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Veröffentlicht am 30.11.2023

Warten im Niemandsland

Der große Wunsch
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Murad ist kein Abenteurer, kein risk taker und auch kein junger Backpacker. Und doch ist der eher nachdenklich-reflektierte Intellektuelle und Sozialarbeiter aufgebrochen in eine Region, vor deren Besuch ...

Murad ist kein Abenteurer, kein risk taker und auch kein junger Backpacker. Und doch ist der eher nachdenklich-reflektierte Intellektuelle und Sozialarbeiter aufgebrochen in eine Region, vor deren Besuch das Auswärtige Amt auf seiner Seite warnen dürfte. Im Niemandsland an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien wartet er nach einer beschwerlichen Anreise in die kurdische Region. Die karge und doch dramatische Landschaft mit ihren steilen Bergstraßen und Dörfern, in denen die Zeit stehen geblieben scheint, müsste ihm eigentlich etwas sagen: Murads Familie stammt aus diesen Bergen, die er aus den Erzählungen des Großvaters kennt.

Doch Murad fühlt sich als Fremder und es ist keine sentimental journey, sondern die verzweifelte Mission eines Vaters, die Sherko Fatah in seinem eindringlichen Roman "Der große Wunsch" beschreibt. Murad ist auf der Suche nach einem Lebenszeichen seiner Tochter, einer Tochter, die ihm nicht nur nach der Scheidung von seiner deutschen Ex-Frau fremd geworden ist. Denn die junge Frau, die nach westlichen Werten erzogen worden ist, die sich als Jugendliche nie für den Islam zu interessieren schien, hat einen französischen Glaubenskrieger geheiratet und ist mit ihm in das IS-Kalifat gezogen.

Murad bezahlt Vermittler, die seine Tochter ausfindig machen und ihn letztlich zu ihr bringen sollen. Er will sie heimholen. Doch will sie das? Und ist die tiefverschleierte Frau, deren Bilder man ihm zeigt, seine Tochter? Selbst das Audio-Tagebuch, das man ihm zuspielt, kann seine Zweifel nicht beenden. Ist das ihre Stimme? Ist sie überzeugt von ihrem neuen Leben, zweifelt sie? Hat sie sich mitschuldig gemacht, billigt sie die Versklavung der Jesiden, die grausamen Enthauptungen, mit deren Videos der IS um Nachwuchs wirbt und seine Glaubenskrieger rühmt?

Die Ausflüge in die Region, die er in den Wochen des Wartens unternimmt, verstärken nur Murads Gefühl der Fremdheit und Isolation. Er spricht die Sprache der Menschen in den Bergtälern, zu einigen baut er nachbarschaftliche Beziehungen auf, und doch fühlt er sich wie auf dem falschen Planeten.

Fatah schildert die inneren Nöte Murads, die spröde Schönheit der Landschaft, das ruhige isolierte Leben in den Dörfern, in denen manche Geheimnisse gehütet werden, in einer ruhigen und eindringlichen Erzählweise und lüftet manche offene Frage erst ganz zum Schluss. Trotz der dramatischen Situation, in der Murad sich sieht, vermeidet er plakative Darstellungen und überzeugt dadurch nur noch mehr. "Der große Wunsch" ist ein Buch, auf das man sich einlassen und für das man sich Zeit nehmen sollte.

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Veröffentlicht am 29.11.2023

Von wegen Sabbatical

Einer muss den Job ja machen
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Udo Lindenberg-Fans und Leute aus der Medienbranche haben bei "Einer muss den Job ja machen" von Lars Haider einen klaren Vorteil: Nicht nur der Titel ist einem Lindenberg-Song entliehen, auch der Protagonist, ...

Udo Lindenberg-Fans und Leute aus der Medienbranche haben bei "Einer muss den Job ja machen" von Lars Haider einen klaren Vorteil: Nicht nur der Titel ist einem Lindenberg-Song entliehen, auch der Protagonist, der Hamburger Lokaljournalist Lukas Hammerstein, ist mit dem Sänger befreundet. Um Deutschrock geht es allerdings weniger, viel mehr dreht sich dieser unterhaltsame Hamburg-Roman um die Nachwehen des G7-Gipfels, die Krise in der Medienbranche und den Tod zweier renommierter Journalisten.

Hammerstein sollte all das eigentlich kalt lassen, denn er hat ein dreimonatiges Sabbatical genommen, um sich seiner mittlerweile hochschwangeren Frau zu widmen, das Kinderzimmer herzurichten und sich um den neurotischen Dackel der Schwiegereltern kümmern. Doch wie kann ein Reporter wegschauen, wenn er eine große Geschichte wittert und irgendwie auch einer seiner besten Freunde in die mediale Schusslinie gerät? Bei diesem Freund handelt es sich denn auch noch um den regierenden Bürgermeister mit Träumen vom Kanzleramt.

