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Veröffentlicht am 14.09.2024

Von Drachenflüsterern und entschlossenen Prinzessinnen

Ich fürchte, Ihr habt Drachen
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Es ist schon eine seltsame, nicht unliebenswerte Welt, in die Peter S. Beagle mit seinem Roman "Ich fürchte, Ihr habt Drachen" lockt. Denn im Königreich Bellemontagne gelten Drachen als Ungeziefer wie ...

Es ist schon eine seltsame, nicht unliebenswerte Welt, in die Peter S. Beagle mit seinem Roman "Ich fürchte, Ihr habt Drachen" lockt. Denn im Königreich Bellemontagne gelten Drachen als Ungeziefer wie anderswo Ratten oder Kakerlaken. Statt eines Kammerjägers rückt dann der Drachenfänger an, in diesem Fall der junge Robert, der den in der feudalen Gesellschaft nicht sonderlich angesehenen Beruf von seinem Vater geerbt hat und viel lieber Leibdiener eines Aristokraten, am liebsten gar am königlichen Hof wäre. Mal abgesehen davon, dass Robert Drachen mag und es furchtbar findet, sie zu töten. Ein paar Drachlinge - Babydrachen - tummeln sich wie Haustiere im Haus seiner Mutter, vor allem von den jüngeren Schwestern heiß geliebt.

Doch im königlichen Schloss von König Antoine und Königin Helene muss Robert zum Groß-Drachenputz anrücken. Der Schloss muss gefälligst repräsentativ wirken, denn Prinzessin Cerise, bisher schwer angenervt von den Prinzen, die ihr ihre Aufwartung machten, hat sich tatsächlich in einen Prinzen verguckt. Reginald, Erbe eines großen Königreiches, ist ihr zufällig begegnet, als Cerise sich heimlich fortgeschlichen hat, um sich mühselig Lesen und Schreiben beizubringen. In Beagles Fantasywelt sind die Adeligen nämlich Analphabeten, Bildung ist etwas fürs gemeine Volk, wobei die Jungen schon früh die Schule verlassen müssen, um zu arbeiten - Robert beneidet seine Schwestern, die lernen dürfen.

Reginald ist aber auch mit den allgemeinen Bildungslücken seiner Klasse noch einmal besonders tumb geraten. Die aufgeweckte Cerise übersieht das allerdings, denn Reginald sieht aus wie der Inbegriff eines Helden - der soll es sein und kein anderer! Dass Reginald eigentlich ein ruhiges Leben ganz ohne Abenteuer ersehnt und verzweifelt versucht, sich seinem eher hartherzigen Vater zu beweisen, ist der entschlossenen Prinzessin nicht klar. Die Spaziergänge mit Reginald sind so nett und keimfrei, dass mir beim Lesen der Verdacht aufkam, dass der schöne Reginald vielleicht grundsätzlich nichts mit Prinzessinnen oder auch Frauen aus dem Volk anfangen kann.

Sei´s drum - Reginald muss ein Held sein, einen Drachen bezwingen , auch wenn es so ziemlich das Letzte ist, worauf er Wert legt. Auf dem Zug ins Abenteuer soll ihn Drachenexperte Robert begleiten - und auch Cerise lässt es sich nicht nehmen, ihren schönen Prinzen in Aktion zu sehen. Wie diese Quest dann noch ein bißchen mehr ist, als die drei samt ihres Trosses erwartet haben, das erzählt Beagle humorvoll, märchenhaft, mit sowohl düsteren als auch romantischen Szenen. Die bildhafte Sprache, die Protagonisten und nicht zuletzt die Drachenwelt machen diesen gelungenen Fantasyroman zu einem Lesevergnügen.

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Veröffentlicht am 12.09.2024

Kein Heideidyll

Von Norden rollt ein Donner
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Mit "Vom Norden rollt ein Donner" hat Markus Thielemann einen Anti-Heimatroman aus der idyllischen Heidelandschaft zwischen Celle und Uelzen geschrieben. Der 19-jährige Jannes ist Schäfer in der dritten ...

