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Veröffentlicht am 14.10.2022

Dystopie mit Realitätsnähe

Unsre verschwundenen Herzen
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Mit "unsre verschwundenen Herzen" hat Celeste Ng eine zugleich verstörende als auch ermutigende und hoffnungsvolle Dystopie geschaffen, die ich, nachdem ich das Buch angefangen hatte zu lesen, kaum aus ...

Mit "unsre verschwundenen Herzen" hat Celeste Ng eine zugleich verstörende als auch ermutigende und hoffnungsvolle Dystopie geschaffen, die ich, nachdem ich das Buch angefangen hatte zu lesen, kaum aus der Hand nehmen konnte. Verstörend, weil die Zukunftsversion eines von antiastiatischem Rassismus geprägten amerikanischen Überwachungsstaats, der missliebigen Eltern ihre Kinder entzieht und zu Gesinnungsschnüffelei und Denunziation ermutigt, so realistische Parallelen in der nicht so weit zurückliegenden Geschichte hat.

Seien es die Kinder von Migranten an der Südgrenze der USA die während der Präsidentschaft Trumps von ihren Eltern getrennt wurden, die indigenen Kinder in Nordamerika oder in Australien, die in Heimen und Internaten zwangsassimiliert und häufig gebrochen wurden, sei es das Schicksal der Kinder von Regimegegnern in der DDR, die zwangsadoptiert wurden oder in der stalinistischen Sowjetunion. Und auch die Schubladisierung von Menschen, hysterischer Patriotismus, der vor allem von der Schaffung von Feindbildern lebt - das klingt alles nur zu vertraut und ist noch gar nicht lange her.

"Sie war lang, die Geschichte von Kindern, die man ihren Lieben entrissen hatte - die Vorwände unterschieden sich, aber die Gründe waren dieselben. Ein wertvolles Pfand, ein Damoklesschwert über den Köpfen der Eltern. Es war das Gegenteil dessen, was ein Anker ist: der Versuch, etwas Andersartiges, etwas Gehasstes und Gefürchtetes zu entwurzeln.Eine Fremdheit, die als invasives Kraut galt, etwas, das vernichtet werden musste."

Im Fall des zwölfjährigen Bird, Sohn eines weißen Vaters und einnn er chinesischstämmigen Mutter, war es allerdings etwas anders: Die Mutter, eine Dichterin, hat die Familie verlassen. Seitdem wird sie regelrecht totgeschwiegen, die offizielle Lesart des Vaters ist: Wir wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben. Dass sein Vater, vom Hochschullehrer zum Büchereigehilfen degradiert und in prekären Verhältnissen in einem Studentenwohnheim lebend, seinen Sohn damit vor allem schützen will, wird Bird erst später erkennen.

Vorerst ist er wütend, ratlos, unsicher, warum die Mutter gegangen ist, bis seine Schulfreundin Sadie ihm erzählt, die Mutter sei im Widerstand gegen die Regierung aktiv. Als ein Brief in ihrer Handschrift auftaucht, macht sich Bird auf die Suche - und stößt ebenso wie die Ausreißerin Sadie nach und nach auf ein Netzwerk, in dem Bücher eine wichtige Rolle spielen, um das Schicksal auseinandergerissener Familien aufzuklären.

"Das Gehirn einer Bibliothekarin war ein geräumiger Ort. Jede von ihnen hatte ihre eigenen Gründe, warum sie dieses Risiko auf sich nahm, und auch wenn die meisten diese Gründe nie mit anderen teilen und sie auch nie persönlich treffen würden, teilten sie alle dieslbe verzweifelte Hoffnung, einen Treffer zu landen und eine Notiz mit dem neuen Aufenthaltsort des Kindes zwischen den Seiten zurückschicken zu können. Eine Nachricht, die der Familie versicherte, dass ihr Kind noch existierte, wenn auch in weiter Ferne, und die dem tiefen Loch ihres Verlustes einen Boden gab."

