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Veröffentlicht am 12.09.2020

Literarischer Krimi mit “unzuverlässigem Erzähler”

Kalmann
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Der Nordosten Islands ist der Schauplatz von Joachim B. Schmidts Roman "Kalmann", genauer gesagt das kleine Dorf Raufarhöfn (609 km entfernt von Reykjavík). Dieser Landstrich der wilden Insel im Atlantik ...

Der Nordosten Islands ist der Schauplatz von Joachim B. Schmidts Roman "Kalmann", genauer gesagt das kleine Dorf Raufarhöfn (609 km entfernt von Reykjavík). Dieser Landstrich der wilden Insel im Atlantik ist geprägt von der Küste und lebt hauptsächlich von der Fischindustrie. Gelegentlich verirren sich auch ein paar wenige abenteuerlustige Touristen hierher. Landschaftlich gesehen ist die Gegend eher karg, hier wächst nicht viel heißt es im Roman, die Winter sind lang und bis weit ins Frühjahr hinein bestimmen Eis und Schnee das Landschaftsbild. In einem kalten März unserer Gegenwart - eine genaue Jahreszahl nennt uns der Erzähler nicht - spielt sich die Handlung des Romans ab.

Der titelgebende Protagonist Kalmann Óðinsson ist 33 Jahre alt und verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Jagen und Fermentieren von Grönlandhaien, die er dann als Delikatesse (“Gammelhai”) verkauft. Er wuchs in Raufarhöfn bei seinem Großvater und seiner Mutter auf, der Vater ist ein amerikanischer GI, den er nur einmal gesehen hat. Kalmann ist geistig behindert, weswegen ihm die Mutter auch in seinem fortgeschrittenen Alter noch als Vormund dient.

Kalmann ist ein sogenannter "unzuverlässiger Ich-Erzähler", der in der Literaturgeschichte eine gewisse Tradition hat. Das heißt, der Leser muss die von ihm getätigten Aussagen über die Welt, die ihm hier präsentiert wird, grundsätzlich infrage stellen. Kalmann erzählt ganz klar seine wenig komplexe, eindimensionale Sicht der Dinge. Er hinterfragt vieles nicht, seine Wahrnehmung ist schwarz oder weiß, unklare Situationen oder Ungewohntes bringen ihn völlig aus dem Konzept und kanalisieren sich mitunter in Wut. Es ist beeindruckend wie der Autor es schafft, die scheinbar simplistische Gedankenwelt Kalmanns zu imagnieren, seine "einfachen" Satzgefüge zu erschaffen, ohne dass es jemals künstlich wirkt. Ja, so könnte jemand denken, der eben "anders" denkt. "Kein Grund zur Sorge", dieser Ausdruck spult sich mantraartig in Kalmanns Kopf ab.

Trotz seiner Tätigkeit als Jäger, seiner Unberechenbarkeit und Grobschlächtigkeit hat der Autor mit Kalmann eine Figur erschaffen, die dem Leser sympathisch ist und in sich stimmig. Dennoch lässt der Erzähler den Leser bis zum Schluss im Ungewissen, wie Kalmanns Rolle innerhalb der Krimihandlung zu verorten ist. Er geriert sich - geprägt von der amerikanischen Popkultur, konsumiert durch den TV, denn Kalmann hat nach eigener Aussage noch nie ein Buch gelesen - als "Sherriff von Raufarhöfn". Beim Jagen findet er eine Blutlache, die vom verschwundenen Geschäftsmann und Hotelbesitzer Róbert McKenzie zu stammen scheint. Es ist ein anspruchsvoller literarischer Krimi, der sich hier entfaltet, mit vielen überraschenden Wendungen und einer unbestreitbar philosophischen Komponente.

Dennoch kann ich nicht die volle Punktzahl geben, denn einige Fragen bleiben am Ende leider offen und das erzählte Gerüst - so unverlässig der Erzähler auch sein mag - bröckelt an manchen stellen. Die Tiertötungsszenen sind weniger "schlimm", als ich sie erwartet habe und die erlegten Tiere wurden nicht gequält. Trotzdem gibt es einige explizite Szenen, in denen Tiere getötet werden. Für mich immer und in jedem Buch ein Minuspunkt, da kann “Kalmann” nix dafür.

