn du mich lässt." Die Worte dringen mir direkt ins Herz und bleiben dort stecken. (...) Die Stimmen von Pioneer und Mr Brown in meinem Kopf verstumme. Die einzige Stimme, die ich höre, ist meine eigene."


Allein die Nebencharaktere haben mich in der ersten Hälfte des Romas etwas enttäuscht, was der einzige Grund ist, weshalb ich hier keine vollständigen 5 Punkte vergeben will. Während das Handeln Lylas wunderbar verständlich wird und auch die versteifte und irrsinnige Haltung einzelner Gemeindemitgliedern, wie zum Beispiel Mr. Brown, welcher sich schon in Band 1 als skrupellos und blindwütig herausgestellt hat, oder Lylas Mutter, die am liebsten einfach komplett vor der ganzen Welt fliehen würde, logisch hervorkommt, bleibt sehr lange etwas unlogisch weshalb die anderen Mitglieder der Sekte, wie zum Beispiel die eigentlich aufgeweckten Freunde Brian und Will weiter machen und das Netz aus Lügen weiter akzeptieren, wo Lyla doch eigentlich genügend Argumente geliefert hätte, sich abzugrenzen. Auch wenn in erschreckenden Szenen am Ende klar wird, was die Gemeinde für grausame Gehirnwäsche betreibt und welche Mittel sie einsetzen um Lyla wieder von ihrer Sache zu überzeugen, finde ich es ein wenig fragwürdig, dass alle geschlossen weiter hinter Pioneer stehen, auch wenn er bewiesenermaßen ein Mörder ist und weiter blind einer Sache hinterherrennen, die ganz klar falsch war, denn der Termin für die Armageddon ist ja ungenutzt verstrichen. Gegen Ende werden die Positionen der einzelnen Nebencharaktere noch weiter ausgearbeitet, ich hätte mir aber von Anfang an noch ein bisschen besseres Porträt eines anderen Standpunktes gewünscht.


"Grinsend schaue ich über die Schulter zu Cody. Ich fühle mich mit einem mal ganz merkwürdig. Unbeschwert. Selbstbewusst. Im siebten Himmel.
Ich kann mich nicht erinnern, mich schon einmal so gefühlt zu haben, auch nicht in Mandrodage Meadows. Mein Glücksgefühl von dort kommt mir dumpf vor im Vergleich zu diesem. Das hier ist glücklich hoch zehn. Ich fühle mich frei."


Besonders schade fand ich aber, dass Pioneer, die zweite Säule, auf dem diese Reihe gebaut ist, nur noch so wenig auftaucht und mehr wie ein dunkles Omen über der Handlung schwebt, als wirklich als richtige Person. Natürlich musste das gewisser Maße passieren, hier wird der wahrlich genialer Antagonist jedoch ein wenig als fanatischer Wahnsinniger abgestempelt, ohne das Hintergründe für sein Handeln erklärt wurden. Ich hätte mir von diesem Teil also ein wenig mehr Tiefgründigkeit in Bezug auf andere Charaktere gewünscht, gerade weil ich es der Geschichte durchaus zugetraut hätte, noch eine Schippe drauf zu legen.


"Wir sind alle unser eigenes Gefängnis, alle unsere
eigenen Wächter, sitzen alle unsere eigene Zeit ab.
Das Gefängnis ist in euren Köpfen.
Seht ihr denn nicht, dass ich frei bin?"
- Charles Manson, Anführer der Manson Family-


Positiv aufgefallen sind mir hingegen wieder die Zitate, die die Kapitelanfänge zieren. Wie auch schon in Band 1 beginnen wir mit den kranken Weltanschauungen Pioneers, die wie häppchenweise in kurzen Gänsehaut-Sätzen präsentiert bekommen, bekommen aber im Laufe der Handlung zunehmend Einblicke in die ebenso verstörenden Meinungen einzelner Gemeindemitgliedern. Zusätzlich sind auch wieder einige Zitate von realen Personen wie Jim Jones, dem ehemaligen Sektenführer des Peoples Temple, Charles Mansons oder David Koresh, dem Anführer der Branch Davidians, dabei. In Zusammenhang mit diesen Realitätsbezügen erscheinen die Ansichten der Gemeinde noch viel unheimlicher, denn einmal mehr wird klar, dass das Buch keine gesellschaftliche Dystopie zeichnet, sondern von der Realität vieler Menschen gar nicht so weit entfernt ist. Gerade in den USA gibt es etliche Sekten, es gibt also in der Tat einige Menschen für die der dargestellte Thriller bittere Realität ist. Gerade in Bezug auf das Ende, das nochmal alles herausholt und in einem epischen, grausamen und hochspannenden Showdown gipfelt, wird die Abhängigkeit und die große und gefährliche Macht hinter dem Sog einer Sekte noch viel deutlicher als in Band 1.


"Sie halten die Gemeinde für böse. Die Gemeinde hält sie für böse. Beide Seiten sind überzeugt, die Guten zu sein. Nur warum sehe ich dann auf beiden Seiten so viel Hass und Wut?"