Mit "Vom Norden rollt ein Donner" hat Markus Thielemann einen Anti-Heimatroman aus der idyllischen Heidelandschaft zwischen Celle und Uelzen geschrieben. Der 19-jährige Jannes ist Schäfer in der dritten Generation eines Familienbetriebs, seine Eltern und sein Großvater arbeiten ebenfalls mit den Schafen. Doch die Idylle ist gleich mehrfach getrübt. Da ist zum einen die Angst vor dem Wolf. Gerüchte schwirren, auch wenn ihn noch keiner gesehen hat. Aber alle sind sicher, auf den nahegelegenen Truppenübungsplätzen wachsen Wölfe heran, die eine Bedrohung für die Schafe der Landwirte sind.

Auch Jannes ist immer nervös, wenn er mit der Herde durch die Heide zieht. Doch er spürt auch andere Ängste. Da sind zum einen die Aussetzer seines Vaters, der vergesslich wird oder manches ständig wiederholt. Sind es die gleichen Anzeichen wie bei der dementen Oma, obwohl keine Blutsverwandtschaft besteht und der Vater viel jünger ist?

Und auch Jannes fürchtet um seinen Verstand, denn er hat Visionen von einer verwahrlosten Frau, deren Gegenwart er spürt und die er manchmal sieht, gefolgt von einem Zusammenbruch, den er sich nicht erklären kann. Ist der Wahn ein Familienfluch? Und wieso erwähnt die Unbekannte einen Namen, den er von seiner Oma hörte, wenn diese jemanden suchte, der nicht zu existieren schien? Hat sie etwas zu tun mit der Kriegs- und Nachkriegszeit, mit den Lagern für Zwangsarbeiter? Spuken die Geister gequälter Menschen - auch das Konzentrationslager Bergen-Belsen lag in der Heide-Idylle - nach Jahrzehnten in die Gegenwart? Gibt es womöglich in der eigenen Familie Geheimnisse und dunkle Taten?

Ein Spuk ganz anderer Art kommt scheinbar harmlos daher, der neue Nachbar mit seiner seltsam altmodisch ausstaffierten Rede und Sprüchen über Volk und Heimat, über Wurzeln und Siedelei, Ausgerechnet Jannes´ Vater, dem schon der Schützenverein seines Schwiegervaters mit seinen kernigen Bemerkungen zuwider war, freundet sich mit dem Nachbarn an.

Thielemann schafft zwischen Angst vorm Wolf und wahnhaften Visionen eine düstere Atmosphäre und räumt nebenbei mit dem unkritischen romantisch-verklärten Bild des Heidedichters Hermann Löns auf. Ganz entschieden kein Heideidyll, aber ein faszinierend dunkler Heideroman.

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Veröffentlicht am 05.09.2024

Dialog in einer Zeit der Polarisierung

Muslimisch-jüdisches Abendbrot
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Wenn ich manche aufgeheizten Debatten - oder vielmehr wechselseitige konfrontative Monologe sehe - dann sind Paare wie Saba-Nur Cheema und Meron Mendel für viele Menschen vermutlich personifizierte Provokation. ...

Wenn ich manche aufgeheizten Debatten - oder vielmehr wechselseitige konfrontative Monologe sehe - dann sind Paare wie Saba-Nur Cheema und Meron Mendel für viele Menschen vermutlich personifizierte Provokation. So ein Paar dürfte es aus deren Sicht vermutlich gar nicht geben: Sie ist gebürtige Frankfurterin, Muslima, Tochter pakistanischer Eltern, die vor Verfolgung in ihrer Heimat nach Deutschland geflohen sind. Er ist Israeli, in einem Kibbutz in der Negev-Wüste aufgewachsen, kam zum Studium nach Deutschland und blieb. Beide arbeiteten viele Jahre an der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank zusammen, deren Direktor Mendel bis heute ist, beide sind wissenschaftlich und publizistisch tätig und veröffentlichen seit Jahren eine gemeinsame FAZ-Kolumne, deren Texte nun unter dem Titel "Muslimisch-Jüdisches Abendbrot" als Buch erschienen sind.