Und hierin liegt denn auch das Hoffnungsvolle und Optimistische bei aller Düsternis des Romans. Es gibt sie eben doch, die Anständigen, dir Gerechten, die Hinsehenden, die sich mit den Umständen nicht abfinden wollen, die ihrer eigenen Angst trotzen und versuchen, etwas zu tun, auch wenn sie in ihrem Widerstand so klein, so einsam, so gefährdet sind. Kunst, Bücher, Bibliotheken werden Orte der Erinnerung, des Bewahrens von Werten, der Ausgangsort von Handlungen und Hoffnung.

Der Schreibstil von Ng erinnert an chinesische Tuschezeichnungen oder Kalligraphie - mit weniger Worten und Sätzen gelingt es ihr, die Stimmung und Atmosphäre zu skizzieren, den Gemütszustand von Bird, die Einsamkeit seines Vaters, die Aktionen des Widerstands. Manche Elemente sind geradezu märchenhaft, andere erinnern nur zu sehr an Realitäten. Seit "Vox" und "Paradies" habe ich keine ähnlich beeindruckende Dystopie gelesen.

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Veröffentlicht am 28.09.2022

TRauma und Familie

Die Stimme
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Eine Familie und die großen Tragödien, die auch den Alltag und das persönliche Leben beeinflussen, ererbtes und eigenes Trauma das sich durch die Familiengeschichte zieht - in ihrem Roman "Die Stimme" ...

Eine Familie und die großen Tragödien, die auch den Alltag und das persönliche Leben beeinflussen, ererbtes und eigenes Trauma das sich durch die Familiengeschichte zieht - in ihrem Roman "Die Stimme" verbindet die niederländische Autorin Jessica Durlacher die Geschichte einer Familie mit Reflektionen über Gewalt, Terror und das Leben in Angst.

Das beginnt schon am vermeintlich schönsten Tag der Ich-Erzählerin Zelda: Ihr Lebensgefährte Bor, mit dem sie bereits zwei Kinder hat, will sie endlich heiraten und hat bei einem New York-Besuch dafür den Besuch bei einem Rabbi organisiert. Beim Empfang auf der Dachterrasse in Manhattan ist ein Kind plötzlich abgelenkt - etwas steckt in einem Wolkenkratzer, könnte das ein Flugzeug sein? Statt Hochzeitsfeier beginnt die panische Flucht durch Staub ud Trümmerteile. Der 11. September ist der Tag, an dem selbst für die Kleinen ein Stück Kindheit endet.

Jahre später erlebt Zelda mit ihrer Tochter und der Familie des ältesten Sohnes aus ihrer ersten Beziehung in ihrer Wohnung in Tel Aviv die Vereidigung der neuen US-Präsidentin mit, als sie unter den Gästen ein Gesicht sieht, das zu ihrer Vergangenheit in den Niederlanden gehört - und während ihre Erinnerungen einsetzen, erfahren auch die Leser, worum es eigentlich geht in der Geschichte.

Denn nachdem das polnische Au-Pair-Mädchen in die Heimat zurückgekehrt ist, muss sich die Psychologin Zelda auf einmal wesentlich stärker als bisher mit ihrer Mutterrolle auseinandersetzen, Elterntaxi spielen, die Kinder betreuen und sie stellt fest: Bei aller Liebe zu ihren Kindern ist das nicht wirklich ihr Ding. Ehemann Bor ist als Anwalt mit politischen Ambitionen ständig bei der Arbeit und deshaln keine Hilfe. Zeit für eine neue Nanny.