Ganz besonders sensibilisiert diese Romanreihe jedoch dazu, sich nicht von Idealen und Grundsätzen leiten zu lassen, sondern selbst nachzudenken. Es wird klar, dass fast jeder aus der Überzeugung heraus handelt, selbst Gut zu sein, dass es in der menschlichen Natur liegt, zwischen Gut und Böse zu entscheiden und dass diese Entscheidung häufig positiv für die Person selbst ausfällt. Ganz viel geht es hier darum, wer nun zu welcher Seite gehört, Gut oder Böse und wie man sich vor dem Bösen schützen kann. Dass es nichts nutzt, abseits der normalen Gesellschaft zu leben, um dem Bösen zu entfliehen, hat schon der erste Teil klar gemacht. Dass es zudem schwer ist, zu entscheiden, was Gut und was Böse ist, ist zusätzlich bekannt. Doch hier wird nochmal deutlich, dass es gar nichts bringt, vor dem "Bösen" zu fliehen, sondern sich lieber ganz darauf konzentrieren sollte, sich selbst auf der entgegengesetzten Seite zu befinden und sich deshalb immer zu fragen, ob man auch wirklich richtig steht. Und wenn man wie Lyla mal auf Abwegen gerät, muss man sich eben zusammenreißen und die Seite wechseln, die Welt ist gut genug, damit solche Menschen dann Hilfe bekommen. Deshalb möchte ich meine Rezension mit meinem Lieblingszitat beenden, welches wohl die Hauptaussage des Romans widerspiegelt:


"Die Gemeinde wurde auf der Vorstellung gegründet, dass uns das Böse nicht erreichen kann, wenn wir uns von der Welt fernhalten. Aber wie sich herausgestellt hat, spielt es keine Rolle, was man tut oder wohin man geht, weil einen das Böse trotzdem findet. Es geht nicht darum, es zu verhindern; es geht darum, es auf die andere Seite zu schaffen, wenn es einen gefunden hat."


Fazit:

Ein packendes Finale, das auf höchst faszinierende, erschreckende und total realistische Art und Weise die gefährlichen Verstrickungen einer Sekte darstellt. Fesselnd, verstörend und hochspannend.

Veröffentlicht am 17.02.2018

Ungeschönt, real und berührend!

Traumsammler (DAISY Edition)
0

Allgemeines:

Titel: Traumsammler
Autor: Khaled Hosseini
Verlag: FISCHER (25. September 2014)
ISBN-10: 3596198208
ISBN-13: 978-3596198207
ASIN: B00COWO1FW
Seitenzahl: 448 Seiten
Originaltitel: And the ...

Allgemeines:

Titel: Traumsammler
Autor: Khaled Hosseini
Verlag: FISCHER (25. September 2014)
ISBN-10: 3596198208
ISBN-13: 978-3596198207
ASIN: B00COWO1FW
Seitenzahl: 448 Seiten
Originaltitel: And the Mountains Echoed
Preis: 9,99€ (Kindle-Edition)
12€ (Gebundene Ausgabe)
10,95€ (Taschenbuch)


Inhalt:

"Ich weiß eine kleine, traurige Fee,
Die wurde vom Wind davongeweht."


In ›Traumsammler‹ erzählt Khaled Hosseini die bewegende Geschichte zweier Geschwister aus einem kleinen afghanischen Dorf. Pari ist drei Jahre alt, ihr Bruder Abdullah zehn, als der Vater sie auf einem Fußmarsch quer durch die Wüste nach Kabul bringt. Doch am Ende der Reise wartet nicht das Paradies, sondern die herzzerreißende Trennung der beiden Geschwister, die ihr Leben für immer verändern wird.
Ein großer Roman, der uns einmal um die ganze Welt führt und in seiner emotionalen Intensität und Erzählkunst neue Maßstäbe setzt. Fesselnder, reicher, persönlicher als je zuvor.


Bewertung:

"Das Seil, das vor dem Ertrinken rettet, kann zu einer Schlinge werden, die einen zu erdrosseln droht."

Das ist mein erstes Buch von Khaled Hosseini und nach diesem werde ich unbedingt alle vorhergegangen und zukünftigen Lesen! Ich habe es noch nie erlebt, wie ein Autor auf so sensible und einfühlsame Art und Weise ein solch komplexes Konstrukt aus Handlungssträngen unter Kontrolle halten kann. Ich bin zutiefst beeindruckt und berührt von der Intensität mit der Lebenssinnsuche, Familiengeschichte und afghanischer Realität hier rübergebracht werden.


