Ein Jahreshighlight
Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ichAls Kaśka Bryla im Sommer 2020 mit den anhaltenden Folgen einer Corona-Infektion kämpft, beschließt sie, endlich die Interviews ihres verstorbenen Vaters zu transkribieren und aufzuarbeiten. Er war im ...
Als Kaśka Bryla im Sommer 2020 mit den anhaltenden Folgen einer Corona-Infektion kämpft, beschließt sie, endlich die Interviews ihres verstorbenen Vaters zu transkribieren und aufzuarbeiten. Er war im 2. WK Mitglied der polnischen Widerstandsarmee/Armia Krajowa, die zunächst gegen die deutsche, später gegen sowjetische Besatzung gekämpft hat. Nach dem Krieg gelang er in sowjetische Gefangenschaft und wurde mehrere Jahre in Gulags interniert. Während sie sich diesen Interviews widmet und selbst krank ist, kümmert sie sich um die verletzte Krähe Karl, die selbst eine langwierige Heilungsphase vor sich hat.
Der Umgang mit persönlichem, biografischem Material auf künstlerische Art und Weise interessiert mich (aus persönlicher und wissenschaftlicher Motivation heraus) sehr, und ich finde, Bryla findet hier wirklich einen besonderen Zugang.
Sie lässt ihren Vater in Transkriptionen selbst erzählen, was ich unglaublich berührend fand, lässt jedoch nicht zu, dass diese Erzählungen von der Erzählerin selbst - also die Autorin - abgeschnitten werden. Es geht nicht nur um ihren Vater und den Gulag, sondern eben auch um die Krähe und dem “ich”. In einem fließenden Schreibstil, der beinahe ohne Satzabschlüsse auskommt, setzt sie die Erzählungen ihres Vaters nämlich mit verschiedenen Punkten ihrer eigenen Erfahrungen in Verbindung, lässt uns gleichzeitig an Schreib-, Recherche- und Reflektionsprozessen selbst teilhaben und regt auch uns als Leserinnen an, darüber nachzudenken, wie man überhaupt mit Zeitzeugenmaterial von bereits verstorbenen Familienmitgliedern umgehen kann.
Welche Verantwortung trägt die erzählende Person für andere, welche Rolle spielen Ort und Zeit, in der sie sich befindet für das Projekt, wie geht sie mit Reibungen oder Ambivalenzen um, die sich ergeben? Und: welche Bedeutungen haben die Relationen zu anderen Personen und zu Wesen, um die sich gekümmert werden muss, und zur eigenen Identität für das Erzählen und Erinnern?
In wechselseitigen Relationen zu denken und sie literarisch für andere verständlich zu machen, ist eine echte Kunst und hat sicherlich viel, viel emotionale Arbeit bedeutet. Was ich besonders spannend fand war, wie schön und irgendwie auch ehrlich Bryla die Themen Queerness (queeres Leben als etwas, das Widerstand erfordert) und Care (Fürsorge als grundlegendes, menschliches Bedürfnis, das einem in unterschiedlichen Situationen entzogen werden kann) miteinander und anderen Punkten im Buch verbunden hat.
Eine kleine kritische Anmerkung habe ich dennoch. Es wurde u.a. einiges an wissenschaftlicher Literatur zitiert; hier hätte ich mir eine vielfältigere Auswahl gewünscht. Dass die vorhanden wäre, zeigt die Literaturliste am Ende des Buches auf.
Für mich ist „Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich“ ein Jahreshighlight, das sich nicht vor Komplexität und Ambivalenzen scheut, trotz heftiger Thematik aber auch ein Plädoyer für ein gutes Zusammenleben ist. Für Leserinnen, die sich selbst schon einmal mit der eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt oder es noch vorhaben, ist diese Lektüre absolut bereichernd – ich zumindest bin mit zahlreichen Fragen und Anregungen aus diesem Buch herausgegangen. Wenn ihr die Möglichkeit habt, empfehle ich auf jeden Fall, das Buch in einer Leserunde oder einem Buchclub zu lesen!
Vielen Dank an Netgalley und den Verlag für das Rezensionsexemplar!