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Veröffentlicht am 07.12.2020

Unprätentiöse Hochspannung, Teil 3

Wisting und der Atem der Angst
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Nachdem ich bereits die ersten beiden Teile der Cold-Cases-Reihe um William Wisting begeistert gelesen habe, musste ich natürlich sofort bei Erscheinen den dritten Teil dieser Reihe lesen. Auch diesmal ...

Nachdem ich bereits die ersten beiden Teile der Cold-Cases-Reihe um William Wisting begeistert gelesen habe, musste ich natürlich sofort bei Erscheinen den dritten Teil dieser Reihe lesen. Auch diesmal bekommen es Kriminalkommissar Wisting und Stillers Osloer Einheit ungelöster Kriminalfälle mit einem “Cold Case” zu tun, der sich allerdings sehr schnell als “hot” entpuppt. Der zweifache Frauenmörder und Sadist Tom Kerr will einen dritten Mord gestehen und die Ermittlungseinheit zum Grab des Opfers führen. Allerdings kann er bei der Begehung entkommen. Nun stellt sich den Ermittlern die Frage, ob er bei seinen Morden einen Komplizen hatte und ob ihm dieser “Andere” zu seiner Flucht verhelfen konnte.
Auch Wistings Tochter Line ist als Journalistin wieder mit von der Partie. Sie will eine Dokumentation über den Fall Tom Kerr drehen. Dass Line ihren Vater so eng bei seiner Arbeit begleitet, führt immer wieder zu Gewissenskonflikten, schließlich darf Wisting die laufenden Ermittlungen nur gefiltert an die Medien weitergeben. Doch auch Line verfolgt ihren eigenen Plan und nimmt dabei so manches Risiko in Kauf. Es geht in diesem Band damit auch sehr viel um das Verhältnis zwischen Polizei und Medien, eine Zusammenarbeit, die nicht immer für beide Seiten eine Win-Win-Situation darstellt.
Die Handlung ist dieses Mal auch wieder sehr spannend, vor allem durch die unmittelbare Bedrohung durch den flüchtigen Täter und seinen unbekannten Komplizen. Es gibt viele überraschende Wendungen und kurz vor Ende wird es so nervenaufreibend, dass ich teilweise versucht war an meinen Fingernägeln zu kauen.
Ich mag mehrere Aspekte an den Krimis von Jørn Lier Horst. Zum einen die unaufgeregte Erzählweise, mit der ganz subtil Spannung erzeugt wird. Lier Horst ist kein effekthaschender Erzähler, obwohl es natürlich um krasse Verbrechen und Täter geht. Der Autor erzählt das Wesentliche, ohne es unnötig auszuschmücken. Auch das mag ich. Außerdem weiß er tatsächlich als ehemaliger Kriminalkommissar über die Abläufe einer Ermittlung genauestens Bescheid. Im Nachwort geht er - ungewöhnlich für ihn - nochmal auf “das Böse” ein und die Menschen, die es verkörpern. Dabei verweist er auch auf seine eigene berufliche Vergangenheit als Ermittler.
Lier Horsts Figuren sind absolut lebensecht, das Private bildet einen Rahmen für die Geschehnisse, steht aber niemals im Vordergrund. Ich bin so gespannt, wie sich die Figuren noch entwickeln werden, Wisting hat jedenfalls noch einige Jahr bis zur Pensionierung. Dennoch sieht vor allem seine Tochter die Zeichen des Alterns an ihrem Vater. Zum Glück ist bereits jetzt klar, dass ein vierter Band der Reihe im Frühjahr 2021 auf Deutsch erscheinen wird. Ich kann es kaum erwarten!

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Veröffentlicht am 02.12.2020

“Werde, die du bist” 2.0 - ohne neue Erkenntnisse!

Ungezähmt
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Schon die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm schrieb gegen Ende des 19. Jahrhunderts: "Werde, die du bist". Dass Frauen sich emanzipieren und ein von gesellschaftlichen Zwängen losgelöstes, selbstbestimmtes ...