"Jenseits unserer Vorstellungen
Von guten und schlechten Taten
Erstreckt sich ein Feld.
Dort werde ich dich treffen."
-Dschalaluddin Rumi, 13. Jahrhundert -


Streng genommen sind das nicht wirklich die ersten Worte dieses Romans sondern nur ein vorangestelltes Zitat eines Gedichts von Rumi, dem wohl bedeutendsten arabischen Dichters, dieses Zitat passt aber so unwahrscheinlich gut auf diese Geschichte, dass ich es unbedingt anführen musste. Die wirklichen ersten Sätze stammen von Vater Saboor, der seinen zwei Kinder Abdullah und Pari in seinem ärmlichen Haus in Shadbagh eine Geschichte erzählt. Dass dieses Märchen, in dem der arme Bauer Baba Ayub, einem Dämonen einen Sohn opfern muss, den Jüngsten, Quais, um seine restliche Familie zu retten und erst Jahre später erfährt, dass er ihm damit ein wohlhabendes und glückliches Leben ermöglicht hat, Fabel für die herzzerreißenden Trennung der beiden Geschwister wird, ist dem aufmerksamen Leser schon bald klar, bei Einschlafen wissen die beiden Geschwister aber noch nicht, auf welch einschneidende Weise diese Gutenachtgeschichte ihr Schicksal spiegelt. Nach dem "Einen Finger abschneiden, um die ganze Hand zu retten"-Motto, welches auch in dem alten Märchen dargestellt wurde, bringt Saboor seine kleine Tochter Pari gleich am nächsten Tag zu reichen Pflegeeltern nach Kabul, wo diese gegen Geld aufwachsen soll. Ob sich die beiden Geschwister jemals wieder sehen werden, bleibt unklar, während sich die Geschichte erstmal einigen Rückblenden und anderen Figuren widmet, bevor sie wieder zu dem getrennten Geschwisterpaar zurückkehrt, welches zwar nicht wie im Klapptext angekündigt Haupthandlungsstrang aber wohl der rote Faden wird.


"Bis wir alt sind.
"Uralt."
"Für immer."
"Ja, für immer."
Sie drehte sich auf dem Karren zu ihm um. "Versprichst du mir das, Abollah?"
"Für immer und ewig."


Die in 1952 beginnende Geschichte über das politisch geschundene, unterdrückte und geknebelte Afghanistan erstreckt sich über 9 Kapitel, nahezu 50 Jahren bis ins moderne 2010 und entführt ungeschönt, real und berührend zu einer Familie voller verlorener Gestalten mit eindringlichen Schicksalen. Das Besondere, Mitreißende und zugleich Komplizierte der Geschichte sind die vielen Handlungsstränge, die kunstvoll über einige Jahrzehnte gespannt und feinfühlig miteinander verknüpft werden. Dabei erzählt das Buch weniger eine zusammenhängende Geschichte sondern präsentiert stattdessen eine Art Kurzgeschichtenreihe mit Protagonisten, deren Lebenswege sich mal mehr, mal weniger mit den Wegen anderer Protagonisten kreuzen.


"Wenn man nicht weiß, wo man als Mensch seinen Anfang genommen hat, kommt einem das Leben unwirklich vor. Wie ein Puzzle, tu comprends? Als würdest du dich mitten in einer Geschichte, deren Anfang du verpasst hast, fragen, wie sie begonnen hat."


Auch wenn es durch die vielen Zeitsprünge, Erzähllücken und Charakterwechsel sehr schwer ist, der Geschichte zu folgen und ich deshalb gerade zu Beginn ein wenig Schwierigkeiten hatte, in den Plot einzusteigen, was Kritiker Hosseini immer wieder vorwerfen, habe ich sehr schnell daran Gefallen gefunden, zeitweiliger Beobachter vieler verschiedenen Schicksale zu sein und die Genialität hinter dieser Puzzle-Methode des literarischen Kennenlernens entdeckt. Durch die vielen Lücken, die man sich als Leser selbst füllen muss oder eher darf, erhält die Geschichte etwas Wahrhaftiges und jedes Mal wenn sich ein gezogener Kreis schließt und der Erzählteppich, den der Autor aus dem roten Faden webt, ein Stücken größer und stabiler wird ging mein Herz ein wenig mehr auf. Genauso sollte eine Geschichte sein!


"Gott allein weiß, warum die beiden einander erwählt haben. Es war mir ein Rätsel. Nie habe ich zwischen zwei Geschöpfen eine solche Seelenverwandtschaft gespürt."


Das Setting ist dabei ebenso abwechslungsreich und bunt wie die Charaktere. Khaled Hosseini führt uns aus dem kleinen afghanischen Dorf Shadbagh in die größere Stadt Kabul, nach Paris, auf die kleine griechische Insel Tinos, nach Indien und letztendlich in die USA. Doch auch wenn der Handlungsort auch noch so weit weg von Afghanistan zu sein scheint, eine feste Verbindung zu diesem gebeutelten Land gibt es immer. An jeder Kleinigkeit, Feinheit, scheinbaren Belanglosigkeit und in jedem Nebensatz, den der Autor über dieses Land schreibt, kann man seine Liebe und Faszination für die Kultur und Landschaft und die Menschen dort ablesen. Es werden gleichsam die schönsten und hässlichsten Seiten des Heimatlandes des Autoren präsentiert, die dunkle Zeit der Invasionen der Sowjets, der Amerikaner und der Taliban findet unkommentiert und objektiv einen Platz genau wie starke Frauenfiguren, der Nationalstolz und Traditionen. Doch das Land ist mehr als nur Kulisse, es ist Ursprung und Herzstück dieser Geschichte und das konnte selbst ich spüren, die mit der arabischen Welt keinerlei Verbindung habe.


