Profilbild von clematis

clematis

Lesejury Star
offline

clematis ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit clematis über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.08.2020

Zwei Mal 72 Stunden

Geburtstagskind (Ewert Grens ermittelt 1)
0

„Hochsollsieleben, hochsollsieleben“, in Dauerschleife, ebenso das Kinderprogramm im Fernsehen – erbost ruft ein Nachbar die Polizei. Aber was Ewert Grens erwartet, raubt dem erfahrenen Kriminalkommissar ...

„Hochsollsieleben, hochsollsieleben“, in Dauerschleife, ebenso das Kinderprogramm im Fernsehen – erbost ruft ein Nachbar die Polizei. Aber was Ewert Grens erwartet, raubt dem erfahrenen Kriminalkommissar fast den Atem. Fünf Jahre und ein paar Tage ist Zana nun alt, ein paar Tage Verwesung überdecken den Duft von fünf Kerzen und Geburtstagskuchen.

17 Jahre später wird in dieselbe Wohnung eingebrochen und Grens weiß, jetzt wird es mehr als gefährlich. Der Fall von damals ist noch nicht zu Ende.

Mit einem Prolog, der dem Leser beinahe das Herz zum Stolpern bringt, eröffnet Anders Roslund diesen fulminanten Kriminalroman. Die kleine Zana steht im Mittelpunkt des Geschehens, das Grens und Hoffmann noch Jahre später lebensgefährlich werden wird.

Fesselnd und mitreißend im Stil, spannend durch wechselnde Schauplätze und Sichtweisen wird die Geschichte aufgerollt – größtenteils aus der Perspektive des neutralen Erzählers, vereinzelt aber auch in Ich-Form erzeugt der Autor einen Sog, dem man sich nicht mehr entziehen kann.

Von Anfang an werden alle wichtigen Figuren sehr treffend charakterisiert, so stellt sich zum Beispiel Grens als sehr erfahrener Kommissar dar, der kurz vor seiner Pensionierung gar nicht weiß, was er denn sonst noch alles treibt, außer Verbrecher zu jagen oder Straftaten von vornherein zu verhindern. Unterstützt wird er von seiner geradlinigen und äußerst hartnäckigen Kollegin Mariana Hermansson, die ihn an eine nie geborene Tochter erinnert. Aber nicht nur die Personen, nein, auch die Stimmung ist hervorragend ausgearbeitet, liebevolle Menschen wie knisternde Spannung, aufkeimendes Misstrauen und hinterhältiger Verrat inmitten des Polizeigebäudes füllen Seite um Seite und lassen ein Kapitel nach dem anderen dahinfliegen. Immer weitere Kreise ziehen mafiöse Machenschaften, immer knapper wird das Zeitfenster, das den Ermittlern zur Verfügung steht. Bis zuletzt ist unklar, wer und was sich hinter allem verbirgt, selbst Grens durchschaut das miese Spiel erst (zu?) spät.

Dieser Krimi beeindruckt einfach auf ganzer Linie – Schreibstil, Spannung, Stoff der Handlung – alles passt perfekt zusammen, alles fügt sich zu einem logischen Ende und lässt den Leser schließlich berührt und aufgewühlt zurück. Großartig!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.08.2020

Absolutes Gehör und eine große Portion Ehrgeiz

Die Dirigentin
0

Willy lebt mit ihren Eltern in New York. Die 23jährige Holländerin steht kurz vor der Einbürgerung und bestreitet zwei Jobs: tagsüber als Sekretärin, abends als Platzanweiserin. Fast das gesamte Geld übergibt ...

