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Veröffentlicht am 04.12.2020

Kurze Geschichten, die es in sich haben

Fast ein neues Leben
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Eine namenloses Mädchen, das als Einwandererkind aufwächst und sich auch noch als junge Frau durchs Leben kämpfen muss, erzählt uns von seinen Erfahrungen. Nicht nur das neue Land und die Menschen darin ...

Eine namenloses Mädchen, das als Einwandererkind aufwächst und sich auch noch als junge Frau durchs Leben kämpfen muss, erzählt uns von seinen Erfahrungen. Nicht nur das neue Land und die Menschen darin erscheinen fremd, sondern auch die eigenen Eltern, die sich selbst erst noch zurechtfinden müssen. So lesen wir von Brennpunktvierteln, Ausgrenzung und Kulturunterschieden und erfahren ganz nebenbei etwas über unsere eigene Haltung. Mir ging es jedenfalls so.

Locker leicht lassen sich die zwölf Kurzgeschichten lesen, obwohl jede von ihnen etwas Unangenehmes, Unbequemes oder ganz und gar Bitteres beinhaltet. Geschickt wird durch die geschüttelte Reihenfolge der einschneidenden Erlebnisse ein Spannungsbogen erzeugt. Eine ansteigende Intensität war für mich deutlich zu spüren.

Dabei lassen die Geschichten genug Raum, um Geschehnisse weiterzuspinnen und auszumalen. Ich habe mich regelrecht darin verloren und mich immer weiter hineingesteigert, um letztendlich festzustellen, wie voll von Vorurteilen und Klischees ich selbst bin. Ich hatte immer angenommen, ein offener, toleranter und aufgeschlossener Mensch zu sein. Nun habe ich weiteres Optimierungspotential diesbezüglich erkannt.

Anna Prizkau hat mich echt beeindruckt. Mit recht wenigen Worten schafft sie es, sich einem Thema umfassend zu widmen. Ihr Erzählstil braucht keine Anhäufung malerischer Sprache. Wenige präzise Metaphern schließen ein Bild ab, lassen es rund erscheinen. Am Ende fehlt mir nichts bei diesem zunächst dünn wirkenden Buches. Alles ist gesagt. Es wirkt sogar nach. Die angeschobenen Gedanken sind für mich bereichernd.

Gern empfehle ich „Fast ein neues Leben“ weiter.

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Veröffentlicht am 04.12.2020

Geht auf keine Kuhhaut

Die Infantin trägt den Scheitel links
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Ein wahnsinniger Roman zum verrückt werden mit brachialer Sprache, irgendwie zum Kopfschütteln, gleichzeitig grandios. Damit könnte meine Bewertung bereits allumfänglich abgeschlossen sein.

Helena Adler ...

Ein wahnsinniger Roman zum verrückt werden mit brachialer Sprache, irgendwie zum Kopfschütteln, gleichzeitig grandios. Damit könnte meine Bewertung bereits allumfänglich abgeschlossen sein.

Helena Adler erzählt eine Geschichte, die wohl in den frühen Achtzigerjahren spielt. Sie behandelt das Heranwachsen eines Mädchen in bäuerlichen Gefilden, das unter den älteren Zwillingsschwestern sowie unter der allzu frommen Mutter leidet. Wo Bezüge zum Zeitgeschehen auf Achtziger schließen lassen, erinnern das sonstige Setting und der Sprachgebrauch an die Fünfziger. Auch das Cover lässt eher frühere Jahrzehnte vermuten, wobei es sich auch um ein verunstaltetes Foto der Mutter oder Großmutter unserer Protagonistin handeln könnte.

Durch dieses Feuerwerk an Sprache stand für mich weniger die Geschichte an sich im Mittelpunkt, vielmehr die damit verbundenen Gefühle der Heranwachsenden. Förmlich wie ein Tsunami hat mich die diplomatielose, ungeschönte, rotzfreche Sprache überrollt. Meistens hat mich diese Übertreibung amüsiert, manchmal kurz überfordert.

Ingesamt habe ich die Lektüre als Abwechslung zu unserer Streit vermeidenden Kultur als erfrischend empfunden und sehr genossen. Vor dem Abenteuer, sich mit Haut und Haaren in dieses Werk zu stürzen, empfehle ich das Lesen einer Leseprobe. Der Roman ist extrem und kommt vielleicht nicht bei Jedem gut an. Ich fand ihn MEGA.