“Ich habe in Kabul manches gelernt, vor allem jedoch, dass das menschliche Verhalten chaotisch und unvorhersehbar ist und sich in kein festes Raster zwängen lässt. Trotzdem finde ich Trost in der Vorstellung eines roten Fadens oder eines Musters im Leben, das eben so langsam Gestalt annimmt wie ein Foto in der Dunkelkammer oder in der Vorstellung einer langsam sich entfaltenden Geschichte, die das Gute, das ich immer in mir zu sehen geglaubt habe, zu bestätigen scheint. Diese Geschichte hält mich am Leben."


Neben der Erzählform ist vor allem noch die Erzählweise bemerkenswert. Husseini schafft es, gleichzeitig sehr still und eindringlich; distanziert und emotional; dramatisch und ruhig zu sein und sich in jeder erdenklichen Situation an die Protagonisten anzupassen. Dabei zwingt er den Leser niemals in eine bestimmte Richtung oder beantwortet wertende Fragen nach Unterlassung, Schuld, Preis oder Sühne. Stattdessen erlebt er, beobachtet, fühlt, erkennt und beschreibt, überlässt es aber dem Leser, über das Erfahrene nachzudenken und zu urteilen. Immer wieder stößt man auf kluge Dialoge und liest Sätze, die einen noch lange beschäftigen, während man dieser Geschichte folgt, die zeitweise fast ungemütlich und teilweise schwer zu ertragen ist, so viel Schmerz und Wahrheit, wie sie enthält.


"Eine Gestalt. Sowohl weich als auch hart. Eine weiche Hand, die ihre umschließt. Ein hartes Knie, auf das sie ihre Wange bettet. Sie sucht nach einem Gesicht, aber es entgleitet ihr jedes Mal, wenn sie sich danach umdreht. Pari spürt, wie sich ein Loch in ihr auftut. Immer, während ihres ganzen Lebens, hat sie jemanden schrecklich vermisst. Jemanden, den sie von Geburt an kannte. "Bruder", sagte sie, ohne sic dessen bewusst zu sein."


Vor allem jedoch die vielen Charaktere sind das Herzstück des Buches. Grade weil ich nicht genau ausmachen konnte, wer nun Protagonist und wer Nebencharakter ist, muss man jedem genau gleich viel Aufmerksamkeit schenken. Manche Lebensgeschichten werden gänzlich erzählt, andere nur ausschnitthaft, manche werden später noch einmal aufgenommen, andere tauchen auf und verschwinden wieder. Als Leser muss man den ständigen Fluss über sich ergehen lassen, auch wenn es manchmal schwer ist, sich von liebgewonnen Charakteren zu verabschieden.
Dass immer mal wieder jemand anders aus der Ich-Perspektive, als personaler Erzähler, in einem Rückblick oder als Erinnerungs- oder Briefform berichtet, ist natürlich Großteils etwas verwirrend, wenn man aber aufmerksam dabei bleibt, erhascht man immer wieder liebevolle Details und Anspielungen.


"Jetzt dachte ich plötzlich wieder an sie und an das, was und verbunden hatte. Wenn das, was man ihr angetan hatte, einer Welle glich, die sich weit vom Ufer entfernt gebrochen hatte, dann umspülten die Ausläufer dieser Welle jetzt meine Füße und flossen zurück ins Meer. Baba räusperte sich und betrachtete mit glasigen Augen den dunklen Himmel und den wolkenverhangenen Mond. "Alles wird mich an dich erinnern."


Vor allem der Handlungsstrang des treuen Dieners Nabi, der dem still verliebten, introvertierten Suleiman Wahdati und seiner dramatisch modernen, wunderschönen aber rebellische Frau Nila Wahdati dient, die die sanftmütige Pari adoptiert haben und großziehen, ist mir sehr ans Herz gegangen. Unter dem Dach dieser Familie, der es nur sehr kurz vergönnt ist, in dieser Konstellation zusammen zu leben, sammelt sich im Laufe der Geschichte so viel unerwiderte Liebe, Trauer, Angst und Erinnerung an, dass ich gerne noch viel mehr über diesen Teil der Geschichte gelesen hätte. Aber das wäre natürlich schade gewesen, denn dann hätte ich weder den selbst darstellerischen Timur, den feigen Arzt Idris, die verletzte Roshi, die entstellte Thalia, den aufrechten Markos noch die selbstsüchtige Madaline kennengelernt, welche alle eigentlich viel zu tiefe Charakter sind, als dass ich sie hier mit einem mehr schlecht als recht passenden Adjektiv abfertigen könnte. Es ist ganz wundersam, wie viel Seele Hosseini seinen Figuren zuspricht und auf welche tiefgründige Art er es versteht, uns ihr Innersten darzubringen, ihre Ecken und Kanten, Runzeln und Falten wenn sie menschloch, grausam oder bemitleidenswert handeln und sie zutiefst verstanden darstellt. Leider kamen mir der verlassenen Abdullah, die gepeinigte Parwana und die hübsche aber behinderte Masooma ein wenig zu kurz.