Zeitlos sind viele der Texte auch jenseits des Tagesjournalismus, auch wenn, natürlich, die Gesellschaft und die Polarisierung seit dem 7. Oktober 2023 eine große Rolle spielen. Dass die Texte jenseits des Tagesaktuellen so relevant und wichtig sind, liegt auch daran, dass hier zwei kluge, reflektierte, nachdenkliche Menschen das machen, was in den Blasen der Daueraufgeregtheit verloren geht: Auf Augenhöhe, voller Respekt miteinander reden, Unterschiede und Kontraste zulassen, die unterschiedlichen Ansichten von Menschen im Umfeld aushalten und sachlich zu reagieren, anstatt niederzuschreien.

Nun ist es so, dass ich die beiden und die Arbeit der Bildungsstätte seit vielen Jahren kenne und vielleicht als voreingenommen gelten mag. Aber dieser ernsthafte, nachdenkliche, durchaus auch mal ironische und selbstironische Blick auf die Gesellschaft, auf die Themen, die viele Menschen umtreiben, auf Identität und Zugehörigkeit, gesellschaftlichen Dialog und aktivistische Konfrontationen, dieser Blick fehlt mir in vielen Diskussionen, in denen sich beide Seiten voller Selbstgerechtigkeit und Alleinvertretungsanspruch an die Wahrheit beharken.

Das "muslimisch-jüdische Abendbrot" zeigt nicht nur, wie bereichernd unterschiedliche Blickwinkel, Erfahrungen und Ansichten sein können, sondern auch, wie bereichernd die wertschätzenden Auseinandersetzung jenseits von Pauschalisierungen sein kann. Und es macht klar: Miteinander reden ist sehr viel besser als übereinander schimpfen.

Veröffentlicht am 03.09.2024

Freundschaft und Entfremdung

Ich komme nicht zurück
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Als Kinder in einer Zechensiedlung im Ruhrgebiet waren sie unzertrennlich: Hanna, die von ihren Großeltern aufgezogen wird, Cem und die ebenfalls mutterlose Zeyna, die mit ihrem Vater aus Tripoli kommt ...

Als Kinder in einer Zechensiedlung im Ruhrgebiet waren sie unzertrennlich: Hanna, die von ihren Großeltern aufgezogen wird, Cem und die ebenfalls mutterlose Zeyna, die mit ihrem Vater aus Tripoli kommt und in der Fremde Fuß fassen muss. In ihrem Roman "Ich komme nicht zurück" beschreibt Rasha Khayat die Geschichte von Freundschaft und Entfremdung aus der Sicht von Hanna, die Jahrzehnte später und in der Coronapandemie zurückkehrt, weil ihre Großmutter nach einem Schlaganfall im Krankenhaus ist. Und auch nach deren Tod bleibt sie in der alten Wohung, gefangen in der Vergangenheit, weil die Gegenwart voller Einsamkeit ist.

Während Hanna weggegangen ist, Lehrerin wurde, ist Cem geblieben. Der Kontakt zu Zeyna ging verloren, sie reist als Fotografin um die Welt. Doch immer wieder sieht Hanna Frauen, die sie an die einstige Freundin erinnern. Über Facebook und über Zeynas Vater versucht sie, Kontakt aufzunehmen, doch Zeyna will offensichtlich nichts mehr von ihr wissen, reagiert in einer einzigen Nachricht brüskiert.

Wie ist es so weit gekommen? Hanna entblättert ihre Erinnerungen, auch die Kindheit und Jugend in den späten 80-ern und 90-er Jahren, als das Wir plötzlich aufgebrochen wurden, als Cem und Zeyna ihr vermittelten, dass sie nicht mitreden könne, eben nicht betroffen sei von Ereignissen wie dem Brandanschlag in Mölln, der das Sicherheitsgefühl der Freunde nachhaltig erschüttert und deren Eltern in tiefe Ängste stürzt. Wieso ist eigentlich gar keine Rede von Solingen, fragte ich mich beim Lesen, denn der dortige Anschlag auf das Haus der Familie Genc lag doch viel näher am Ruhrgebiet, hat die migrantische Gesellschaft in Nordrhein-Westfallen zutiefst aufgewühlt.

Dass Zeyna manches anders sieht, wird auch in ihrer Reaktion auf die Anschläge vom 11. September deutlich. Während Hanna voller Entsetzen den Einsturz der Twin Towers beobachtet, lacht Zeyna, deren Heimatstadt Tripolis von den USA bombardiert worden war. Ihre Mutter kam bei einem Luftangriff ums Leben. Rechtfertigt das die Zustimmung zu Terror? Der erste Riss in der Freundschaft, die schleichende Entfremdung ist da schon absehbar. Später wird Hanna das Geheimnis lüften, das zum Bruch führte.

"Ich komme nicht zurück" ist ein Zeit- und Pandemieroman, der auch zeigt, wie zwischen Lockdown und Kontakbeschränkungen Einsamkeit noch einmal zunimmt. Wird Hanna sich aus ihrem Schneckenhaus befreien? Das Ende zeigt leise Hoffnung. Ein leise erzählender Roman, der auch ein Stück bundesdeutscher Geschichte aufrollt.

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Veröffentlicht am 31.08.2024

Paradise Lost

Der Honigmann
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In Fischbach haben Schauspielerin Fine und Programmierer Tim mit ihrer kleinen Tochter ihre heile Welt gefunden, ein Paradies außerhalb Berlin, dessen Kulturszene und Restaurantangebote angesichts des ...

In Fischbach haben Schauspielerin Fine und Programmierer Tim mit ihrer kleinen Tochter ihre heile Welt gefunden, ein Paradies außerhalb Berlin, dessen Kulturszene und Restaurantangebote angesichts des Eigenheimglücks im Grünen irgendwie so gar nicht mehr lockt. Ihre Nachbarn sind auch ihre Freunde, eine Blase in der Eigenheimsiedlung, alle akademisch-bürgerlich, die Kinder gehen auf eine Montessori-beeinflusste Grundschule, es ist eine kleine, überschaubare Welt und auch ziemlich in sich abgeschlossen. Mit den ursprünglichen Fischbachern hat man nichts zu tun, die sorgen eher für die Infrastruktur von Handwerk und Handel, die die Neuankömmlinge im Alltag so brauchen.

Doch in Peter Huths Roman "Der Honigmann" wird diese heile Welt nicht bleiben. Der Honigmann, das ist der freundliche ältere Herr, der gegenüber dem Spielwarenladen und an der Bushaltestelle gleich an der Schule einen Laden mit Tees, Duftkerzen und Honig eröffnet hat, der Art von Deko und Mitbringseln, die Fine und die anderen Frauen der Neu-Fischbacher mögen. Beim Einkauf gibt es dann noch einen Capucchino und ein nettes Gespräch, etwas Süßes für die Kinder.

Doch dann kursiert ein Brief in der Schule, der ein ganz neues Licht auf den Honigmann wirft. Ist der Laden eher eine Honigfalle, gedacht, um das Vertrauen von Kindern zu erschleichen und ihren Müttern gewissermaßen Sand in die Augen zu streuen? Fine gründet eine WhatsApp-Gruppe für Firschbach-Mütter, um ihre Ängste, Wut und Unsicherheit zu artikulieren. Wie es in sozialen Medien nicht selten ist, eskaliert die Gefühlslage in der Gruppe. Die Gruppe wird zur Büchse der Pandora, und Fine hat längst keine Kontrolle mehr über die Dynamik dort.

Huth beschreibt die zunehmende Paranoia innerhalb der Gemeinschaft, zwischen Ängsten und Sensationsgier, Opportunismus, Neid, und dem Versuch, den sozialen Frieden nicht zu gefährden, am Beispiel dreier ursprünglich so eng befreundeter Paare. Für die einen wird es zur Vertreibung aus dem Paradies, für die anderen ein Leben mit Verdrängung. Die heile Welt wird gnadenlos seziert. Dieses Buch blickt hinter die Speckgürtel-Idylle und demaskiert sie ebenso wie die Dynamiken einer daueraufgeregten social media-Gesellschaft

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