Schon die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm schrieb gegen Ende des 19. Jahrhunderts: "Werde, die du bist". Dass Frauen sich emanzipieren und ein von gesellschaftlichen Zwängen losgelöstes, selbstbestimmtes Leben führen sollen, ist wahrlich kein neuer Gedanke. Was also ist neu an "Ungezähmt", der autobiografischen Lebensbeichte von Glennon Doyle? Warum wird das Buch von so vielen (prominenten) Frauen als weibliches "Must-read" in den Himmel gelobt? Ich wollte es wissen und deshalb habe ich es gelesen, denn sonst mache ich um "Selbsthilfe-Ratgeber" eigentlich einen weiten Bogen.

Dass die US-amerikanische Autorin, christliche Bloggerin und Mutter von drei Kindern mit 40 Jahren ihren untreuen Ehemann verlassen hat und seitdem mit der Frau ihres Lebens glücklich und zufrieden lebt, ist schön und auch gut so. Aber muss man daraus ein Manifest weiblicher Selbstfindung erschaffen? Klar, auch Männer sollten rosa Duschgelflaschen benutzen dürfen und sich deswegen nicht weniger männlich vorkommen. Und auch Frauen dürfen wild und gefährlich sein und nach Nordpolexpedition riechen. Aber ist das nicht Makulatur? Braucht es dafür ein Buch?

Es geht in dem Buch eigentlich hauptsächlich um Glennon Doyles Selbstfindung. Sie war süchtig - nach Anerkennung, Alkohol und Abhängigkeit. Sie war bulimisch seit ihrer frühen Jugend. Aber dann wurde sie schwanger und trocken und hat nur noch für ihre Familie gelebt. Und erst nach ihrer Scheidung hat sie quasi auf ihr inneres Selbst gehört und zu selbigem gefunden. Es geht also darum, auf die innere Stimme und damit in erster Linie auf das eigene Ich zu hören. Eine Diktatur des Selbst könnte man sagen. Man soll außerdem lernen den Schmerz des Lebens zu ertragen, um dem wahren Dasein zu begegnen. Sie spricht vom "Großen Schmerz", den es auszuhalten gilt und in dem sich alle treffen. Alles ein wenig pathetisch und vor allem nicht so wirklich neu. Sagte nicht bereits Lord Byron im frühen 19. Jahrhundert: "Der wesentliche Sinn des Lebens ist Gefühl. Zu fühlen, daß wir sind, und sei es durch den Schmerz. Es ist die ›sehnsuchtsvolle Leere‹, die uns dazu treibt, zu spielen – zu kämpfen – zu reisen – zum leidenschaftlichen Tun." Auch die Weisheit, sich selbst treu zu bleiben und nicht dem Druck von außen nachzugeben, finden wir bereits bei Shakespeare: "This above all: To thine own self be true." (Hamlet)

Das Buch ist sehr amerikanisch, nicht nur weil Selbsthilferatgeber einen ziemlich amerikanische "Erfindung" sind. Es geht oft um Therapien, Religiosität und Fremdwahrnehmung. Doppelmoral und reaktionäre Rollenzuschreibungen gibt es auch in unserem vermeintlich liberalen Europa. Dennoch: AmerikanerInnen werden anders sozialisiert. Wenn bereits in der Highschool ein "Homecoming-Court" aus den zehn beliebtesten SchülerInnen gewählt wird, dann wird natürlich einem Klassenbewusstsein Tür und Tor geöffnet, in dessen Denkmustern man nach dem eigenen Beliebtheitsgrad, der sich aus dem Grad der Angepasstheit speist, beurteilt wird - passt man ins Schema der Gesellschaft oder eben nicht. Doyle kritisiert immerhin die amerikanische Mentalität, immer der Beste sein zu wollen, an mehreren Stellen.