Willy lebt mit ihren Eltern in New York. Die 23jährige Holländerin steht kurz vor der Einbürgerung und bestreitet zwei Jobs: tagsüber als Sekretärin, abends als Platzanweiserin. Fast das gesamte Geld übergibt sie brav an ihre strenge Mutter, nur einen geringen Betrag spart sie heimlich. Mit vielen kleinen Diensten im Haushalt und artigem Benehmen darf sie sich ihre heißgeliebten Stunden am Klavier „erkaufen“, das ihr Vater als Müllmann auf der Straße gefunden hat. Allerdings stellt sie sich ihr Leben ganz anders vor: sie möchte Dirigentin werden, hört sich Konzerte von draußen an - im Saal sind Bedienstete nicht erlaubt – und liest so viel wie möglich über berühmte Komponisten, Dirigenten, Musiker im Allgemeinen – und immer sind es Männer, die im Rampenlicht stehen. Als Frau wird sie im Jahre 1926 einfach nicht ernst genommen.


Maria Peters schildert diese bewegende Romanbiografie im Präsens. Viele Kapitel erzählen Willys Geschichte, die eigentlich Antonia Brico heißt, aus der Sicht der ehrgeizigen jungen Dame in der Ich-Form. Dazwischen kommen andere wichtige Personen zu Wort - auch hier wählt die Autorin interessanterweise die Ich-Perspektive. Dadurch entsteht eine ganz besondere Lebendigkeit, eine unmittelbare Begegnung zwischen den einzelnen Figuren untereinander, aber auch eine große Nähe zum Leser, der sich so ganz in Antonias Leben hineinversetzen kann, hautnah ihre Gefühle nachempfinden kann und spürt, wie viel Kraft, wie viel Anstrengung sie unternimmt, um ihren Traum wahr werden zu lassen. Etliche Prügel werden dieser konsequent und hart arbeitenden Musikerin vor die Füße geworfen, eine Frau solle besser Kinder bekommen als die Hochschule anzustreben und Männer im Orchester würden sich bestimmt niemals von einer Frau etwas vorschreiben lassen.


So zeichnet Peters den steinigen Weg von Antonia Brico nach, begleitet sie auf beschwerlichen und entbehrungsreichen Wegen von Amerika zu ihren europäischen Wurzeln und wieder zurück, beschreibt in einer angenehm melodischen Sprache, wie Musik verzaubern kann, welche Kraft die junge Künstlerin aus den Stücken von Beethoven, Liszt und vielen anderen Komponisten schöpft, wie sie aufblüht beim Erklingen der ersten Orchestertöne, sie jedes einzelne Instrument heraushört und mitfiebert, wenn die Klänge die Konzerthalle durchfluten.


Mit diesem Buch wird eine große Künstlerin gewürdigt, wobei auch im Nachwort noch interessante Details erläutert werden (zum Beispiel die spätere enge Freundschaft zu Albert Schweitzer) und ein ausführliches Quellenverzeichnis die Romanbiografie ergänzt.


Fazit: Die Dirigentin ist ein spannendes und zugleich unterhaltsames Buch über die ehrgeizige Antonia Brico, die sich ihren Platz in einer strikt verteidigten Männerdomäne sucht. Der Kinostart für die Buchverfilmung ist für September 2020 angekündigt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.08.2020

Vom Umgang mit Seuchen

Ich rede von der Cholera
0

Der deutsche Dichter und Schriftsteller Heinrich Heine übersiedelt 1831 nach Paris und schreibt Texte für die Augsburger „Allgemeine Zeitung“. Ein eindrücklicher Bericht stammt vom 20. April 1832 über ...

Der deutsche Dichter und Schriftsteller Heinrich Heine übersiedelt 1831 nach Paris und schreibt Texte für die Augsburger „Allgemeine Zeitung“. Ein eindrücklicher Bericht stammt vom 20. April 1832 über die Cholera.

Während die Cholera bereits London erreicht und zahllose Todesopfer gefordert hat, nimmt die Stadtverwaltung von Paris die Seuche nicht ernst. Ansteckungs- und Verbreitungswege sind unbekannt, es wird wohl ein Problem der „anderen“ sein. Fröhlich wird weiter gefeiert und sorglos ein normales Leben gelebt – bis auch in Paris die Toten auf der Straße liegen. Rasch werden Schuldige gesucht, von Gift und Verschwörung ist die Rede, untaugliche Mittel zur Bekämpfung der Krankheit werden ausgerufen und Angst treibt so manchen aus der Stadt.

