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Veröffentlicht am 11.08.2025

Ein Jahreshighlight

Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich
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Als Kaśka Bryla im Sommer 2020 mit den anhaltenden Folgen einer Corona-Infektion kämpft, beschließt sie, endlich die Interviews ihres verstorbenen Vaters zu transkribieren und aufzuarbeiten. Er war im ...

Als Kaśka Bryla im Sommer 2020 mit den anhaltenden Folgen einer Corona-Infektion kämpft, beschließt sie, endlich die Interviews ihres verstorbenen Vaters zu transkribieren und aufzuarbeiten. Er war im 2. WK Mitglied der polnischen Widerstandsarmee/Armia Krajowa, die zunächst gegen die deutsche, später gegen sowjetische Besatzung gekämpft hat. Nach dem Krieg gelang er in sowjetische Gefangenschaft und wurde mehrere Jahre in Gulags interniert. Während sie sich diesen Interviews widmet und selbst krank ist, kümmert sie sich um die verletzte Krähe Karl, die selbst eine langwierige Heilungsphase vor sich hat.

Der Umgang mit persönlichem, biografischem Material auf künstlerische Art und Weise interessiert mich (aus persönlicher und wissenschaftlicher Motivation heraus) sehr, und ich finde, Bryla findet hier wirklich einen besonderen Zugang.

Sie lässt ihren Vater in Transkriptionen selbst erzählen, was ich unglaublich berührend fand, lässt jedoch nicht zu, dass diese Erzählungen von der Erzählerin selbst - also die Autorin - abgeschnitten werden. Es geht nicht nur um ihren Vater und den Gulag, sondern eben auch um die Krähe und dem “ich”. In einem fließenden Schreibstil, der beinahe ohne Satzabschlüsse auskommt, setzt sie die Erzählungen ihres Vaters nämlich mit verschiedenen Punkten ihrer eigenen Erfahrungen in Verbindung, lässt uns gleichzeitig an Schreib-, Recherche- und Reflektionsprozessen selbst teilhaben und regt auch uns als Leserinnen an, darüber nachzudenken, wie man überhaupt mit Zeitzeugenmaterial von bereits verstorbenen Familienmitgliedern umgehen kann.

Welche Verantwortung trägt die erzählende Person für andere, welche Rolle spielen Ort und Zeit, in der sie sich befindet für das Projekt, wie geht sie mit Reibungen oder Ambivalenzen um, die sich ergeben? Und: welche Bedeutungen haben die Relationen zu anderen Personen und zu Wesen, um die sich gekümmert werden muss, und zur eigenen Identität für das Erzählen und Erinnern?

In wechselseitigen Relationen zu denken und sie literarisch für andere verständlich zu machen, ist eine echte Kunst und hat sicherlich viel, viel emotionale Arbeit bedeutet. Was ich besonders spannend fand war, wie schön und irgendwie auch ehrlich Bryla die Themen Queerness (queeres Leben als etwas, das Widerstand erfordert) und Care (Fürsorge als grundlegendes, menschliches Bedürfnis, das einem in unterschiedlichen Situationen entzogen werden kann) miteinander und anderen Punkten im Buch verbunden hat.

Eine kleine kritische Anmerkung habe ich dennoch. Es wurde u.a. einiges an wissenschaftlicher Literatur zitiert; hier hätte ich mir eine vielfältigere Auswahl gewünscht. Dass die vorhanden wäre, zeigt die Literaturliste am Ende des Buches auf.

Für mich ist „Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich“ ein Jahreshighlight, das sich nicht vor Komplexität und Ambivalenzen scheut, trotz heftiger Thematik aber auch ein Plädoyer für ein gutes Zusammenleben ist. Für Leser
innen, die sich selbst schon einmal mit der eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt oder es noch vorhaben, ist diese Lektüre absolut bereichernd – ich zumindest bin mit zahlreichen Fragen und Anregungen aus diesem Buch herausgegangen. Wenn ihr die Möglichkeit habt, empfehle ich auf jeden Fall, das Buch in einer Leserunde oder einem Buchclub zu lesen!

Vielen Dank an Netgalley und den Verlag für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 05.08.2025

Katzen & transformative Träume

Die neun Monde der Miss Sith
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Eine Cait Sith ist eine Feengestalt aus der keltischen Mythologie und schottischer und irischer Folklore. Sie ist eine große, schwarze Katze mit einem weißen Fleck auf der Brust, die neun Leben hat und ...

Eine Cait Sith ist eine Feengestalt aus der keltischen Mythologie und schottischer und irischer Folklore. Sie ist eine große, schwarze Katze mit einem weißen Fleck auf der Brust, die neun Leben hat und in unterschiedlichen Legenden und Märchen vorkommt - manchmal sollte man sich vor ihr fürchten, manchmal hilft sie einem:

“Ihre Transformationen von einer Frau zu einer Katze seien niemals ziellos, und eine Transformation geschehe immer, um jemandem in einer bestimmten Situation zu helfen - etwa um eine Mission zu erfüllen, Befreiung zu erreichen oder einere ausweglosen Situation zu entkommen. Es wird davon ausgegangen, dass sie vor allem Frauen hilft, manchmal (seltener) aber auch Männern.”

