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Veröffentlicht am 10.04.2025

Ukrainisches Kriegstagebuch

Im täglichen Krieg
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Die Waffe von Schriftstellern sind Worte. Auch der ukrainische russischsprachige Schriftsteller Andrej Kurkow versucht mit seinem Kriegstagebuch "Im täglichen Krieg" auf diese Weise aufzurütteln, Aufmerksamkeit ...

Die Waffe von Schriftstellern sind Worte. Auch der ukrainische russischsprachige Schriftsteller Andrej Kurkow versucht mit seinem Kriegstagebuch "Im täglichen Krieg" auf diese Weise aufzurütteln, Aufmerksamkeit für die Lage in seinem Land zu wecken, damit die Weltöffentlichkeit sich nicht irgendwann an den Status quo gewöhnt und zur Tagesordnung übergeht. Schreiben heißt erinnern - an den russischen Angriffskrieg, an die Massaker und Kriegsverbrechen, an die Leugnung und Unterdrückung ukrainischer Identität, die Zwangsrussifizierung in den besetzten Gebieten.

Vor Jahren las ich Kurkows wunderbares Buch "Graue Bienen" über einen alten Imker im Donbas - der Krieg hatte aus der Sicht der Ukrainer bereits zu jener Zeit, im Jahr 2014, begonnen. In seinem Kriegstagebuch führt Kurkow seine Leser*innen durch Bombennächte und Luftschutzkeller, durch den Alltag und die Versuche, das Leben weiter zu führen, die Militarisierung und Mobilisierung auf beiden Seiten. Dabei gibt es kein "Right or wrong, my country" - Kurkow geht kritisch mit Zwangsmobilisierungen ins Gericht, die eher an Razzien erinnern, mit Korruption und Kriegsgewinnlern.

Kurkow fühlt sich als Ukrainer, aber seine Sprache ist Russisch. Immer wieder thematisiert er Identität, die nicht immer einfache Lage für diejenigen, die aufgrund ihrer Sprache plötzlich unter Generalverdacht geraten können, nicht ukrainisch genug sein zu können, womöglich illoyale fünfte Kolonne. Er weiß sich als privilegiert - einerseits wegen seiner Rolle als bekannter Schriftsteller, andererseits wegen seines Alters, da ihm keine Einberufung droht. Er kann sich teilweise ins Ausland zurückziehen, dort schreiben. Andere haben diese Möglichkeit nicht.

"Im täglichen Krieg" geht immer wieder auf die ukrainische Kulturszene ein, auf den Versuch, kulturelles Leben auch unter Kriegsbedingungen aufrecht zu erhalten, auf das Schicksal von Kolleginnen und Kollegen, die bei Luftangriffen und Massakern ums Leben kamen und ihren Versuch, Manuskripte zu retten für eine Zeit nach der russischen Besatzung. Kurkows Buch ist keine Kriegsreportage, sondern eine subjektive Beobachtung des Kriegsalltags weitab von der Front. Auf Pathos und allzu große Emotionen verzichtet er, doch gerade mit dieser sachlich-zurückhaltenden und doch persönlichen Darstellung überzeugt sein Buch.

Veröffentlicht am 08.04.2025

Surfer-Paradies mit Schatten

The Surf House
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Die Romane von Lucy Clarke sind eine Mischung aus psychologischer Spannung, meist wunderschönen Schauplätzen und der Dynamik von Frauenfreundschaften - bis dann eben das scheinbare Paradies durch Tod und/oder ...

Die Romane von Lucy Clarke sind eine Mischung aus psychologischer Spannung, meist wunderschönen Schauplätzen und der Dynamik von Frauenfreundschaften - bis dann eben das scheinbare Paradies durch Tod und/oder Gewalt erschüttert wird und sich hinter mancher Fassade eine unangenehme Wahrheit offenbart. Das ist in ihrem neuen Buch "The Surf House" über eine Surfer Community an der marokkanischen Küste nicht anders:

Model Bea bricht ein Foto-Shooting in Marrakesch ab und beschließt spontan, abzureisen. Sie will dieses Leben nicht mehr - was sie eigentlich will, weiß sie allerdings auch nicht. Als sie Opfer eines Raubüberfalls wird, kommt ihr Marnie zu Hilfe, die mit ihrem Freund ein Surfer-Hostel an der Küste betreibt. Der Zwischenfall endet mit einem in Notwehr getöteten Räuber, Bea hat weder Geld noch ihren Pass. Marnies Hostel ist zunächst Fluchtpunkt für ein paar Nächte, wird aber bei längerer Zeit zu dem Ort, an dem sich Bea neu orientiert, für Kost und Logis arbeitet, auf dem Surfbrett erstmals die Arbeit auf den Wellen kennenlernt.