Dennoch: Auch nach der Lektüre verstehe ich den Hype um dieses Buch 0,0. Es wird einfach nichts Neues geboten. Doyle verstrickt sich außerdem oft in Widersprüche: Einerseits sagt sie, sie ist ein Mensch, der keine Freunde hat, nur um im nächsten Abschnitt zu sagen dass sie mit dieser und jener Freundin über dies und jenes gesprochen hat. Außerdem meine ich eine gewisse Beliebigkeit in ihren Aussagen zu erkennen. Irgendwie ist alles ein großes Mischmasch: Feminismus, Selbstfindung, Süchte, Co-Parenting, Social Media, Lebensbeichte, Coming-Out, Geschlechterrollen, Erziehungsfragen, Black Lives Matter, Küchenpsychologie, Religiosität, Selbstdarstellung, Selbstliebe, Amerikanismen, Politik, Wohltätigkeit… Mir fehlte einfach der rote Faden, eine gewisse Stringenz, an der man sich entlanghangeln kann.

Dieses Buch mag ja ein Befreiungsschlag für die Autorin gewesen sein, aber was Adele & Co. hier Bereicherndes herauslesen, erschließt sich mir leider nicht.

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Veröffentlicht am 27.11.2020

Historische Milieustudie

Fräulein Gold: Scheunenkinder
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Nachdem mir Teil 1 um die Berliner Hebamme Hulda Gold aus den Zwanziger Jahren des
20. Jahrhunderts sehr gut gefallen hat, wollte ich natürlich wissen, wie es mit ihr weitergeht. Seitdem sie im ersten ...

Nachdem mir Teil 1 um die Berliner Hebamme Hulda Gold aus den Zwanziger Jahren des
20. Jahrhunderts sehr gut gefallen hat, wollte ich natürlich wissen, wie es mit ihr weitergeht. Seitdem sie im ersten Band "Schatten und Licht" als Figur eingeführt wurde und einen Mordfall in ihrem Schöneberger Viertel gelöst hat, ist über ein Jahr Zeit vergangen. Wir sind nun im Herbst des Jahres 1923. Die Inflation befindet sich auf dem Höhepunkt und ein Hühnerei kostet Millionen. Die Armen sind noch ärmer, viele Bürger bekommen keinen Lohn, die politische Rechte erstarkt. Hulda ist immer noch die engagierte Hebamme vom Winterfeldtplatz. Aufgrund ihres jüdischen Vaters wird sie zu einer Geburt ins Scheunenviertel zu einer jüdosch-orthodoxen Familie gerufen. Das Baby verschwindet wenige Tage nach der Geburt und Hulda muss erneut ermitteln.
Diesmal liegt der Fokus nicht so sehr auf dem Kriminalfall. Das verschwundene Baby und der Fall rund um die Kinderhändler vom Scheunenviertel, mit dem sich Kriminalpolizist und Huldas Boyfriend Karl auseinandersetzen muss, sind zwar das Movens der Handlung, als historischen Krimi würde ich diesen mittleren Band der Reihe aber dennoch nicht bezeichnen. Es ist eher eine sehr ausgeklügelte Milieustudie des Berlins von 1923. Es geht sehr viel um die angespannte gesellschaftspolitische Situation und die prekären Bedingungen, in der die Berliner damals lebten.
Obwohl wir tiefer in Huldas Geschichte eintauchen und ihre Persönlichkeit noch besser kennenlernen, hält dieser Band das Geschehen rund um die Protagonistin in einer Schwebe, schließlich soll ihr Schicksal erst im finalen dritten Band besiegelt werden. Am Ende wird schon angedeutet, in welche Richtung sich Hulda beruflich weiterentwickeln will. Ob sie aber mit Karl zusammenbleibt oder zu ihrer ersten Liebe, dem unglücklich verheirateten Felix Winter zurückkehrt, bleibt offen.
Der Roman ist auch diesmal besonders eindringlich und es geht oftmals um Fragen der Identität, in die wir gewissermaßen hineingeboren werden. Was bedeutet es, im Berlin der 1920er Jahre arm zu sein oder jüdisch, wenn auch nicht religiös? Hulda stellt sich diese letzte Frage zum einen, weil sie es mit einer orthodox lebenden jüdischen Familie zu tun hat und andererseits, weil rechte Parolen, Ressentiments und Anschläge in der Weimarer Republik zunehmen und sie diese auch am eigenen Leib zu spüren bekommt.
Besonders schön fand ich auch diesmal wieder das Zusammenspiel Huldas mit Bert, dem freundlichen Zeitungsverkäufer des Kiezes. Ich finde der Schlagabtausch der beiden hellt das doch recht düstere Geschehen zwischendrin immer etwas auf. Die Lebensweisheiten, die Bert von sich gibt, haben sowohl eine humorvolle, als auch eine philosophische Komponente. Auch ist der Kioskbesitzer eine wunderbare Quelle für Klatsch und Tratsch aus dem Viertel und Wissen aller Art. Diese Szenen sind auch nochmal eine weitere Möglichkeit, Hulda besser kennenzulernen, denn dem väterlichen Freund Bert offenbart sie sich wie kaum einem anderen. Außerdem lässt die Autorin durch die Gespräche der beiden die aktuelle politische Situation immer mal wieder mit einfließen. Diesmal wird auch etwas mehr über Berts Vergangenheit angedeutet.
Fazit: Ein schöner mittlerer Band dieser Reihe, der uns den Berliner Herbst von 1923 in all seinen Facetten nahe bringt. Als historischer Roman sehr akkurat, gut recherchiert und lesenswert, wenn auch nicht so spannend und krimihaft wie der erste Teil.