Biljana S. Crvenkovska ist eine nordmazedonische Schriftstellerin und liefert nach mehreren Kinderbüchern ein wunderbares Debüt für Erwachsene ab: Die neun Monde der Miss Sith ist eine Art feministischer Katzenroman mit traumhaftem, magischen Realismus-Anteil.

In einer Rahmenerzählung über eine Schriftstellerin und in neun Kapiteln zeigt uns die Autorin jeweils kurze Ausschnitte aus den Leben verschiedener Frauen, die an einem Scheideweg in ihrem Leben stehen - und dabei von einer Katze begleitet werden. Frauen, die sich aus einer Beziehung befreien, die sich für oder gegen Kinder entscheiden, die Arbeiten, die überlegen, in ihre Heimat zurückzukehren, die queer und trans sind und ein neues Leben für sich schaffen wollen. Es sind transformative Prozesse, die sich hier auf kürzester Seitenzahl abspielen.

Miss Sith ist vielleicht ein Tick zu esoterisch und kann sich zu schicksalhaft anfühlen, schließlich sind die neun Kapitel auch noch an den Mondzyklus angelehnt (und naja, an die neun Leben von Katzen), aber irgendwie passt das einfach auch zum magischen Realismus hier. Teilweise haben mich die einzelnen Kapitel an Urban Legends oder abergläubische Erzählungen von irgendwelchen Tanten erinnert, also waren an der Schnittstelle von Realismus, Folklore, Mythen, Esoterik, Traumhaftem… es gibt viele intertextuelle Bezüge, vor allem zu Klassikern, die aber oft hinten im Glossar durch die Übersetzerin erklärt werden.

Für meinen persönlichen Geschmack hätten die Kapitel noch etwas tiefer in die Thematiken reingehen können, aber gleichzeitig waren sie fast ein bisschen wie eine kleine magische Auszeit vom Alltag, trotz schwerer Themen. Katzen vermitteln einem halt von sich aus direkt ein gemütliches Gefühl, oder?

Wer magischen Realismus und Katzengeschichten liebt, der*die ist hier auf jeden Fall richtig.

Ganz wunderbar aus dem Mazedonischen übersetzt von Cornelia Marks 🐈‍

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Veröffentlicht am 03.08.2025

Von dem Gefühl, dass etwas da ist, obwohl es nicht ausgesprochen wird

ë
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Der Buchstabe ë ist im Albanischen ein „Schwa“-Laut, also ein schwach betonter oder gar nicht ausgesprochener Vokal, ähnlich wie das letzte „e“ bei „Gedanke“. In verschiedenen, memoir-artigen Abschnitten, ...

Der Buchstabe ë ist im Albanischen ein „Schwa“-Laut, also ein schwach betonter oder gar nicht ausgesprochener Vokal, ähnlich wie das letzte „e“ bei „Gedanke“. In verschiedenen, memoir-artigen Abschnitten, erzählt Jehona Kicaj in ihrem Debüt „ë“ von diesem Gefühl des Latenten, also etwas, das ähnlich wie dieser Buchstabe, zwar da ist, aber nicht ausgesprochen wird, nicht expliziert wird.

„Wenn man mich fragt, woher ich ursprünglich komme, möchte ich antworten: Ich komme von einem Ort, der verwüstet worden ist. Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. Ich möchte antworten: Ich komme aus der Sprachlosigkeit.“

Die Erzählerin, die als Kind aus dem Kosovo geflohen ist, die ihre Zähne im Schlaf so fest aufeinanderpresst, dass sie kaputt gehen, die etwas, was überhaupt nicht da ist, mit ihren Knochen quasi zermalmt, erzählt uns davon, wie sie diesem Leiden auf den Grund zu gehen versucht. Sie erzählt uns von ihrer Kindheit und Familie, besucht die Vorlesung einer Forensikerin, die menschliche Knochen „zum Sprechen“ bringt und so Opfer des Kosovokrieges identifiziert, besucht Orte, die so verwundet sind, dass man sie mit Erinnerungen zum Sprechen bringen muss, um sie nicht zu vergessen. Erzählt von der Notwendigkeit und Anstrengung, die eigene Stimme nutzen zu müssen, um nicht von Zuschreibungen von außen verschluckt zu werden.

„Im Grunde bedeutet Sprechen für mich noch heute Nachahmung; es ist bloß eine neu angeordnete Klangabfolge von dem, was ich vorher gehört oder gelesen habe. Und manchmal frage ich mich, wie viel von mir selbst in meinen Worten liegt, wenn ich sie ursprünglich von gezeichneten Bildern auf dem Bildschirm erlernt habe.“

Der Kosovokrieg und die vorherigen Angriffe, die Unterdrückung und Segregation, serbischer Nationalismus, die orthodoxe Kirche und die Bestrebungen auf ein Großserbien - Kosovar*innen und ihren Lebensrealitäten wird in Deutschland nicht viel Raum geboten.
Umso schöner und beeinddruckender fand ich, dass der Sprachlosigkeit selbst etwas entgegengesetzt wird: In zahlreichen Dialogen sprechen Menschen, erzählen von ihren Erinnerungen an den Krieg und von ihren Gedanken und Meinungen zu verschiedenen Themen.