Mitten im Chaos bewahrt Heine die Ruhe und sieht sich aufmerksam um. Mit seiner typisch nüchternen Art beschreibt er das geschäftige Treiben zur Zeit der Seuche, Reich und Arm sind gleichermaßen betroffen, da Angst, dort Überheblichkeit – landen am Ende doch alle in den gleichen Leichensäcken.

Die Beobachtungen sind bewegend und erschreckend, allerdings doch recht kurz gehalten. Vermutlich, weil es sich um einen Zeitungsartikel handelt, der im Anhang auch als Faksimile abgedruckt ist.

Ein entsprechendes Vorwort von Tim Jung berichtet von den Beweggründen Heines, in Paris zu bleiben und mit welch journalistischem Weitblick der Dichter die Seuche dokumentiert hat. Ein Vergleich zur Corona-Pandemie knapp 200 Jahre später ist zwar medizinisch nicht haltbar, aber doch sehr aufschlussreich, wenn man die Reaktionen der Menschen heranzieht: die Seuche ist eine andere, der Umgang damit frappierend ähnlich.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.08.2020

Traum und Wirklichkeit

Das Lichtenstein – Modehaus der Träume
0

Das traditionsreiche „Lichtenstein“, Warenhaus mitten in Berlin, ist Fundgrube für jedermanns Geschmack. Nicht nur „Reich und Schön“ soll bedient werden, sondern auch Arbeiter und Taglöhner können sich ...

Das traditionsreiche „Lichtenstein“, Warenhaus mitten in Berlin, ist Fundgrube für jedermanns Geschmack. Nicht nur „Reich und Schön“ soll bedient werden, sondern auch Arbeiter und Taglöhner können sich hier ab und zu einen kleinen Wunsch erfüllen. Während der jüngere Sohn des Hauses, Ludwig, auch künftig alles beim Alten belassen möchte, sieht sein Bruder Jacob stete Veränderung als das gewinnbringende Ziel, niemals auf den Lorbeeren ausruhen, ist seine Devise. Aber ein verheerendes Feuer und der beginnende Krieg verändern bald das Leben aller Menschen, die mit dem Lichtenstein zu tun haben.

In abwechselnder und spannender Folge begegnen dem Leser die einzelnen Protagonisten des Lichtenstein, Inhaber wie Angestellte füllen ein Kapitel nach dem anderen und erwachen vor unserem geistigen Auge zu realen Figuren, mutig, vorausschauend, kämpferisch, aber auch traditionsbewusst und bodenständig. So präsentieren sich jene Personen, die nicht nur ihren Lebensunterhalt im und durch das Warenhaus verdienen, sondern auch ihre Ideen und Träume mitbringen, zum Teil mit Leib und Seele sich der großen Familie verschrieben haben. Der historische Hintergrund wird gut recherchiert mit der fiktiven Handlung verwoben, sodass man ein gutes Gefühl bekommt für das alltägliche Leben und die Stimmung rund um die Jahre 1913 – 1918. Einerseits floriert die Mode, wer sich kein teures Kleid leisten kann, sucht sich zumindest schöne Stoffe aus und näht, andererseits sind Armut und beengte Wohnverhältnisse ein Thema. Dennoch spürt man die Lebensfreude, die nicht verloren geht, die Pläne und Hoffnungen für die Zukunft, auch wenn der Vater säuft und Schläge austeilt.

Doch der Krieg lässt sich nicht aufhalten – Franzosen und Russen zwingen zum Marsch an die Front. Werden damit auch die letzten Träume erlöschen?