Auch sonst enthält der launig geschriebene Roman so manche Anspielung an das Mediengeschehen der letzten Jahre: sei es die Erwähnung des großen jungen Talents, das Journalistenpreise abräumt für Reportagen, die fast zu schön sind, um wahr zu sein. Oder ein Chefredakteur, der sehr intimen Zugang zu jungen Mitarbeiterinnen pflegt. Auch dass ältere Kolleginnen und Kollegen mit gut dotierten Verträgen von sparwütigen Verlagschefs regelrecht in den Vorruhestand gemobbt werden - alles klingt recht vertraut.

Hammerstein ist bei seinen als ausgiebiges Gassi-Gehen getarnten Recherchen nicht allein - seine Kollegin, die Polizeireporterin Kaja, arbeitet mit ihm zusammen und versucht unverdrossen, Hammerstein vom Sinn gegenderter Sprache zu überzeugen. Ansonsten beschränkt sich ihr Kontakt zur Polizei nicht streng auf das Berufliche, was im Fall des Chefs der "SoKo Pressefreiheit" eine ideale Verbindung von Beruflichem und Privaten ist.

Die Action hält sich in diesem Hanseaten-Krimi zwischen Elbphilharmonie und Schanze in Grenzen, dafür gibt es Lokalkolorit und einen ironischen Blick auch die Mechanismen medialer Aufgeregtheiten.

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Veröffentlicht am 27.11.2023

Schuld und Sühne

Was wir nie verzeihen
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Der finnische Autor Arttu Tuominen, der eigentlich in seinem Brotberuf Ingenieur ist, war für mich eine echte Entdeckung. Seine Romane um eine Ermittlereinheit in der finnischen Stadt Poru knüpft an beste ...

Der finnische Autor Arttu Tuominen, der eigentlich in seinem Brotberuf Ingenieur ist, war für mich eine echte Entdeckung. Seine Romane um eine Ermittlereinheit in der finnischen Stadt Poru knüpft an beste skandinavische Krimi-Traditionen an, verbindet den kritischen Blick auf die Gesellschaft mit Spannung und komplexen Charakteren und sind zudem gut geschrieben. Der jüngste Band, "Was wir nie verzeihen", bildet hier keine Ausnahme.

Diesmal geht es nicht nur um die privaten Nöte der bereits bekannten Ermittler mit zahlreichen Ecken und Kanten, sondern auch um die Aufarbeitung eines schwierigen Kapitels finnischer Vergangenheit. Die Beamten von Poru ermitteln zu einem Überfall auf den greisen Bewohner eines Altenheims. Der Mann ist deutlich über 90 Jahre alt, ein netter alter Herr. Wenig später wird ein anderer Greis entführt und ermordet. Gibt es eine Verbindung?

Der Leser weiß hier bald mehr als die Ermittler, denn in einer anderen Erzähl- und Zeitebene geht es in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, um die finnischen Kämpfer, die nach dem Winterkrieg als Freiwillige der Waffen SS ins nationalsozialistische Deutschland ziehen. War der nette alte Finne, der in einem Pflegeheim überfallen wurde, Mitglied der SS? Und welche Geheimnisse hat er womöglich vor seiner Familie, ja vor allen, die ihn kannten, verborgen? Was hat er seinerzeit in der Sowjetunion an der Ostfront erlebt und wo ist er womöglich schuldig geworden?

Eigentlich ist schon sehr früh klar, nämlich als einer der Ermittler einen Autofahrer mit israelischen Papieren überprüft, dass hier alles nach einer Mossad-Aktion aussieht. Es geht um Rache an den Tätern, die zu Vollstreckern der Schoah wurden. Oder handelt es sich um eine Verwechslung, trifft es vielleicht einen, der zur falschen Zeit am falschen Ort war? Lange spielt "Was wir nicht verzeihen" mit Unwägsamkeiten und auch die Ermittler müssen sich fragen: Schützen sie womöglich einen Massenmörder, der grausamster Verbrechen schuldig ist? Wo liegt die Wahrheit und wer handelt im Namen der Gerechtigkeit? Gilt es, eine Legende zu zerstören, oder muss der Ruf eines anständigen Menschen gerettet werden? Auch die Ermittler geraten hier in ein moralisches Dilemma.

Tuominen hat einmal mehr Spannung mit einem komplexen Plot verbunden. Seine Protagonisten sind nicht perfekt, sie haben eine ganze Reihe von Schwächen und Problemen - aber gerade das macht sie menschlich und überzeugend. Hinzu kommen Fragestellungen nach Moral und Verantwortung, Schuld und Sühne. Tuominens Bücher sind spannend, gar keine Frage. Und darüber hinaus bieten sie eine Menge Stoff zum Nachdenke

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Veröffentlicht am 26.11.2023

Aussteigerträume und Paranoia

No Escape
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Nachdem ich schon mehrere Psychothriller von Lucy Clarke gelesen habe, war ich gespannt auf "No Escape" um die beiden britischen Freundinnen Lana und Kitty, die auf einer Segelyacht unter Aussteigern den ...