"Ich kann tief in meinem Inneren etwas spüren, das mich zieht und an mir zerrt wie eine Unterströmung. Ich würde ihr gerne nachgeben und mich erfassen lassen. Ich würde mich gern gehen lassen, aus meiner Haut schlüpfen, alles abstreifen, wie eine Schlange ihre Haut abstreift."


Hosseinis Schreibstil ist wie seine Erzählweise einem Chamäleon gleich: er passt sich an. Mal leuchtend poetisch, mal sparsamer und farblich gedeckt, mal ausschweifend, mal aufs Wesentliche reduziert, aber immer sehr inhaltlich direkt und sprachlich dabei wundervoll verschachtelt und durchdacht. Dabei schafft er es die Geschichte auf eine Art und Weise zu erzählen, die klar macht, dass man einem Leben lauscht, welches genauso gelebt werden muss und auch bei schwierigem Inhalt ein gutes Gefühl zu vermitteln. Vor allem das Ende rührte mich zu Tränen, auch wenn uns hier kein typisches Happy End erwartet.


"Sie war in dem Schweigen das zu Hause immer öfter eintrat, ein Schweigen, das zwischen den Wörtern aufquoll, einmal kalt und leer und dann wieder schwer von allem, was nicht ausgesprochen wurde, ein Schweigen wie eine dicke, graue Regenwolke, die sich nie entlud. (...) Er öffnete die Teedose. Da waren sie, Paris Federn, es fehlte keine einzige. federn von Hähnen, Enten, Tauben und auch die des Pfaus. Er legte die gelbe Feder in die Dose. Eines Tages, dachte er.
Hoffte er."



So, jetzt bin ich endlich alles los, was mir auf dem Herzen lag und kann noch schnell das Cover besprechen Jenes gefällt mir sehr gut, da viel Gefühl darin liegt, es könnte aber meiner Meinung nach als ein wenig kitschig interpretiert werden. Die Silhouetten der beiden Kindern vor einer flachen Graslandschaft im Sonnenuntergang, von dem sich Berge abheben sind aber eigentlich das perfekte Motiv und auch die Farbgebung, die von dunkel nach orange oben in ein warmes blau übergeht, passt super. Was mich an der Gestaltung jedoch wirklich zu 100 Prozent überzeugt hat, ist der Titel "Traumsammler". Auch wenn der amerikanische Originaltitel auch schön klingt finde ich, dass der der deutschen Aufgabe noch einmal ein i-Pünktchen obendrauf setzt! Denn das Buch ist wirklich eine Ansammlung von kurzen Episoden, von Träumen, die Khaled Hosseini wunderbar hier eingesammelt und in Buchform verpackt hat, sowie es im Buch Pari mit den Träume ihres Vaters tut.

Zum Abschluss noch mein Lieblingszitat:

"Pari", sagte sie. "Ja?" Sie legte den Kopf weit in den Nacken, um mich anschauen zu können. Das durch das Laub der Bäume fallende Licht tanzte über ihr Gesicht. "Ist dir bewusst, wie viel Kraft dir Gott geschenkt hat?", fragte sie."


Fazit:

Einfach nur wow! Eine intensive, emotionale, mitreißende Geschichte über Afghanistan und eine Familie voller verlorener Gestalten mit eindringlichen Schicksalen.

Veröffentlicht am 17.02.2018

Ungeschönt, real und berührend!

Traumsammler
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Allgemeines:

Titel: Traumsammler
Autor: Khaled Hosseini
Verlag: FISCHER (25. September 2014)
ISBN-10: 3596198208
ISBN-13: 978-3596198207
ASIN: B00COWO1FW
Seitenzahl: 448 Seiten
Originaltitel: And the ...

Allgemeines:

Titel: Traumsammler
Autor: Khaled Hosseini
Verlag: FISCHER (25. September 2014)
ISBN-10: 3596198208
ISBN-13: 978-3596198207
ASIN: B00COWO1FW
Seitenzahl: 448 Seiten
Originaltitel: And the Mountains Echoed
Preis: 9,99€ (Kindle-Edition)
12€ (Gebundene Ausgabe)
10,95€ (Taschenbuch)


Inhalt:

"Ich weiß eine kleine, traurige Fee,
Die wurde vom Wind davongeweht."


In ›Traumsammler‹ erzählt Khaled Hosseini die bewegende Geschichte zweier Geschwister aus einem kleinen afghanischen Dorf. Pari ist drei Jahre alt, ihr Bruder Abdullah zehn, als der Vater sie auf einem Fußmarsch quer durch die Wüste nach Kabul bringt. Doch am Ende der Reise wartet nicht das Paradies, sondern die herzzerreißende Trennung der beiden Geschwister, die ihr Leben für immer verändern wird.
Ein großer Roman, der uns einmal um die ganze Welt führt und in seiner emotionalen Intensität und Erzählkunst neue Maßstäbe setzt. Fesselnder, reicher, persönlicher als je zuvor.