Flüssig und lebendig führt Averbeck durch diese schicksalreichen Jahre des Lichtenstein und nimmt den Leser mit auf eine interessante Reise, aufregend, romantisch, erschütternd und traurig, manchmal jedoch ein wenig (zu) langatmig. Viele einzelne Episoden werden erzählt, die das Modehaus zu einem lebendigen Mikrokosmos erwecken und neugierig warten lassen auf die Fortsetzung des Romans. Der Serienauftakt ist auf jeden Fall gelungen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.07.2020

Was es braucht zum Glück

Die Wunderfrauen
0

Der Krieg ist zu Ende, nach Jahren des Verzichts kann man sich nach und nach wieder etwas leisten. Und Luise Dahlmann wünscht sich ein klein wenig Eigenständigkeit mit einem eigenen Feinkostladen. In Gedanken ...

Der Krieg ist zu Ende, nach Jahren des Verzichts kann man sich nach und nach wieder etwas leisten. Und Luise Dahlmann wünscht sich ein klein wenig Eigenständigkeit mit einem eigenen Feinkostladen. In Gedanken plant sie bereits die Einrichtung, notiert in ihrem Notizbüchlein das Sortiment und ansprechende Aktionen. Aber wird ihr Mann Hans seine Zustimmung erteilen? Und auch drei andere Frauen stehen vor Veränderungen: Marie Wagner, vertrieben aus Schlesien, Helga Knaup, Tochter eines reichen Schuhfabrikbesitzers und die Arztgattin Annabel von Thaler.

Bereits der Prolog ist spritzig verfasst. Stephanie Schuster lässt das Bild der Zeit um die Jahre 1953/54 von Anfang an sehr lebendig vor dem Auge des Lesers wieder aufleben und Erinnerungen an früher oder zumindest an Erzählungen daran wach werden.

Die weitere Handlung gliedert sich in zwei Teile. Zuerst werden rückblickend alle vier Wunderfrauen vorgestellt, jede mit ihrem ganz persönlichen Schicksal, Gemeinsamkeiten scheint es kaum zu geben. Später laufen die Fäden zusammen und die Autorin verflicht das Leben der vier illustren Damen im bayrischen Starnberg miteinander auf gekonnte Art und Weise. In spannendem Bogen erfährt man hier Zeitgeschichtliches und vor allem, welche Hürden Frauen zur damaligen Zeit noch auferlegt waren, von freien Entscheidungen und Unabhängigkeit keine Spur. Dennoch nehmen die vier Hauptfiguren dieser Geschichte ihr Leben selbst in die Hand und versuchen ein bisschen Glück zu finden nach den schweren Kriegsjahren. Die Charaktere sind gelungen in ihrer Darstellung, jede einzelne Frau ist mit ihren typischen Eigenschaften sehr glaubwürdig dargestellt. So unterschiedlich ihre Herkunft auch ist, kommen sie einander im Laufe der Zeit näher, aus nachbarschaftlicher Hilfe wird sogar freundschaftlicher Zusammenhalt.

Stephanie Schusters Schreibstil ist flüssig, die übersichtlichen Kapitel gestalten sich kurzweilig und ineinanderfließend, wenn eine Stelle aus der Sicht zweier unterschiedlicher Damen beleuchtet wird. So wechseln einander die Blickwinkel und Erlebnisse der vier Frauen stetig ab und bringen ein Gesamtbild hervor, das stimmig die Zeit der 1950-er Jahre widerspiegelt: schreckliche Erinnerungen an den Krieg, Verlust von Familienmitgliedern, harte Arbeit beim Wiederaufbau, aber auch Hüftspeck nach der Hungersnot, Lutscher in schmucken Glasgefäßen, Schallplatten und tragbare Abspielgeräte, offener Dorftratsch und hinterlistige Intrigen, Männer-Wirtshausrunden und Fußballmeisterschaft.

Mit viel Liebe zum Detail und etlichen Szenen zum Schmunzeln erweckt die Autorin längst vergangene Zeiten zum Leben. Somit bleibt dem Leser nur gespanntes Warten auf die Fortsetzung dieser pfiffigen Frauen-Geschichte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere