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Veröffentlicht am 06.06.2025

Ein Roman wie ein Kunstwerk

Sputnik
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Es ist wohl mein Jahr der dritten Bände, hier nach „Der Apfelbaum“ und „Ada“ nun „Sputnik“, als neuerlicher Ausflug in die Familiengeschichte von Christian Berkel. Der aktuelle Roman hat etwas Surreales, ...

Es ist wohl mein Jahr der dritten Bände, hier nach „Der Apfelbaum“ und „Ada“ nun „Sputnik“, als neuerlicher Ausflug in die Familiengeschichte von Christian Berkel. Der aktuelle Roman hat etwas Surreales, einen teils seltsam befremdlichen Touch. Gleichzeitig wirkt das Konstrukt wie ein ganz besonderes Kunstwerk.

Dabei verbindet der Autor gekonnt die eigene Familiengeschichte mit dem jeweiligen Zeitgeschehen, lässt vorherrschende Stimmung und Atmosphäre wieder auferstehen. Mit sprachlichem Geschick schenkt er seinen Charakteren passende Stimmen. Die Elterngeneration ist derart mit Redewendungen der Vergangenheit bestückt, dass ich zeitweise gedanklich in meine eigene Kindheit abgedriftet bin. Sputnik, ausgeführt als Ich-Erzähler, ist in seiner Sprechstimme verkürzt männlich unterwegs, in seiner Gedankenwelt unerwartet literarisch. Diesen Wechsel mochte ich sehr. Daraus ergibt sich ein von den Vorgängern abweichendes Leseerlebnis, die eher von den weiblichen Rollen, Sala und Ada, getragen wurden.

Vergleichbar ist die Anlage als Entwicklungsroman, die mit Sputniks sehr bildlich dargestellter Geburt startet. Die ausufernd dargebotene Gefühlswelt des Geborenen bringt die Leser*innen mit einem Kontext in Verbindung, von dem unser ganzes Sein normalerweise abgeschnitten ist. Für mich ist dies ein Gleichnis zu der schweigenden Generation, die unfähig ist, mit ihren Nachkommen über das Geschehene im Weltkrieg zu sprechen. Deren Kinder, hier Ada und Sputnik, fehlen dadurch Puzzleteile für ihre Entwicklung. Da, wo Erfahrung weitergegeben werden sollte, entsteht ein Loch. Auflehnung, Drogenexzesse und gehäuft suizidale Tendenzen sind die Symptome der Folgegeneration.

Die Darstellung des Generationenkonfliktes mit der schwierigen Beziehung zu den eigenen Eltern hat mir durch die in der Erzählweise mitschwingende Liebe insgesamt sehr gut gefallen.

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Veröffentlicht am 03.07.2024

Das Ende des vorsichtigen Reisenden

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
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Sarah Brooks lässt im auslaufenden 19. Jahrhundert ihre Reisenden durch ein zwischen China und Russland liegendes, fiktives Ödland mit dem stärksten Zug der Welt transportieren. Dieser Zug ist technisches ...

Sarah Brooks lässt im auslaufenden 19. Jahrhundert ihre Reisenden durch ein zwischen China und Russland liegendes, fiktives Ödland mit dem stärksten Zug der Welt transportieren. Dieser Zug ist technisches Wunderwerk und Schutzpanzer gegen die Gefahren des Ödlands zugleich. Die Länder selbst schotten sich mit riesigen Mauern und Waffengewalt gegen die Bedrohung ab.

Doch was hier als öde betitelt wird, erscheint mir unheimlich attraktiv, voller Detailreichtum und positiver Möglichkeiten. Zudem verblasst für mich regelmäßig die vorgegebene Zeitachse, ich schwimme zwischen auslaufender Zarenzeit und Gegenwart. Über weite Strecken deuten die Verhaltensweisen der Damen im Roman auf ein emanzipierteres Zeitalter hin. Vielleicht ein anders entwickeltes Paralleluniversum?!

Begleitet werden die Reisenden vom „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ aus der Feder von Valentin Rostow, ein Buch im Buch also, das ihnen warnend Verhaltensweisen im Zug empfiehlt, um nicht am Ödland-Weh zu erkranken. Rostow teilt seine zwanzig Jahre früher liegenden Beobachtungen eigener Reisen, verwandelt damit den vorhandenen Respekt vor der Reise in Angst.

Schon irgendwie ein interessantes Debüt, von der Machart eigentlich gar nicht so meins, geradeaus erzählt, relativ blumig ins innere Auge geschrieben, zu viele sympathische Charaktere, wenig Streitbares, Nichts zum wirklich Aufregen. Trotzdem war dieser Reisebericht keine triviale Sommerlektüre. Es ist schwer, sich abschließend festzulegen, um was es geht. Wahrscheinlich entstehen Zuschreibungen in diesem Sinne abhängig davon, was die Lesenden an eigener Historie und Erfahrungen mitbringen.

Vielleicht wird ein stückweit auf die neuerliche, politische Ausrichtung der beiden Länder abgestellt oder es wird der Einfluss des Menschen auf Flora und Fauna kritisch betrachtet. Für mich geht es vor Allem um Veränderung, die Angstmache in diesem Kontext, aber auch um Abschied und Trauer, um einen beschwerlichen Weg hin zur nächsten hoffentlich wieder attraktiven Evolutionsstufe.

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Veröffentlicht am 09.03.2024

Es gibt nur eine Macht. Die Macht zu töten.

Das Philosophenschiff
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Die Hundertjährige Architektin Anouk Perlemann-Jacob bittet einen wenig renommierten Schriftsteller ihr Leben in einem Roman zu verarbeiten. Die Geschichte beginnt, als Anouk auf Lenins Befehl hin mit ...

Die Hundertjährige Architektin Anouk Perlemann-Jacob bittet einen wenig renommierten Schriftsteller ihr Leben in einem Roman zu verarbeiten. Die Geschichte beginnt, als Anouk auf Lenins Befehl hin mit einem Philosophenschiff ins Exil deportiert wird. Wenige Personen der sogenannten Intelligenzija sind mit ihr auf dem völlig überdimensionierten Schiff. Die Crew des Schiffes bleibt für die Passagiere verborgen. Sie haben nur einander, vermuten Spionage, die Stimmung ist von Misstrauen geprägt. Als das Schiff mehrere Tage auf offenem Meer hält, geht die Angst um.

Vor diesem Hintergrund spinnt Michael Köhlmeier eine Story aus historischen Fakten und frei erfundenen Lügen zusammen, die die Erinnerungen der gealterten Anouk Perlemann-Jacob darstellen sollen. Natürlich verändern sich Erinnerungen im Laufe der Zeit, Details gehen verloren, Lücken werden aufgefüllt. Doch in solch extravaganter Ausprägung wie hier sind mir Erinnerungen noch nie begegnet. Ehrlich gesagt hat mich damit der Autor auch ein Stück weit abgehängt, da ich nicht so recht ausmachen kann, was er seiner Leserschaft mit diesem Roman sagen will. Will er alternative Fakten anprangern? Will er auf sich wiederholende Geschichte aufmerksam machen? Vieles ist mir ein Rätsel geblieben. Themen werden angerissen, später nicht weiterverfolgt. Personen, die der Geschichte wenig dienen, nehmen in meiner Wahrnehmung viel Raum ein. Soll unsere Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit widergespiegelt werden oder die ausufernde Phrasendrescherei von Leuten, die eigentlich nichts zu sagen haben? Vielleicht alles davon vielleicht Nichts.

Dabei habe ich die Kapitel einzeln betrachtet, eigentlich ganz gern gelesen. Rein sprachlich hat mich der Roman schon abgeholt. Beeindruckt haben mich die Ausführungen, die Köhlmeier Lenin über Macht sprechen lässt, sowie Stalins Ausführungen über die leichtfertig aufgegebene Freiheit des Volkes, um selbst keine Verantwortung und kein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Das gibt mir schon zu denken.

Insgesamt ist mir „Das Philosophenschiff“ allerdings zu zerfasert und über weite Strecken auch zu weit weg von historischer Glaubwürdigkeit. Zudem hätte ich mir ein Nachwort oder irgendeine Erklärung gewünscht, die mich nochmal aus anderer Richtung abholt. So bleibe ich nach der Lektüre etwas ratlos zurück.

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Veröffentlicht am 26.02.2024

Gleichzeitig genial und schwer auszuhalten

Lil
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Ich habe wahrscheinlich noch nie ein literarisches Highlight gelesen, das dermaßen unerträgliche, mir körperlich weh tuende Szenen enthält. Obwohl hier sehr bildhaft Abscheulichkeiten der Menschheit herausgearbeitet, ...

Ich habe wahrscheinlich noch nie ein literarisches Highlight gelesen, das dermaßen unerträgliche, mir körperlich weh tuende Szenen enthält. Obwohl hier sehr bildhaft Abscheulichkeiten der Menschheit herausgearbeitet, beispielsweise Vergewaltigung und Verstümmelung von Frauen beschrieben werden, bin ich begeistert von Grassers Roman. Wie kann das sein?

Markus Grasser beschönigt nicht. Er setzt die Gewalttaten in den Kontext einer Gesellschaft um 1880 und analysiert das damalige Rollenbild. Schließlich bewegen wir uns in einem Umfeld, wo unliebsame Damen, die sich nicht wie gewünscht, devot und angepasst verhalten, als abnormal erklärt und ganz schnell in eine Nervenklinik eingewiesen werden. So eine Dame ist Lillian „Lil“ Cutting, eine Eisenbahnmagnatin mit unkonventionellem Führungsstiel und für ihre Zeit angeblich zu kreativem Investitionsmanagement. Da sie lieber rund um die Uhr an ihrem Unternehmen arbeitet, statt sich auf Partys zu amüsieren, verstößt sie gegen sämtliche gesellschaftlichen Konventionen und hat über die Jahre die gesamte New Yorker High Society gegen sich aufgebracht. Nach dem Tod ihres Gatten nutzt der eigene Sohn die Möglichkeiten des Systems, um Lil in einer Anstalt weg zu sperren.

Die literarische Umsetzung der Entsetzlichkeiten ist genial. Verpackt in eine gehobene Sprache mit teils selten verwendetem Vokabular entsteht eine maximal kritische Auseinandersetzung mit der damaligen New Yorker Gesellschaft. Durch gezielt gesetzte bissige Spitzen wirkt diese Kritik auch in das Hier und Jetzt hinein. Aktuelle Themen wie Rassismus, Antisemitismus und Misogynie sind passend mit der Handlung verwoben. Die Aufteilung in zwei zeitlich auseinander liegenden Handlungssträngen lässt die Lesenden dieses rasanten Romans inne halten, vorübergehend zur Ruhe kommen, bevor sie von neuerlichen Grausamkeiten überrollt werden.

Dem in mir wohnenden Bösen hat natürlich ganz besonders auch der bereits im Klappentext angekündigte Rachefeldzug gefallen. Das Zusammenspiel lief hier zwar für meinen Geschmack insgesamt etwas zu glatt. Trotzdem musste der Rachedurst gestillt werden.

Insgesamt ein sprachlicher Hochgenuss, der einen zum Lächeln zwingt, wenn es eigentlich nicht angebracht ist.

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Veröffentlicht am 11.02.2024

[w]Orte erzählen Geschichte[n]

Echtzeitalter
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Der Titel des im Roman ausgerufenen Literaturwettbewerbs „[w]Orte erzählen Geschichte[n]“ beschreibt gleichzeitig perfekt den vorliegenden Roman mit seinen Orten. Tonio Schachinger setzt sich nicht nur ...

Der Titel des im Roman ausgerufenen Literaturwettbewerbs „[w]Orte erzählen Geschichte[n]“ beschreibt gleichzeitig perfekt den vorliegenden Roman mit seinen Orten. Tonio Schachinger setzt sich nicht nur mit der Coming of Age Geschichte seines Protagonisten Till Kokorda auseinander, sondern auch kritisch mit der Historie des Marinanums, der Stadt Wien sowie dem aktuellen politischen Geschehen in Österreichs.

Das Marinanum ist ein elitäres Wiener Gymnasium, das von Till Kokorda und seinen Freunden Khakpour, Palfffy, Feli und Fina besucht wird. Wir begleiten die Schüler beginnend mit ihrem Wechsel zum Marinanum bis hin zur Matura. Ihr Leben dort ist nicht leicht. Insbesondere der für Literatur zuständige Lehrer, der Dolinar ist schwer zu ertragen. Er quält seine Schützlinge mit unzähligen Bänden klassischer Literatur, bestraft sie drakonisch mit unendlichem Nachsitzen sowie mit einer Eselsbank, wenn sie nicht vollumfänglich begreifen oder gar faul sind. Was dabei faul bedeutet, entscheidet natürlich der Dolinar. Durch die Umgangsformen im Marinanum verschwimmt die Zeit. Obwohl es sich um einen zeitgenössischen Roman handelt, fühlt man sich über weite Strecken um fünfzig bis siebzig Jahre in der Zeit zurückversetzt.

Till selbst ist ein eher ruhiger, etwas zu schüchterner Junge geschiedener Eltern, der in seinem Erwachsenwerden einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen muss. Ziemlich allein gelassen mit seinen Sorgen - die Mutter kämpft mit finanziellen Nöten - findet Till Trost in der Parallelwelt von Age of Empires II. Hier ist er erfolgreich, quasi ein Star, die Community zollt ihm Respekt. Im echten Leben muss Till mit schwierigen Freundschaften, Zurückweisungen und Mobbing zurechtkommen, und darüber hinaus mit der Tyrannei des Dolinar. Die militärische Ansprache der Schüler beim Nachnamen wie auch die wutgeladene Wortgewalt zur Ankündigung der nächsten Strafarbeit, haben mich stark an eine Zeit erinnert, als im Unterricht noch mit Schlüsselbunden geworfen wurde.

Sprachlich ist dieser Roman ein Feuerwerk, ein in Wellen gearbeitetes Wechselspiel aus Wiener Dialekt, militärischem Drill und überbordender Grammatikstunde. Gleichzeitig wird eine Reise durch klassische Literatur mit entsprechend sprachlichem Niveau unternommen. Darüber hinaus ist der Roman umfassend mit Gesellschaftskritik ausgestattet. Die Schere zwischen Arm und Reich mit dem Blick von Reich auf Arm sowie die Korruption innerhalb der österreichischen Politik sind für mich am deutlichsten hervorgehoben. [Scheinbare], fast nur im Nebensatz fallende, Wahrheiten triggern zusätzlich die Leserschaft an vielen Stellen. In dieser Hinsicht hat mich: „Alle Menschen müssen irgendwann Urlaub machen, alle Katzen bekommen irgendwann eine Augeninfektion, und alle Menschen schlafen offenbar irgendwann mit ihren Arbeitskollegen.“ auf Seite 189 am meisten berührt beziehungsweise irritiert.

Ich fühlte mich von Tonio Schachinger hin- und hergeworfen, rein und raus aus meiner Komfortzone beim Lesen, wurde von eigenen, längst verdrängten Erinnerungen überschwemmt. Insgesamt ein großartiger Roman, ein verdienter Buchpreis-Gewinner, obwohl oder gerade weil ich dem Autor einige Male zurufen wollte: „Was stimmt nicht mit dir, Oida. Schleich dich!“

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