Nachdem ich schon mehrere Psychothriller von Lucy Clarke gelesen habe, war ich gespannt auf "No Escape" um die beiden britischen Freundinnen Lana und Kitty, die auf einer Segelyacht unter Aussteigern den Traum von Freiheit träumten. Auch wenn ich von der Lektüre nicht enttäuscht wurde, ist das nicht das beste Buch der Autorin. Ich-Erzählerin Lana, mittlerweile nach einem heftigen Streit von Bord gegangen und in Neuseeland, wirkt auf mich ziemlich selbstgerecht und unreflektiert. Das macht es schwer, mit ihr warm zu werden.

Das Buch beschwört schöne Bilder vom Skipper Leben hervor, von Schnorcheln auf Riffen in der Südsee und einsamen Trauminseln - sicher eine wunderbare Kulisse für eine Verfilmung. Was Spannung und Suspense angeht, fällt "No Escape" aber deutlich von Clarkes Büchern "Castaways" oder "One of the Girls" ab. Die Charaktere sind deutlich flacher, und auch wenn im Verlauf der Handlung so manches Geheimnis gelüftet wird, das die Aussteiger mit sich herumschleppen, wirkt es auf mich ein bißchen so, als sei Clarke angesichts der vorangegangenen Erfolge ein wenig in Zugzwang gewesen, jetzt schnell einen mit heißer Nadel gestrickten neuen Roman liefern zu müssen.

Dennoch, es gibt gut geschriebene Szenen über Stürme auf See, über die wachsende Paranoia der Crewmitglieder, nachdem ein blinder Passagier über Bord gegangen ist, die Spannungen, die sich innerhalb der kleinen Gruppe aufbauen. Das Verhältnis zwischen Lana und Kitty ist komplex, wobei Lanas Stimmungsumschwung, nachdem die Yacht nach einem Sturm in Seenot geraten ist und sie von ihrere neuen Heimat aus die Suche nach Überlebenden verfolgt, nicht ganz einleuchtend ist.

"No Escape" ist kein schlechtes Buch - aber Clarke hat gezeigt, dass sie es noch wesentlich besser kann. Insofern habe ich es mit gemischten Gefühlen am Ende zugeklappt.

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Veröffentlicht am 24.11.2023

Düstere Zukunftsvision aus der Heißzeit

Ein heißes Jahr
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Kann ein Buch, dass nur gut sechs Jahre in der Zukunft spielt, ein Science Fiction Roman oder eine Dystopie sein? Das habe ich mich gelegentlich beim Lesen von Philippe Djians Buch "Ein heißes Jahr" gefragt. ...

Kann ein Buch, dass nur gut sechs Jahre in der Zukunft spielt, ein Science Fiction Roman oder eine Dystopie sein? Das habe ich mich gelegentlich beim Lesen von Philippe Djians Buch "Ein heißes Jahr" gefragt. Djian spitzt zu, was schon heute absehbar ist, auch wenn die wissenschaftlichen Prognosen für das Jahr 2030 denn doch noch nicht jene Klimabedingungen sehen, die das Leben seinen Protagonisten Greg prägen: Die schon erwähnte Hitze, eine grausame Sonne, aber auch Starkregen und Stürme, kurz, es ist anstrengend und eher ungesund, auf dem aufgeheizten Planeten zu leben.

Greg ist ein Mann Mitte 30, der nach einer privaten Tragödie bei seiner Schwester und deren Familie lebt. Sein Schwager, der zweite Ehemann der Schwester, ist zugleich Freund und Geschäftspartner in einem pharmakologischen Labor, das wegen eines gesundheitsschädlichen Produkts eigentlich Ärger bekommen müsste. Die jüngere Nichte ist in der Klimabewegung aktiv, freundet sich mit einer engagierten Verlegerin an und wird mit ihrem Protest zunehmend radikaler.

Greg will anfangs nur im Familieninteresse Schadensbegrenzung versuchen, doch die Lektüre eines Buches über eine gewisse bezopfte Umweltaktivistin, die im Alter von 15 Jahren weltbekannt wurde, bleibt nicht ohne Einfluss auf ihn. Hinzu kommt das erotische Interesse an der Verlegerin.

Der Titel "ein heißes Jahr" ist doppeldeutig, denn es geht nicht nur um den bereits stattgefundenen Klimawandel, sondern auch um das verschärfte gesellschaftliche und politische Klima. Auch hier spitzt Djian vieles zu, was heute schon absehbar scheint, keinesfalls aber als Negativutopie. Es ist eine unbequeme, unangenehme, überhitzte Zukunftsvision voller Kontroversen und dem Wunsch nach Flucht - doch wohin fliehen, wenn die Erde zunehmend zum lebensfeindlichen Ort wird? Es gibt viele Zwischentöne, Greg selbst ist eine Figur voller Widersprüche, einerseits ein Opportunist, der von Verschweigen, Verleugnen und Lügen profitiert, andererseits einer, der den Widerstand versucht. Dass er dennoch - nicht zuletzt dank seiner Privilegien - noch einen Verbrenner-Porsche fährt, sieht er dabei nicht als Widerspruch.

Sprachlich hat mir das Buch sehr gut gefallen, Djian findet Worte, die Apokalypse und Poesie verbinden. Das kann verstörend sein, ist aber auf jeden Fall beeindruckend.

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