Doch es wäre kein Lucy Clarke-Thriller, wenn die Idylle aus schöner Landschaft und gechillten braungebrannten attraktiven Menschen nicht plötzlich Risse bekommt: Bea und Marnie werden wegen des toten Räubers in Marrakesch erpresst, ein Amerikaner taucht auf, der nach dem Verbleib seiner vor einem Jahr verschwundenen Schwester forscht. Ihr letzter bekannter Aufenthalt war das Surf House. Hinzu kommen die immer größeren Spannungen zwischen Marnie und ihrem Freund, der Bea irgendwie unheimlich ist. Sie versucht, immer mehr über die verschwundene Samantha herauszubekommen, die sie für eine Geistesverwandte hält - wollte sie einfach nur die Brücken zu ihrer Vergangenheit kappen, oder ist ihr etwas zugestoßen?

Auch wenn Clarke auf eine bewährte Mischung setzt, fällt "The Surf House" meiner Meinung nach hinter ihren anderen Büchern zurück. Die Figuren sind oberflächlicher, die inneren Konflikte weniger nachvollziehbar und die Handlung kommt erst spät in Gang. Statt einer starken Frauengruppe geht es mehr um Paar-Dynamiken, die aber eher abgedroschen wirken. Das kann die Autorin, wie ihre anderen Bücher zeigen, sehr viel besser. So ist es leider nur Durchschnittskost geworden.

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Veröffentlicht am 08.04.2025

Fährmann-Saga

Ósmann
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Joachim B. Schmidt mag Schweizer sein, aber ganz offensichtlich ist er stark mit Island verbunden. Seine beiden "Kalman"-Romane mit ihrem ganz besonderen Protagonisten habe ich sehr gerne gelesen und war ...

Joachim B. Schmidt mag Schweizer sein, aber ganz offensichtlich ist er stark mit Island verbunden. Seine beiden "Kalman"-Romane mit ihrem ganz besonderen Protagonisten habe ich sehr gerne gelesen und war daher neugierig auf "Osmann". Das Buch über einen Fährmann Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts ist sowohl historischer Roman als auch Porträt eines sowohl starken, als auch dichtenden Isländers, deutlich düsterer als "Kalman", der mehr ein reiner Tor ist.

Schmidt romantisiert das Island der beschriebenen Ära nicht, gekennzeichnet von Armut und Rückständigkeit, schlechten Lebensbedingungen und hoher Kindersterblichkeit. So manche Dorfhütte verfällt, weil die Bewohner in der Neuen Welt eine bessere Zukunft gesucht haben. Osmann, der Fährmann, bleibt, denn einer muss ja die Menschen über den Fluss setzen. Sowohl Einsamkeit als auch Gastfreundschaft werden geschildert, reichlich Alkohol soll die Kanten des harten Lebens abschärfen, das nicht nur aus körperlicher Plackerei, sondern auch aus Schicksalsschlägen besteht. Ist es da ein Wunder, dass Osmann mit knapp über 40 zunehmend als alter Mann gesehen wird?

Mit der Wucht und Poesie einer isländischen Saga bringt Schmidt in "Osmann" eine Welt zurück, die es - sicher zum Glück für die Menschen - so auch auf der Insel im Nordatlantik nicht mehr geben dürfte. Traditioneller Aberglauben, die Rolle der Dänen in Island und manche noch auf die Wikinger zurückgehenden Sitten wie der traditionelle Ringkampf werden beschrieben, so dass Schmidts Roman nicht nur das Leben des Jon Osmann schildert, sondern en passant noch Wissenswertes über Island teilt.

Die überlebensgroße, tragische wie sympathische Figur des Osman trägt dieses Buch mühelos, die Beschreibungen der rauhen Landschaft, des Klimas und der Lebensverhältnisse sind faszinierend.

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Veröffentlicht am 06.04.2025

Innenansichten des Trump-Wahlkampfs

Alles oder nichts
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Nicht nur bei den Anhängern der US-Demokraten dürfte der Katzenjammer im vergangenen November groß gewesen sein, als zunächst Prognosen und später Stimmenauszählungen klar machten: Donald Trump kehrt ...

Nicht nur bei den Anhängern der US-Demokraten dürfte der Katzenjammer im vergangenen November groß gewesen sein, als zunächst Prognosen und später Stimmenauszählungen klar machten: Donald Trump kehrt ins Weiße Haus zurück. Wie konnte das möglich sein, angesichts der erratischen ersten Amtszeit, der Unberechenbarkeit des Kandidaten, von seinen zahlreichen juristischen Problemen einmal ganz abgesehen? Wie konnte eine Mehrheit der Amerikaner*innen diesen Mann für wählbar halten?

In seinem Buch "Alles oder nichts" gibt der US-Journalist Michael Wolff Innenansichten in die Trump-Wahlkampagne, in den Kreis der Spender und Mitarbeiter, die internen Intrigen und den Umgang mit den zahlreichen Klagen. Seine Quellen verschleiert er dabei - und nach der Lektüre des Buches ist ziemlich klar, dass kein Informant Wolffs Interesse haben dürfte, als Leak identifizierbar zu sein.