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Veröffentlicht am 20.11.2020

Die Windsors zwischen Fakten und Fiktion

Teatime mit Lilibet
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Dass Elizabeth die Zweite, Königin von England, ein sechsjähriges Mädchen war, ist fast 90 Jahre her. Damals, 1932, war sie Prinzessin und die Tochter des Herzogs und der Herzogin von York und ...

Dass Elizabeth die Zweite, Königin von England, ein sechsjähriges Mädchen war, ist fast 90 Jahre her. Damals, 1932, war sie Prinzessin und die Tochter des Herzogs und der Herzogin von York und wurde von allen nur "Lilibet" gerufen. Dass sie einmal Königin von England werden würde, sogar die mit der längsten Amtszeit aller Zeiten, wusste sie damals noch nicht. Wie auch, ihr Onkel David, der spätere Edward VIII., war als Prinz von Wales Thronfolger und ihr Vater Albert "nur" die zweite Wahl. Dass er als George VI. später König und sie Thronfolgerin werden würde, galt als unwahrscheinlich. Dennoch ist es mit der Abdankung ihres Onkels im Zuge seiner Beziehung mit der Amerikanerin Wallis Simpson im Dezember 1936 so gekommen. Fiktionale Bearbeitungen vom Leben der Queen gibt es einige. Wendy Holdens Roman "Teatime mit Lilibet" befasst sich nun mit der Zeit, in der Elizabeth zwar eine privilegierte Prinzessin, aber von der Bürde des Throns noch nicht gezeichnet war - zunächst zumindest.

Die Protagonistin des Romans, Marion Crawford, war tatsächlich für 16 Jahre die Gouvernante der späteren Queen und ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Prinzessin Margaret. Crawford hat sogar ein Buch über die Kindheit der Queen und ihrer Schwester geschrieben ("The little Princesses"), das Wendy Holden als Quelle und Inspiration für ihren Roman gedient hat. Dieses Buch hat auch zum Bruch der Royals mit Crawford geführt, d.h. über die langjährige Gouvernante wurde nicht mehr gesprochen, sie wurde in der Öffentlichkeit totgeschwiegen. Um also nachprüfen zu können, wie viel in diesem Roman Fiktion ist und welche Fakten den Lebenserinnerungen Crawfords entstammen, müsste man beide Bücher gelesen haben.