„M’doket e ke harru rrugën qysh me ardhë te na – ›Mir scheint, du hast vergessen, wie man zu uns kommt‹“

Auch der Sprache an sich gibt sie Raum. Sie denkt über das Verhältnis zu verschiedenen Sprachen nach, jenachdem, auf welche Weise man sie gelernt hat und welche Zuschreibungen sie von außen haben. Albanische Sätze werden oft ausgeschrieben (und anschließend übersetzt); man merkt, wie liebevoll Kincaj über das Albanische nachdenkt und wie sie versucht, diese Liebe an uns zu vermitteln, was mich als Leserin, obwohl ich diese Sätze nicht verstehe, emotional tief berührt hat.

„Manchmal frage ich mich, ob die Verspannungen in meinem Kiefer nicht auch auf die deutsche Sprache zurückzuführen sind. Ich bilde mir ein, dass meine Kiefergelenke an Tagen, an denen ich nur Albanisch gesprochen habe, weniger laut einrasten. Als hätte ich an diesen Tagen weniger Schmerzen. Wenn ich Deutsch spreche, habe ich das Gefühl, mein Kiefer müsste sich verrenken, um die Wörter auszusprechen, sie richtig zu betonen.“

Bei solchen Büchern fällt es mir schwer, Sterne-Bewertungen abzugeben, weil sie mir eben sehr memoir-haft und persönlich erscheinen. Was ich mir gewünscht hätte wäre, dass sich einige sprachliche Stilmittel, die am Anfang genutzt wurden, noch mehr durch das Buch gezogen hätten bzw. das Buch noch mehr angereichert hätten. Aber das ist nur eine kleine Anmerkung.

Ich empfehle ë für alle, die gerne etwas ruhigere, nachdenkliche und biografische Erzählungen lesen möchten.

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Veröffentlicht am 08.07.2025

Female Rage & der weiße, männliche Blick

Das Beste sind die Augen
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Das Beste sind die Augen, denn sie bringen Glück, wenn man sie ist, davon ist Ji-wons Mutter überzeugt, doch ihre Töchter wollen nichts davon wissen. Eines Tages gibt Ji-won nach und probiert es aus, denn ...

Das Beste sind die Augen, denn sie bringen Glück, wenn man sie ist, davon ist Ji-wons Mutter überzeugt, doch ihre Töchter wollen nichts davon wissen. Eines Tages gibt Ji-won nach und probiert es aus, denn nachdem der Vater die Familie verlassen hat und sie selbst von ihrer Traum-Uni abgelehnt wurde, kann sie wirklich etwas Glück gebrauchen. Und naja, kann dann nicht mehr aufhören…

"Das Beste sind die Augen" ist eine Mischung aus psychologischen Horror, Thriller und einem Spritzer Body Horror. Mit Ji-won als beunruhigend unhingte Protagonistin und einer ordentlichen Portion female rage dekonstruiert Monika Kim den weißen, männlichen Blick, der auf ostasiatischen Mädchen und Frauen lastet: Da wäre der fast schon klischeehaft böse - aber nicht unglaubbar - beschriebene neue Mann ihrer Mutter, der aufs Übelste misogyn und gewalttätig ist, aber auch der angeblich antirassistische, feministische Kommilitone von Jin-won, der sie ausschließlich als unterwürfig und schwach sieht und sich irgendwann gar nicht mehr so feministisch verhält.

Insbesondere die Familiendynamiken haben mich begeistert. Ji-won ist die Personifizierung des Eldest Daughter Syndrome; stets übernimmt sie die Verantwortung, ähm, halt auf ihre eigene Weise. Nebenbei wird uns aber auch erzählt, welche Rolle intergenerationale Traumata für diese Familie spielen.

Ich habe das Buch quasi verschlungen (hehe), aber habe auch ein bisschen Kritik. Die Horror-Parts fand ich großartig, aber der generelle Aufbau ist eher der eines konventionellen Thrillers, was einfach nicht mehr so sehr meinem Geschmack entspricht. Ich hätte mir einen etwas strafferen Plot und eine dichtere Atmosphäre gewünscht.

Nichtsdestotrotz, ich empfehle das Buch absolut! Eventuell auch für Leser*innen, die sich erst einmal an Body-Horror herantasten möchten (wobei einige Stellen schon ganz schön ekelig sind). 👁️

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Veröffentlicht am 25.06.2025

Hoffnungsvolle Solarpunk

Ein Psalm für die wild Schweifenden
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Ein ganz komisches Gefühl in diesen Zeiten Solarpunk zu lesen. Sich bewusst zu werden, wie gut eigentlich alles für alle Menschen sein könnte. Während Berge in der Schweiz literally auseinanderbrechen...

Ein ganz komisches Gefühl in diesen Zeiten Solarpunk zu lesen. Sich bewusst zu werden, wie gut eigentlich alles für alle Menschen sein könnte. Während Berge in der Schweiz literally auseinanderbrechen...

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