Bewertung:

"Das Seil, das vor dem Ertrinken rettet, kann zu einer Schlinge werden, die einen zu erdrosseln droht."

Das ist mein erstes Buch von Khaled Hosseini und nach diesem werde ich unbedingt alle vorhergegangen und zukünftigen Lesen! Ich habe es noch nie erlebt, wie ein Autor auf so sensible und einfühlsame Art und Weise ein solch komplexes Konstrukt aus Handlungssträngen unter Kontrolle halten kann. Ich bin zutiefst beeindruckt und berührt von der Intensität mit der Lebenssinnsuche, Familiengeschichte und afghanischer Realität hier rübergebracht werden.


"Jenseits unserer Vorstellungen
Von guten und schlechten Taten
Erstreckt sich ein Feld.
Dort werde ich dich treffen."
-Dschalaluddin Rumi, 13. Jahrhundert -


Streng genommen sind das nicht wirklich die ersten Worte dieses Romans sondern nur ein vorangestelltes Zitat eines Gedichts von Rumi, dem wohl bedeutendsten arabischen Dichters, dieses Zitat passt aber so unwahrscheinlich gut auf diese Geschichte, dass ich es unbedingt anführen musste. Die wirklichen ersten Sätze stammen von Vater Saboor, der seinen zwei Kinder Abdullah und Pari in seinem ärmlichen Haus in Shadbagh eine Geschichte erzählt. Dass dieses Märchen, in dem der arme Bauer Baba Ayub, einem Dämonen einen Sohn opfern muss, den Jüngsten, Quais, um seine restliche Familie zu retten und erst Jahre später erfährt, dass er ihm damit ein wohlhabendes und glückliches Leben ermöglicht hat, Fabel für die herzzerreißenden Trennung der beiden Geschwister wird, ist dem aufmerksamen Leser schon bald klar, bei Einschlafen wissen die beiden Geschwister aber noch nicht, auf welch einschneidende Weise diese Gutenachtgeschichte ihr Schicksal spiegelt. Nach dem "Einen Finger abschneiden, um die ganze Hand zu retten"-Motto, welches auch in dem alten Märchen dargestellt wurde, bringt Saboor seine kleine Tochter Pari gleich am nächsten Tag zu reichen Pflegeeltern nach Kabul, wo diese gegen Geld aufwachsen soll. Ob sich die beiden Geschwister jemals wieder sehen werden, bleibt unklar, während sich die Geschichte erstmal einigen Rückblenden und anderen Figuren widmet, bevor sie wieder zu dem getrennten Geschwisterpaar zurückkehrt, welches zwar nicht wie im Klapptext angekündigt Haupthandlungsstrang aber wohl der rote Faden wird.


"Bis wir alt sind.
"Uralt."
"Für immer."
"Ja, für immer."
Sie drehte sich auf dem Karren zu ihm um. "Versprichst du mir das, Abollah?"
"Für immer und ewig."


Die in 1952 beginnende Geschichte über das politisch geschundene, unterdrückte und geknebelte Afghanistan erstreckt sich über 9 Kapitel, nahezu 50 Jahren bis ins moderne 2010 und entführt ungeschönt, real und berührend zu einer Familie voller verlorener Gestalten mit eindringlichen Schicksalen. Das Besondere, Mitreißende und zugleich Komplizierte der Geschichte sind die vielen Handlungsstränge, die kunstvoll über einige Jahrzehnte gespannt und feinfühlig miteinander verknüpft werden. Dabei erzählt das Buch weniger eine zusammenhängende Geschichte sondern präsentiert stattdessen eine Art Kurzgeschichtenreihe mit Protagonisten, deren Lebenswege sich mal mehr, mal weniger mit den Wegen anderer Protagonisten kreuzen.


"Wenn man nicht weiß, wo man als Mensch seinen Anfang genommen hat, kommt einem das Leben unwirklich vor. Wie ein Puzzle, tu comprends? Als würdest du dich mitten in einer Geschichte, deren Anfang du verpasst hast, fragen, wie sie begonnen hat."


Auch wenn es durch die vielen Zeitsprünge, Erzähllücken und Charakterwechsel sehr schwer ist, der Geschichte zu folgen und ich deshalb gerade zu Beginn ein wenig Schwierigkeiten hatte, in den Plot einzusteigen, was Kritiker Hosseini immer wieder vorwerfen, habe ich sehr schnell daran Gefallen gefunden, zeitweiliger Beobachter vieler verschiedenen Schicksale zu sein und die Genialität hinter dieser Puzzle-Methode des literarischen Kennenlernens entdeckt. Durch die vielen Lücken, die man sich als Leser selbst füllen muss oder eher darf, erhält die Geschichte etwas Wahrhaftiges und jedes Mal wenn sich ein gezogener Kreis schließt und der Erzählteppich, den der Autor aus dem roten Faden webt, ein Stücken größer und stabiler wird ging mein Herz ein wenig mehr auf. Genauso sollte eine Geschichte sein!