In "Teatime mit Lilibet" wird die glamouröse Welt der Royals nicht verklärt - im Gegenteil. Die Protagonistin, die eigentlich die Armen und Bedürftigen in ihrer schottischen Heimat unterrichten wollte, ist gleichzeitig fasziniert und abgestoßen vom dekadenten Leben der königlichen Familie. Sie gerieren sich für Außenstehende wie Schauspieler, bei denen sich die öffentliche von der privaten Rolle eklatant unterscheidet. Dennoch sind sie auch Menschen mit Begierden, Krankheiten und Träumen. Als skurril wird das Verhalten fast aller Royals beschrieben. Wenn sie zum Beispiel einerseits "bodenständigen" Aktivitäten wie Gartenarbeit nachgehen und gleichzeitig wie selbstverständlich von Dienern, Gold, Diamanten und Überfluss umgeben sind. Crawford versucht die junge Elizabeth mit wirklich bürgerlichen Aktivitäten ("Operation Normal") wie U-Bahn-Fahren und Einkaufen sowie kindgerechter Kleidung ohne Tüll und Spitze vertraut zu machen. Das ist das eigentliche Verdienst der linksorientierten Gouvernante aus Schottland, die auch die Kehrseite der Medaille und das prekäre Leben der Armen kennt, das sie der verwöhnten Prinzessin nahe bringen möchte. Immer wieder aber scheitert sie in ihrer Mission an den elitären Regeln der "Firma".

Sprachlich ist der Roman nicht anspruchsvoll und wenn man sich ein wenig mit der Geschichte der Windsors beschäftigt hat, sollte es auch keine Verständnisprobleme geben. Erzählerisch hätte manches etwas mehr ausgearbeitet werden können, vieles wird nur anerzählt und mündet dann schon wieder im nächsten Ereignis. Zum Beispiel die Gedanken angesichts der "Männergeschichten" von Crawfie (so wird sie von Elizabeth genannt) sowie ihre Zerrissenheit zwischen Königshaus und Edinburgher Slums bzw. einem erzwungenen Singledasein als königliche Gouvernante und dem Wunsch nach Liebe und Familie bleiben nur oberflächlich. Es gibt viele Zeitsprünge und allgemein wird sehr episodisch erzählt. Manchmal gleichen die Ausführungen der Autorin auch Auszügen aus einem Geschichtsbuch. Der Roman wird vor allem in der zweiten Hälfte mit den geschichtlichen Ereignissen der damaligen Zeit unterfüttert. Die Handlung wird im Zuge dessen immer dünner und hangelt sich an den historischen Fakten entlang.

Wenn man sich so wie ich für die englische Königsfamilie interessiert, ist dieser Roman eine wunderbare Gelegenheit einmal durchs royale Schlüsselloch zu linsen. Wie gesagt sollte man wissen, dass nicht ganz klar ist welche erzählten Ereignisse (abseits der historischen Fakten) und Gespräche der Erinnerung der realen Marion Crawford, Wendy Holdens Einbildungskraft oder einer anderen Quelle entstammen. Wer einen Abgleich des Erzählten machen möchte, sollte also neben dem Roman zumindest noch Crawfords Autobiografie lesen. Auf meiner Wunschliste steht sie bereits.

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Veröffentlicht am 15.11.2020

Charmanter Mozart- und Salzburgroman

Amadeus auf dem Fahrrad
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Der weltbekannte Tenor Rolando Villazón hat mit "Amadeus auf dem Fahrrad" seinen dritten Roman vorgelegt, für mich war es sein erster, wird aber nicht der letzte bleiben. Der sympathische mexikanische ...

Der weltbekannte Tenor Rolando Villazón hat mit "Amadeus auf dem Fahrrad" seinen dritten Roman vorgelegt, für mich war es sein erster, wird aber nicht der letzte bleiben. Der sympathische mexikanische Opernsänger mit dem gewissen Etwas hat hier nicht etwa einen autobiografischen Roman über seine illustre Bühnenkarriere geschrieben, aber seine Erfahrungen in der Klassik- und Opernbranche sowie mit der Festspielstadt Salzburg sind mit Sicherheit mit eingeflossen.