Das ist einerseits die Schwäche dieses gut lesbaren Buches - Behauptungen und Beschreibungen sind nicht verifizierbar, mal abgesehen von den öffentlichen Reden und Gerichtsauftritten Trumps im Wahlkampf. Andererseits dürfte Wolff, der bereits ein Buch über Trumps erste Amtszeit geschrieben hat, nah dran an Trumps Umfeld gewesen sein. Schlüssig klingen seine Beschreibungen des Trump-Lagers allemal, wenn man sie in Zusammenhang mit Trumps öffentlichen Auftritten setzt.

Das Phänomen Trump ist dabei sowohl erschreckend als auch auf gruselige Weise faszinierend. Ein auf Karacho gebürsteter Kandidat ohne echte politische Agenda und Strategie, dem jegliche Empathie oder Analysefähigkeit abgeht, dessen enormes Ego ständig von einem Hofstaat aus Lakaien und Schmeichlern bedient werden muss, dessen Verhältnis zu Frauen ebenso fragwürdig ist wie sein Umgang mit Mitarbeitern.

Wolffs Buch endet mit dem Wahlsieg, manches, was sich seitdem entwickelt hat, etwa die Rolle Elon Musks, zeichnet sich darin noch nicht sonderlich ab. Es zeigt die Rivalitäten sowohl innerhalb der Republikaner und der MAGA-Bewegung, die immer größeren Einfluss gewinnt, die Machtkämpfe innerhalb Trumps Wahlkampf- und Juristenteams. Eines dürfte klar sein: Bis zum Ende von Trumps zweiter Amtszeit dürften Turbulenzen und Konflikte reichlich garantiert sein.

Veröffentlicht am 25.03.2025

Klaustrophobischer Thriller

Die Kammer
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In seinem klaustrophobischen Thriller "Die Kammer" führt Will Dean seine Leser*innen buchstäblich in die Tiefe, nämlich in die Tauchkammer, in der sechs Sättigungstaucher auf engstem Raum arbeiten, tagelang ...

In seinem klaustrophobischen Thriller "Die Kammer" führt Will Dean seine Leser*innen buchstäblich in die Tiefe, nämlich in die Tauchkammer, in der sechs Sättigungstaucher auf engstem Raum arbeiten, tagelang am Meeresboden Wartungsarbeiten etwa für Ölbohranlagen ausführen. Es ist eine gefährliche Arbeit, in der sich die Taucher blind aufeinander verlassen können müssen. Für Ich-Erzählerin Ellen Brooke, die einzige Frau der Gruppe, ist es der Traumjob, auf den sie lange hingearbeitet hat. Dafür nimmt sie immer wieder die Trennung von der Familie auf sich, die beengten Verhältnisse in der Kammer ohne Privatsphäre, die tagelange Dekompression, wenn es nach dem Arbeitseinsatz wieder an die Oberfläche geht. Denn die Tür zur Taucherkammer plötzlich zu öffnen, ohne den Druckunterschied allmählich, im Schneckentempo, anzugleichen, würde fatale Folgen haben.

Zudem befinden sich die Taucher unter Dauerbeobachtung: Eine Crew an Bord des Schiffes ist für ihr Wohlergehen, ja ihr Überleben verantwortlich. Ohne die Menschen, die für Mahlzeiten, Getränke, Musik und Zeitschriften sorgen und das Gasgemisch in der Kammer überwachen, könnten auch die Taucher nicht überleben.

Auf einem Tauchgang vor der Küste Schottlands aber geht etwas schrecklich schief: Der jüngste der Taucher bricht zusammen und stirbt. Der Fall muss untersucht werden, doch ein plötzliches Auftauchen ist unmöglich - die Taucher müssen erst die Dekompression hinter sich bringen. Bis dahin kann die Bordsanitäterin sie nicht untersuchen und auch der Rechtsmediziner, der für den Todesfall zuständig ist, kann nur vom Schiff aus Anweisungen zur Entnahme von Körperproben machen.

Die Theorie eines tragischen Unfalls zerbricht, als es einen weiteren Todesfall gibt. Spätestens jetzt breitet sich Paranoia aus. Wie können topfitte Männer plötzlich zusammenbrechen und sterben? Kommt die Bedrohung von außen, oder ist sie womöglich in der Tauchkammer selbst? Die körperlichen und mentalen Herausforderungen der Dekompression werden noch unerträglicher, wenn sie in der Anwesenheit einer wachsenden Zahl von Leichen stattfindet. Gut gehütete Geheimnisse werden nach und nach gelüftet und am Ende ist nichts, wie es einst schien.

Dean schafft in seinem Roman eine beklemmende Atmosphäre, bei der auch beim Lesen angesichts der klaustrophobischen Bedingungen in der Kammer die Luft weg bleibt. Ein locked room mystery unter erschwerten Bedingungen mit überraschenden Wendungen und Enthüllungen und einem Wow-Effekt am Ende.

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