Alles in allem aber hat mir der Roman aufgrund seiner unbestreitbar literarischen Qualität sehr gut gefallen. Ich möchte gerne noch mehr von diesem Autor lesen und fand es irgendwie schade, am Ende von Kalmann Abschied nehmen zu müssen.


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Veröffentlicht am 11.09.2020

Trennungstagebuch einer “Jederfrau”

Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau
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Überspitzt formuliert: Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass Frauen, die zwischen ihrem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahr von ihrem Mann verlassen werden - bevorzugt für eine Jüngere - sowohl ...

Überspitzt formuliert: Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass Frauen, die zwischen ihrem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahr von ihrem Mann verlassen werden - bevorzugt für eine Jüngere - sowohl im Leben als auch in der Literatur tragische Figuren sind. Jugendliches Aussehen und Fruchtbarkeit haben sich weitestgehend verabschiedet und sie haben die vermeintlich “besten Jahre” dem Mann geschenkt, der sie nun sitzen lässt. Niemand möchte so ein “banales” Schicksal erleiden und darüber zu lesen, ist auch irgendwie unangenehm.

Die Ich-Erzählerin Diane Delaunais aus “Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau” hat genau so ein Schicksal ereilt, denn ihr Mann Jacques hat sie nach 28 gemeinsamen Jahren, kurz vor der Silberhochzeit, für ein 30-jähriges Model verlassen. Sie sei “langweilig” geworden und er habe sich eben neu verliebt. Die 48-jährige berufstätige Mutter von drei erwachsenen Kindern ist wie vor den Kopf gestoßen. Sie erlebt alle Phasen der “Trennungstrauer” von Nicht-Wahrhaben-Wollen über unkontrollierte Emotion, Vergangenheitsverklärung bis hin zur Suche und Findung eines neuen Ichs und dem Abwerfen des alten Ballasts.

Die Geschichte spielt in einem suburbanen Setting, aber nicht etwa, wie man auf den ersten Blick aufgrund der frankophonen Namen meinen könnte, in Frankreich, sondern im französischsprachigen Teil von Kanada. Die Autorin Marie-Renée Lavoie
stammt aus Quebec. Es gibt aber für mich kaum spezifisches Lokalkolorit und landestypische Eigenheiten, also könnte die Handlung in jeder französischsprachigen Vorstadt der westlichen Welt spielen, in der es lautstarke Laubbläser und gärtnernde Nachbarn gibt. Diane Valois ist eine "Jedefrau", denn überall auf der Welt werden Frauen in ihrem Alter von ihren Männern verlassen und müssen den Neuanfang als Single im fortgeschrittenen Alter wagen.

Es wird sehr episodisch erzählt, die Kapitel sind dabei relativ kurz und haben schon durch die Kapitelüberschriften einen anekdotischen Charakter. Es ist kein akkurates Tag-für-Tag-Tagebuch, sondern enthält szenisch erzählt Begebenheiten aus dem Leben der Hauptfigur, die sich im Rahmen der Trennung von ihrem Mann ereignet haben.

Das Buch spielt mit dem Attribut “langweilig” auf augenzwinkernde Weise. Das Cover konterkariert schon mal den Titel, denn es ist mit dem offen schreienden Mund alles andere als “langweilig”. Leider hört es da aber auch schon auf, denn die Hauptfigur Diane bezeichnet sich auch selbst als langweilig und meint, sie habe ein durchschnittliches Leben gelebt. Ab und zu musste ich schmunzeln, aber laut und extrovertiert wie das Cover ist die Handlung auf keinen Fall. Diane gerät in ein paar “tragikomische” Situation, die eigentlich mehr traurig als komisch sind. Manchmal war ich sogar eher berührt von dem, was ich gelesen habe, als dass ich. Das Kapitel mit den Nachbarn zum Beispiel hat mich ergriffen. Die Szene mit dem “Hutzelmännchen” auf dem Land war dann eher eine weniger gelungene Wiederholung dieser Begegnung.

Das Gelesene war keinesfalls schlecht, allerdings weckt dieser Roman durch Marketing und Cover falsche Erwartungen. Es ist für mich am ehesten eine tragikomische Bestandsaufnahme einer verlassenen Ehefrau und nicht etwa das Tagebuch einer Bridget Jones 2.0 in der Menopause. Wer keine Schenkelklopfer und Lachanfälle erwartet, wird nicht enttäuscht werden.