Wir begleiten in “Amadeus auf dem Fahrrad” den jungen Mexikaner Vian Maurer, der davon träumt, Opernsänger zu werden. Leider möchte der konservative Vater lieber, dass er in ein Unternehmen eintritt und die Künstlerträume ad acta legt. Nach einigen erfolglosen Versuchen in Europa als Sänger Fuß zu fassen, wird er als stummer Komparse in einer "Don Giovanni"-Inszenierung für die Salzburger Festspiele engagiert. Der Vater gönnt Vian zähneknirschend diesen einen letzten Künstlersommer in der österreichischen Festspielstadt, bevor er in Mexiko einen Bürojob anzutreten hat. Der Roman handelt also von diesem Festspielsommer, in dem der junge Mexikaner sein Glück in der Mozartstadt sucht. Vian ist durch und durch ein Träumer und so bewegt er sich auch traumwandelnd und traumtänzerisch durch den Salzburger Festspielsommer. Wunderbar und kenntnisreich beschreibt Villazon die aufgeladene Atmosphäre, die diese Theaterfestspiele jedes Jahr so einzigartig machen.
Der Roman ist einerseits voller Komik, zum Beispiel stolpert Vian immer wieder in witzige Situationen, die die ihm unerwünschte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen. Er spricht mit Statuen und handelt oft völlig selbstvergessen und spontan - auf der Bühne und abseits davon. Andererseits hat das Buch auch ernste Züge. Vian hat schon einige tragische Erlebnisse hinter sich, wie zum Beispiel den Verlust seiner Mutter. Es ist auch traurig mit anzusehen, wie er immer wieder versucht, seine Liebe für das Singen und die Bühne zum Beruf zu machen und kläglich an seiner Talentlosigkeit scheitert. Die unheilvolle - platonische - Dreiecksbeziehung mit dem teuflischen Schauspieler Jacques und der engelsgleichen Produktionsassistentin Julia rückt das Buch zudem ins Märchenhafte bzw. Fantastische.

Die Liebe und Verehrung des Autors für den berühmtesten aller Komponisten zieht sich leitmotivisch durch den Roman. Mozart ("Trazom") ist in diesem Buch omnipräsent, er lauert hinter jeder Ecke, seine Geschichte steckt in jedem Buch, das Vian liest, seine Musik liegt wie eine frische Brise in der schwülen Salzburger Sommerluft. Ironischerweise sucht unser Protagonist Vian genau in dieser Stadt sein Glück, der Mozart unbedingt entfliehen wollte. Während Salzburg für ihn wie ein Gefängnis war, ist es für Vian die letzte Bastion der Freiheit, bevor er sein Leben eingesperrt in einem Büro in Mexiko verbringen muss. Mozart wird zu Vians Alter Ego und unsichtbarem, stets präsentem Freund.

Mit ganz viel Esprit, Pathos, Poesie und Humor erzählt Villazón Vians Geschichte, die oft surreal und expressionistisch anmutet. Vians Einbildungskraft ist groß, seine Träume sehr bildgewaltig, er ist sensibel, sein Empfinden synästhetisch, Farben wirken sich auf seine Stimmung aus. Er ist ein tragikomischer Sancho Pansa, eine empfindsam Künstlerseele, die gegen die Windmühlen der Realität von Geldmangel und Erfolglosigkeit kämpft. Man muss diesen Protagonistin, der in vielem seinem Verfasser ähnelt, einfach mögen, ihn ins Herz schließen und den Kopf über seine kindliche Unbedarftheit schütteln.

Manchmal kommt Villazóns Sprache etwas artifiziell und sperrig rüber, zu sehr verkopft, um die Handlung an manchen Stellen vollständig genießen zu können. Leider trägt die kleine Schriftgröße, die hier mal wieder von Rowohlt angewandt worden ist, nicht gerade dazu bei, dem Leser das Leseerlebnis zu erleichtern. Dafür kann aber der Autor nichts.

Dennoch, ich mochte dieses Buch sehr gerne und kann es für alle Liebhaber von Mozart, Salzburg und der Opernwelt sehr empfehlen!

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