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Veröffentlicht am 22.11.2020

Auch nach dem Abgrund weitere Geheimnisse

Die Hornisse (Tom-Babylon-Serie 3)
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Nachdem bereits Schlüssel 17 und Zimmer 19, die ersten beiden Fälle von Tom Babylon, unglaublich fesselnd für mich waren, wollte ich natürlich auch unbedingt seinen neuesten Fall verfolgen. Obwohl der ...

Nachdem bereits Schlüssel 17 und Zimmer 19, die ersten beiden Fälle von Tom Babylon, unglaublich fesselnd für mich waren, wollte ich natürlich auch unbedingt seinen neuesten Fall verfolgen. Obwohl der Titel „Die Hornisse“ aus der Reihe tanzt - ich hatte etwas mit einer 21 erwartet - passt doch der Inhalt weiterhin perfekt zur Serie. Ein Fall des Ermittlers Tom Babylon, hier die brutale und perfekt inszenierte Ermordung des Rockstars Brad Galloway, wird geschickt mit Ereignissen aus dessen Kindheit verknüpft.

Der Rockstar Brad Galloway wird also tot im Gästehaus der Polizei aufgefunden, in erniedrigender Pose und übel zugerichtet. Seine Brust ist mit einer Botschaft versehen. Auf der Suche nach den letzten Kontakten Galloway‘s gerät plötzlich Tom‘s Familie in den Fokus der Ermittlungen. Von den Ereignissen überrollt, von den Ermittlungen ausgeschlossen, versteht Tom seine eigene Welt nicht mehr.

Im zweiten Handlungsstrang präsentiert uns Marc Raabe einen Ausschnitt der Machenschaften der Staatssicherheit der DDR. Es ist schwer zu ertragen, wie manipulativ Menschen vorgehen und welcher Methoden sie sich bedienen, um Andere in eine bestimmte Richtung zu drängen, um sie zu unverzeihlichen Handlungen zu zwingen. Um jeden Preis will die Stasi unbescholtene Bürger für die eigene Sache gewinnen. Was im echten Leben unerträglich erscheint, ist für die Spannung des Thrillers durchaus zuträglich.

Marc Raabe wechselt wie auch schon in den ersten beiden Fällen geschickt zwischen den beiden Strängen hin und her. Immer kurz vor dem Höhepunkt der Spannung lässt er uns Leser mit einem Cliffhanger sitzen, steigt tiefer in den jeweils anderen Strang ein. Der dadurch entstehende Suchteffekt und die Geschwindigkeit beim Lesen lassen einen die Zeit vergessen. Wenn ich mich wie hier regelrecht zwingen muss, nachts auch mal ins Bett zu gehen, dann ist ein Thriller perfekt.

Besonders gut fand ich dieses Mal das Zusammenspiel zwischen Sita Johanns und Tom Babylon. Man merkt richtig, wie die beiden sich von Fall zu Fall besser kennen, das gegenseitige Vertrauen wächst, sich beide aufeinander verlassen können. Auch habe ich das Gefühl, Tom nach diesem Band noch ein bisschen besser zu kennen. So langsam ahne ich, woher sein psychologischer Knacks, der ihn so sympathisch macht, herrührt. Daher kam es mir auch gelegen, dass seine „telepathische“ Verbindung zu seiner Schwester Viola weiterhin verfolgt wird, auch wenn diese im aktuellen Fall nicht so sehr im Vordergrund stand.

Am Ende geht es um nichts weniger als um Leben und Tod. Es wäre auch nicht Tom Babylon, wenn es nicht richtig brenzlig werden würde. Nach Abschluss eines abermals megaspannenden Thrillers bleiben einige Fragen offen, die mich auf einen weiteren Band hoffen lassen.

Fazit: Ganz klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 22.11.2020

Jugendliche Reflexionen auf eine ungerechte Welt

Dieses ganze Leben
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Die sechzehnjährige Paola lebt als Tochter eines Bauunternehmers sehr komfortabel in einer schönen Villa inklusive Nanny. Trotzdem hat sie es nicht immer leicht. Während ihr Bruder, der im Rollstuhl sitzt, ...

Die sechzehnjährige Paola lebt als Tochter eines Bauunternehmers sehr komfortabel in einer schönen Villa inklusive Nanny. Trotzdem hat sie es nicht immer leicht. Während ihr Bruder, der im Rollstuhl sitzt, die volle Aufmerksamkeit seines Umfelds genießt, fühlt sich Paola oft zurückgesetzt. Ihre Wahrnehmung von sich selbst ist negativ angehaucht, nur weil sie optisch nicht den Models der Hochglanzmagazine entspricht. Mobbingaktionen ihrer Mitschüler und wenig einfühlsame Äußerungen in der Familie tun ihr Übriges.