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Veröffentlicht am 08.09.2020

Biopic/Filmvorlage in Romanform

Die Dirigentin
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Maria Peters, die Autorin des Romans "Die Dirigentin", fungierte bereits als Drehbuchautorin und Regisseurin des gleichnamigen Films über die Protagonistin Antonia Brico (1902-1989). Auch das Coverbild ...

Maria Peters, die Autorin des Romans "Die Dirigentin", fungierte bereits als Drehbuchautorin und Regisseurin des gleichnamigen Films über die Protagonistin Antonia Brico (1902-1989). Auch das Coverbild stammt aus diesem 2018 gedrehten Film. Dementsprechend szenisch bzw. wie ein Biopic ist auch der Roman aufgebaut. Wir erleben die Geschichte zum Großteil aus der Ich-Perspektive der Hauptfigur, was der Intimität eines Films nahekommt. Zusätzlich kommen noch die Perspektiven von Frank und Robin hinzu, zwei Männern, die in Antonias Leben eine wichtige Rolle spielen.
Im Roman begleiten wir die junge, in den USA lebende Niederländerin Antonia Brico durch Stationen ihres bewegten Lebens. Wir lernen sie als junge Frau kennen, die viele Jobs machen muss, um ihre Familie (die Adoptiv-Eltern, wie sie erfahren wird, mit denen sie in einer kleinen New Yorker Wohnung zusammenlebt) über Wasser zu halten. Ihre eigentliche Leidenschaft gilt aber der Musik. Sie spielt auf einem zusammengeflickten Klavier und träumt davon, Dirigentin zu werden. Erst als das Geheimnis um ihre Identität und ihre niederländische Mutter aufgeklärt wird, hat sie die Kraft, ihrem alten Leben zu entkommen und den Lebensweg einer Musikerin einzuschlagen.
Eine interessante Geschichte ist es allemal, wie eine Frau als Pionierin ein rein männlich dominiertes Berufsfeld für sich erobert - leider nicht ganz mit dem Erfolg, wie ihn wahrscheinlich ein männlicher Kollege ähnlichen Talents gehabt hätte. Heutzutage gibt es ja zum Glück einige Dirigentinnen von Weltniveau, die aber wohl immer noch um Anerkennung kämpfen müssen.
Die Geschichte von Antonia Brico ist es absolut wert, erzählt zu werden. Meine Kritik gilt der doch etwas oberflächlichen Erzählweise dieses Romans. Diese ist sehr sprunghaft und es wird vieles nur “erzählt” statt erzählerisch ausgearbeitet zu werden. Zum Beispiel: Kaum ist Antonia am Konservatorium in Berlin aufgenommen worden, hat sie auch schon ihren Abschluss gemacht. Auf ihre Erlebnisse, die sie dort während ihrer Studienzeit hat, wird kaum eingegangen. Auf die Perspektive von Frank hätte ich komplett verzichten können, lieber hätte ich noch mehr aus Antonias Sicht erzählt bekommen. Warum braucht man diese männliche Perspektive überhaupt, diese kitschige “Nicht-Lovestory”? Es geht schließlich um eine Frau in einem Männerberuf, ich will etwas über die Frau wissen und nichts über die Kriegserlebnisse eines privilegierten Mannes - nicht in diesem Buch. Das Thema Musik kommt auch etwas zu kurz. Was sie für Antonia bedeutet und wie sie sie wahrnimmt, wird zwar am Anfang angeschnitten, aber für meinen Geschmack zu wenig verfolgt. Es bleibt einfach alles sehr oberfläch und geht nicht in die Tiefe.
Der Roman ist leider von Elementen geprägt, die der Unterhaltungsliteratur zuzuordnen sind. Wäre nicht das Thema Dirigentin, könnte man meinen es handelt sich um einen historischen Liebesroman. Die Themen Emanzipation und Musik kommen für mich einfach zu kurz.
Dennoch ist es ein solider Roman, gefällig geschrieben und als Filmvorlage gut lesbar. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass der Film besser ist als der Roman.