"Gott allein weiß, warum die beiden einander erwählt haben. Es war mir ein Rätsel. Nie habe ich zwischen zwei Geschöpfen eine solche Seelenverwandtschaft gespürt."


Das Setting ist dabei ebenso abwechslungsreich und bunt wie die Charaktere. Khaled Hosseini führt uns aus dem kleinen afghanischen Dorf Shadbagh in die größere Stadt Kabul, nach Paris, auf die kleine griechische Insel Tinos, nach Indien und letztendlich in die USA. Doch auch wenn der Handlungsort auch noch so weit weg von Afghanistan zu sein scheint, eine feste Verbindung zu diesem gebeutelten Land gibt es immer. An jeder Kleinigkeit, Feinheit, scheinbaren Belanglosigkeit und in jedem Nebensatz, den der Autor über dieses Land schreibt, kann man seine Liebe und Faszination für die Kultur und Landschaft und die Menschen dort ablesen. Es werden gleichsam die schönsten und hässlichsten Seiten des Heimatlandes des Autoren präsentiert, die dunkle Zeit der Invasionen der Sowjets, der Amerikaner und der Taliban findet unkommentiert und objektiv einen Platz genau wie starke Frauenfiguren, der Nationalstolz und Traditionen. Doch das Land ist mehr als nur Kulisse, es ist Ursprung und Herzstück dieser Geschichte und das konnte selbst ich spüren, die mit der arabischen Welt keinerlei Verbindung habe.


“Ich habe in Kabul manches gelernt, vor allem jedoch, dass das menschliche Verhalten chaotisch und unvorhersehbar ist und sich in kein festes Raster zwängen lässt. Trotzdem finde ich Trost in der Vorstellung eines roten Fadens oder eines Musters im Leben, das eben so langsam Gestalt annimmt wie ein Foto in der Dunkelkammer oder in der Vorstellung einer langsam sich entfaltenden Geschichte, die das Gute, das ich immer in mir zu sehen geglaubt habe, zu bestätigen scheint. Diese Geschichte hält mich am Leben."


Neben der Erzählform ist vor allem noch die Erzählweise bemerkenswert. Husseini schafft es, gleichzeitig sehr still und eindringlich; distanziert und emotional; dramatisch und ruhig zu sein und sich in jeder erdenklichen Situation an die Protagonisten anzupassen. Dabei zwingt er den Leser niemals in eine bestimmte Richtung oder beantwortet wertende Fragen nach Unterlassung, Schuld, Preis oder Sühne. Stattdessen erlebt er, beobachtet, fühlt, erkennt und beschreibt, überlässt es aber dem Leser, über das Erfahrene nachzudenken und zu urteilen. Immer wieder stößt man auf kluge Dialoge und liest Sätze, die einen noch lange beschäftigen, während man dieser Geschichte folgt, die zeitweise fast ungemütlich und teilweise schwer zu ertragen ist, so viel Schmerz und Wahrheit, wie sie enthält.


"Eine Gestalt. Sowohl weich als auch hart. Eine weiche Hand, die ihre umschließt. Ein hartes Knie, auf das sie ihre Wange bettet. Sie sucht nach einem Gesicht, aber es entgleitet ihr jedes Mal, wenn sie sich danach umdreht. Pari spürt, wie sich ein Loch in ihr auftut. Immer, während ihres ganzen Lebens, hat sie jemanden schrecklich vermisst. Jemanden, den sie von Geburt an kannte. "Bruder", sagte sie, ohne sic dessen bewusst zu sein."


Vor allem jedoch die vielen Charaktere sind das Herzstück des Buches. Grade weil ich nicht genau ausmachen konnte, wer nun Protagonist und wer Nebencharakter ist, muss man jedem genau gleich viel Aufmerksamkeit schenken. Manche Lebensgeschichten werden gänzlich erzählt, andere nur ausschnitthaft, manche werden später noch einmal aufgenommen, andere tauchen auf und verschwinden wieder. Als Leser muss man den ständigen Fluss über sich ergehen lassen, auch wenn es manchmal schwer ist, sich von liebgewonnen Charakteren zu verabschieden.
Dass immer mal wieder jemand anders aus der Ich-Perspektive, als personaler Erzähler, in einem Rückblick oder als Erinnerungs- oder Briefform berichtet, ist natürlich Großteils etwas verwirrend, wenn man aber aufmerksam dabei bleibt, erhascht man immer wieder liebevolle Details und Anspielungen.


"Jetzt dachte ich plötzlich wieder an sie und an das, was und verbunden hatte. Wenn das, was man ihr angetan hatte, einer Welle glich, die sich weit vom Ufer entfernt gebrochen hatte, dann umspülten die Ausläufer dieser Welle jetzt meine Füße und flossen zurück ins Meer. Baba räusperte sich und betrachtete mit glasigen Augen den dunklen Himmel und den wolkenverhangenen Mond. "Alles wird mich an dich erinnern."


Vor allem der Handlungsstrang des treuen Dieners Nabi, der dem still verliebten, introvertierten Suleiman Wahdati und seiner dramatisch modernen, wunderschönen aber rebellische Frau Nila Wahdati dient, die die sanftmütige Pari adoptiert haben und großziehen, ist mir sehr ans Herz gegangen. Unter dem Dach dieser Familie, der es nur sehr kurz vergönnt ist, in dieser Konstellation zusammen zu leben, sammelt sich im Laufe der Geschichte so viel unerwiderte Liebe, Trauer, Angst und Erinnerung an, dass ich gerne noch viel mehr über diesen Teil der Geschichte gelesen hätte. Aber das wäre natürlich schade gewesen, denn dann hätte ich weder den selbst darstellerischen Timur, den feigen Arzt Idris, die verletzte Roshi, die entstellte Thalia, den aufrechten Markos noch die selbstsüchtige Madaline kennengelernt, welche alle eigentlich viel zu tiefe Charakter sind, als dass ich sie hier mit einem mehr schlecht als recht passenden Adjektiv abfertigen könnte. Es ist ganz wundersam, wie viel Seele Hosseini seinen Figuren zuspricht und auf welche tiefgründige Art er es versteht, uns ihr Innersten darzubringen, ihre Ecken und Kanten, Runzeln und Falten wenn sie menschloch, grausam oder bemitleidenswert handeln und sie zutiefst verstanden darstellt. Leider kamen mir der verlassenen Abdullah, die gepeinigte Parwana und die hübsche aber behinderte Masooma ein wenig zu kurz.


"Ich kann tief in meinem Inneren etwas spüren, das mich zieht und an mir zerrt wie eine Unterströmung. Ich würde ihr gerne nachgeben und mich erfassen lassen. Ich würde mich gern gehen lassen, aus meiner Haut schlüpfen, alles abstreifen, wie eine Schlange ihre Haut abstreift."


Hosseinis Schreibstil ist wie seine Erzählweise einem Chamäleon gleich: er passt sich an. Mal leuchtend poetisch, mal sparsamer und farblich gedeckt, mal ausschweifend, mal aufs Wesentliche reduziert, aber immer sehr inhaltlich direkt und sprachlich dabei wundervoll verschachtelt und durchdacht. Dabei schafft er es die Geschichte auf eine Art und Weise zu erzählen, die klar macht, dass man einem Leben lauscht, welches genauso gelebt werden muss und auch bei schwierigem Inhalt ein gutes Gefühl zu vermitteln. Vor allem das Ende rührte mich zu Tränen, auch wenn uns hier kein typisches Happy End erwartet.


"Sie war in dem Schweigen das zu Hause immer öfter eintrat, ein Schweigen, das zwischen den Wörtern aufquoll, einmal kalt und leer und dann wieder schwer von allem, was nicht ausgesprochen wurde, ein Schweigen wie eine dicke, graue Regenwolke, die sich nie entlud. (...) Er öffnete die Teedose. Da waren sie, Paris Federn, es fehlte keine einzige. federn von Hähnen, Enten, Tauben und auch die des Pfaus. Er legte die gelbe Feder in die Dose. Eines Tages, dachte er.
Hoffte er."



So, jetzt bin ich endlich alles los, was mir auf dem Herzen lag und kann noch schnell das Cover besprechen Jenes gefällt mir sehr gut, da viel Gefühl darin liegt, es könnte aber meiner Meinung nach als ein wenig kitschig interpretiert werden. Die Silhouetten der beiden Kindern vor einer flachen Graslandschaft im Sonnenuntergang, von dem sich Berge abheben sind aber eigentlich das perfekte Motiv und auch die Farbgebung, die von dunkel nach orange oben in ein warmes blau übergeht, passt super. Was mich an der Gestaltung jedoch wirklich zu 100 Prozent überzeugt hat, ist der Titel "Traumsammler". Auch wenn der amerikanische Originaltitel auch schön klingt finde ich, dass der der deutschen Aufgabe noch einmal ein i-Pünktchen obendrauf setzt! Denn das Buch ist wirklich eine Ansammlung von kurzen Episoden, von Träumen, die Khaled Hosseini wunderbar hier eingesammelt und in Buchform verpackt hat, sowie es im Buch Pari mit den Träume ihres Vaters tut.

Zum Abschluss noch mein Lieblingszitat:

"Pari", sagte sie. "Ja?" Sie legte den Kopf weit in den Nacken, um mich anschauen zu können. Das durch das Laub der Bäume fallende Licht tanzte über ihr Gesicht. "Ist dir bewusst, wie viel Kraft dir Gott geschenkt hat?", fragte sie."


Fazit:

Einfach nur wow! Eine intensive, emotionale, mitreißende Geschichte über Afghanistan und eine Familie voller verlorener Gestalten mit eindringlichen Schicksalen.