Vor diesem Hintergrund sinniert Paola über ihr eigenes Leben und die Verhältnisse in ihrer Umgebung nach. Ihre Gedanken erreichen den Leser in erfrischend frecher, jugendlicher Sprache. Dem Klischee mangelnder Konzentration folgend, springt sie zwischen ihren Themen hin und her, wechselt scheinbar planlos zwischen Berichten zu echten Ereignissen und eigenen Träumereien. Das ist beim Lesen zeitweise ganz schön anstrengend.

Über den Einblick in Paola‘s Leben transportiert Raffaella Romagnolo ihre Gesellschaftskritik. Oberflächlichkeit, Neid und Missgunst sind die Probleme, der gehobenen Klasse, die keine echten Sorgen mehr zu haben scheint. Sie kritisiert die Arroganz und die Gewissenlosigkeit, die Eliten teilweise gegenüber Anderen an den Tag legen. Sie haben den Blick für die breite Masse verloren, ihre soziale Pflicht vergessen. Die Abgrenzung von arm und reich arbeitet die Autorin gut heraus und zeigt besonders schön wie egal genau dies Kindern eigentlich ist. Diese Perspektive des Romans hat mir gut gefallen.

Der Hauptanklagepunkt des Romans ist das Schweigen. Da viele Dinge unausgesprochen und damit ungeklärt sind, befinden sich alle in einer wagen Unsicherheit. Niemand weiß um die Einstellung des Anderen. Dadurch ist nicht auszumachen, wo man selbst steht. Mit Hilfe der Geschichte um Paola‘s Großmutter argumentiert Raffaella Romagnolo, dass es durchaus positiv sein kann, das Schweigen zu brechen.

Insgesamt hat mir dieser Roman gut gefallen, die Perspektive auf die Gesellschaft hat mich beeindruckt. Die Sprache der Protagonistin und die zahlreichen metaphorischen Verweise auf andere Autoren gingen mir etwas auf die Nerven. Dafür ziehe ich einen Stern ab. Lesenswert ist „Dieses ganze Leben“ trotzdem.

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Veröffentlicht am 08.11.2020

Stiller Selbstfindungsroman

Das Buch eines Sommers
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Nicolas verbringt nach dem Abi den Sommer bei seinem Onkel Valentin. Dort überwindet er den Liebeskummer, den ihm seine damalige Freundin bereitet hatte, nur weil sie unbedingt am anderen Ende der Welt ...

Nicolas verbringt nach dem Abi den Sommer bei seinem Onkel Valentin. Dort überwindet er den Liebeskummer, den ihm seine damalige Freundin bereitet hatte, nur weil sie unbedingt am anderen Ende der Welt studieren wollte. Während des Studiums folgen weitere Sommer. Nicolas träumt davon, Schriftsteller zu werden wie sein Onkel. Doch dann überrumpelt ihn das Leben und er wählt den für ihn vom Vater vorgedachten Weg. Nicolas begibt sich in ein Hamsterrad aus Verantwortung, Terminen und lauter Zwängen.

Als nach Jahren mitten im größten Stress auch noch sein Onkel Valentin stirbt, wird Nicolas plötzlich bewusst, wie endlich sein eigenes Leben und die gemeinsame Zeit in der Familie ist. Er fühlt sich zunächst völlig verloren. Zurück am Ort seiner Jugend kommen die Erinnerungen an schöne Momente und an seinen ursprünglichen Lebensentwurf.

Mit ganz stiller Stimme taucht Bas Kast in Nicolas’ Gefühlschaos ein, stellt dar, wie es sich langsam wieder ordnet. Gleichzeitig, ein wenig im Verborgenen, bearbeitet der Autor die Frage nach der Sinnhaftigkeit der ewigen Jugend. Der Protagonist stellt sich selbst und indirekt auch uns Lesern die ganz großen Fragen des Lebens. Wer will ich sein? Was ist mir wichtig? Wieviel Zeit investiere ich wofür? Was habe ich davon? Wie werde ich glücklich?

Bas Kast regt zum Nachdenken an, zur Selbstreflexion. Man kann sich wieder erkennen, seine eigenen Schlüsse ziehen. Auf Manches wird man gestoßen, zum Beispiel wie wichtig es ist, seinen Liebsten Aufmerksamkeit zu schenken und Anerkennung zukommen zu lassen. Andres bleibt interpretierbar.

Der Romanansatz hat mir gut gefallen, da die Thematik dadurch ihren belehrenden Charakter verliert. Es lohnt sich, das eigene Ich zu hinterfragen. Daher empfehle ich die Lektüre gern weiter.

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