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Veröffentlicht am 06.09.2020

Unschätzbar wertvolles Familienbuch

Mein Familienkompass
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Dieses Buch habe ich nicht einfach gelesen, ich habe es mit Bleistift, Lineal und Textmarkern regelrecht "durchgearbeitet" - und das mit großem Vergnügen und einem bereicherten Gefühl nach der ...

Dieses Buch habe ich nicht einfach gelesen, ich habe es mit Bleistift, Lineal und Textmarkern regelrecht "durchgearbeitet" - und das mit großem Vergnügen und einem bereicherten Gefühl nach der Lektüre. Auf fast jeder Seite fand sich mindestens eine Passage, die ich mit einem Ausrufezeichen oder Pfeilen versehen habe, um sie später leichter wiederzufinden.

Da auch ich nichts von "Erziehung" im klassischen Sinne mit "Reiß dich zusammen-Appellen", Bestrafen und in Stein gemeißelten Regeln halte, sind mir die Gedanken von Nora Imlau schon früh in Büchern und einschlägigen journalistischen Publikationen zum Thema Elternschaft und Familie begegnet und ich konnte mich sogleich damit identifizieren. Einen bedürfnisorientierten, begleitenden Weg mit meinem Kind zu gehen war von Anfang an mein Ziel, auch wenn ich Begriffe wie "Attachment Parenting" etc. vor der Geburt meiner jetzt vierjährigen Tochter noch nie gehört habe. Hier kommt Nora Imlau ins Spiel. In ihren Texten nimmt sie uns an die Hand bei unserem Vorsatz, es "anders" machen zu wollen und eine liebevolle Eltern-Kind-Beziehung auf Augenhöhe zu leben. In "Mein Familienkompass" steckt ihr gesammeltes theoretisches Wissen als langjährige Journalistin mit Schwerpunkt Familie und auch die praktische Erfahrung als Mutter von vier Kindern (vom Baby bis zum Teenager).

“Hinterfragen der eigenen Glaubenssätze”, “gemeinsame familiäre Wertebasis schaffen”, “den Nordstern finden”, Frühkindliche Prägung, Co-Regulation, Zugewandtheit, Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit, Selbstoptimierung, künstliche vs. natürliche vs. persönliche Konsequenzen - Das alles sind Begriffe und Formulierungen, mit denen Nora Imlau operiert und anhand derer sie uns erklärt, wie ein “zugewandtes” Familiensystem funktionieren kann. Desweiteren seziert sie Floskeln, die in Bezug auf Erziehung immer wieder fallen wie z.B. der Satz "Kinder brauchen Grenzen" oder das belächelnd-tadelnde Modewort “Helikoptereltern”. Was dieser Satz oder dieses geflügelte Wort eigentlich impliziert, darüber klärt uns Imlau in ihrer sachlichen und verständlichen Art auf.

Nora Imlau will uns mit diesem Buch am Schwarz-Weiß-Denken vorbeiführen: "In Wirklichkeit ist die Sache komplizierter" oder "so einfach ist es nicht" sind häufig verwendete Sätze von ihr wenn es darum geht, uns zu erörtern, dass es mehr als einen Weg zum Ziel gibt und man die Dinge - gerade im Umgang mit unseren Kindern - von mehreren Seiten betrachten und stets hinterfragen muss. Ihre eigene Fehlbarkeit als Mensch und Mutter wirft die Autorin immer mal wieder in den Ring. Damit macht sie sich nicht nur sympathisch und nahbar, sondern sie signalisiert damit: Elternschaft füreinander statt gegeneinander. Imlau ist keine "instamom", die im luftleeren Raum einer perfekt inszenierten Familie schwebt (die hinter den Kulissen vielleicht ganz anders aussieht) - sie holt uns Eltern stattdessen in unserer Unsicherheit und Verletzlichkeit ab und sendet das Signal, dass wir am Ende des Tages alle gleich sind. Gleichzeitig warnt sie aber davor, sie als Vorbild zu sehen, denn jedes "ethische Dilemma" (S. 242) verlange nach einer individuellen Lösung. Auch Nora Imlau ist nicht perfekt in ihrer Unperfektheit und kann uns letztendlich nicht die Entscheidungen abnehmen, die wir - ganz individuell - für unsere eigene Familie treffen sollen und müssen.

Ich lege dieses Buch einfach allen Eltern wärmstens ans Herz - man kann sich durch die Lektüre die meisten anderen "Erziehungsratgeber" getrost sparen!

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Veröffentlicht am 01.09.2020

Ergreifendes Umwelt- und Generationendrama

Jahresringe
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Der Hambacher Forst, einer der ältesten deutschen Wälder und Heimatort vieler seltener Tier- und Pflanzenarten, ist zum Synonym für die deutsche Umwelt(zerstörungs)politik geworden. Andreas Wagner ...

Der Hambacher Forst, einer der ältesten deutschen Wälder und Heimatort vieler seltener Tier- und Pflanzenarten, ist zum Synonym für die deutsche Umwelt(zerstörungs)politik geworden. Andreas Wagner hat die Rodungsgeschichte dieses Waldes und die damit verbundenen menschlichen Schicksale zum Gegenstand seines Debütromans gemacht. Die Handlung wird bestimmt durch die umstrittene Thematik des Braunkohletagebaus, die mit der Abholzung von Waldgebieten, die an den Lebensraum der Romanfiguren angrenzen sowie der Zerstörung und Umsiedlung ganzer Dörfer einhergeht.

Wir alle kennen den Hambacher Forst und wissen um seine prekäre Situation. Andreas Wagner aber will mit seinem Roman genauer fokussieren: Wer sind neben der Natur die Leidtragenden der Rodung, wer die Opfer, wer die Täter, wer die Aktivisten. Natürlich sind seine Figuren fiktiv, aber so oder so ähnlich hätte es ablaufen können bzw. ist es tatsächlich abgelaufen, nur eben mit anderen (realen) Personen. Die Firma RWE, die den Braunkohleabbau in NRW betreibt, wird sogar explizit genannt und nicht etwa unter fiktivem Namen verklausuliert.

Schauplatz der Handlung von “Jahresringe” ist das kleine “Doppeldorf” Lich-Steinstraß in Nordrhein-Westfalen, das an den Hambacher Wald oder Bürgewald, wie er auch genannt wird, angrenzt. Die “Entwurzelungsgeschichte” dieses Ortes, der tatsächlich im Zuge des Braunkohle-Tagebaus umgesiedelt wurde, wird exemplarisch anhand der Familie Klimkeit erzählt, deren “Gründerin” Leonore Klimkeit ist. 1946 wird die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Heimatvertriebene im äußersten Westen der jungen Republik “angespült”. Ein auf traditionelle rheinische Lebkuchen (“Moppen”) spezialisierter Bäcker und dessen Mutter nehmen sie bei sich auf, sie erlernt das Handwerk und wird zur Ersatztochter der Familie. Ihre Geschichte geht dem Leser (zumindest wenn ich für mich spreche) sehr nahe. Als “das Flüchtlingskind” oder “die Evangelische aus dem Osten” bleibt sie zeitlebens eine Außenseiterin der Dorfgemeinschaft, die sich trotz aller Anstrengungen als “Fremde” nie integrieren kann. Nur im Wald fühlt sie sich frei und geborgen, wie auch später ihr Sohn Paul (“Alles hier war echt. Alles war Geschichte. Alles war Natur." S.114) . Aber der Wald ist in Gefahr.

Von 1946 bis 2018 wird die Geschichte der Familie weiter verfolgt, immer vor dem Hintergrund der Abholzung des Hambacher Waldes. Von 1976-1984 steht Leonores Sohn Paul im Fokus, später dann ihre Enkelkinder.

Andreas Wagner erzählt unaufgeregt, ohne Schnörkel, aber mit großer Intensität. Sein Erzähler ist allwissend, er macht Verweise in die Zukunft. Vor allem arbeitet der Autor mit einer starken Symbolik und Elementen des magischen Realismus. Das titelgebende Maiglöckchen-Motiv zieht sich leitmotivisch durch den Roman.

Gerne hätte ich manche Figuren ausführlicher verfolgt und mehr über sie erfahren. Zum Beispiel über Pauls Vater oder Jan und Sarah. Was ist aus ihnen geworden? Wie haben sich ihre Anschauungen und Pläne angesichts der Ereignisse im Wald verändert? Schade dass das Buch dann doch ein wenig zu kurz war für einen opulenten Familienroman. Dennoch ist das für mich kein Grund, keine 5 Sterne zu geben: Ein beeindruckendes Debüt mit wichtigem Thema!




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