Hier kommt Amal ins Spiel, eine junge, aus Somalia geflohene Frau, die stets lange, verhüllende Gewänder und ein Kopftuch trägt, aber auch ein beträchtliches Charisma hat. Mit dem zehnjährigen hochbegabten Sam teilt Amal Liebe zur Musik. Als Zelda Sam von der Musikschule abholen will, erlebt sie eine Spontanaufführung der beidenund bemerkt Amals Talent und Ausstrahlung. Die Familie meldet Amal beim TV-Wettbewerb "Die Stimme" an und dabei überzeugt Amal nicht nur mit ihrem Auftritt, sondern entscheidet sich zu einer dramatischen Geste, als sie sich das Kopftuch abreißt und ihre Stimme gegen die Unterdrückung von Frauen in ihrer Heimat erhebt.

Danach ist nichts mehr wie vorher: Es gibt Todesdrohungen gegen Amal, sie muss sich verstecken. Trotz aller Angst um ihre Kinder bieten Zelda und Amal ihr an, in ihrem Gartenhäuschen unterzukommen. Hatten sie anfangs noch gezaudert, ausgerechnet ein muslimisches Kindermädchen anzustellen, ist es für das Paar, beide Kinder von Holocaustüberlebenden, quasi eine Chance, die eigene Familiengeschichte zu durchbrechen: Nun sind sie es, die Schutz anbieten können und nicht auf Schutz angewiesen sind. Nach einer Kindheit, die sie damit verbrachte, ihren Vater nie zu enttäuschen und eine perfekte Tochter zu sein, weil er so viele seiner Angehörigen verloren hatte, in der sie nicht wagte, Fragen zu stellen, kann sie nun der schutzbedürftigen Amal Fragen stellen. Doch was bedeutet das Engagement für die Sicherheit ihrer Kinder, das Leben der Familie?

Durlacher zeichnet Zeldas Dilemma wie mit feinen Strichen, führt ihre Leser durch Zeitsprünge und Überlegungen, vermeidet dabei Schwarz-Weiß-Bilder oder Glorifizierungen. Zugleich liegt beim Lesen immer auch die Ahnung einer Tragödie zwischen den Seiten. Wie die Autorin ohne Brachialbeschreibungen Spannung schürt, neugierig macht und Zeldas Zweifel und Hoffnungen schildert, das macht "Die Stimme" zu einem wunderbaren Leseerlebnis.

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Veröffentlicht am 01.09.2022

Roadtrip der Hoffnungen

Lincoln Highway
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Es gibt Bücher, die möchte man eigentlich gar nicht zu Ende lesen, weil sie einfach so gut sind und der Blick auf den immer dünner werdenden Teil bis zur letzten Seite den Abschnitt vom Buch bedeutet. ...

Es gibt Bücher, die möchte man eigentlich gar nicht zu Ende lesen, weil sie einfach so gut sind und der Blick auf den immer dünner werdenden Teil bis zur letzten Seite den Abschnitt vom Buch bedeutet. "Lincoln Highway" von Amor Towles war für mich so ein Buch. Ein Leseerlebnis wie ein Road Trip durch die amerikanische Weite, wenn auch ein wenig anders als ursprüngich erwartet. Zugleich ist es eine Coming of Age-Geschichte und das sensibel gezeichnete Porträt von vier Jungen bzw jungen Männern, die bei all ihren Unterschieden eines eint: Sie sind Söhne ohne Väter, versuchen auf unterschiedliche Weise mit dieser Leerstelle in ihrem Leben umzugehen, während sie ihre Träume verfolgen.

Das Buch startet im Mittleren Westen in Nebraska, als der 18-jährige Emmett nach Verbüßung seiner Zeit in einer Jugendstrafanstalt wegen Totschlags zurück auf die Farm der Familie zurückkehrt. Ein unglücklicher Sturz bei einer Schlägerei hat einen Kontrahenten das Leben gekostet - für Emmett ein Anlass, sich mit seinem Jähzorn auseinanderzusetzen. Wer ihn nun erlebt, traut ihm die Gewalt gar nicht zu, so besonnen, überlegt, reif weit über sein Alter hinaus wirkt er. Denn auch viel Verantwortung lastet auf dem jungen Mann: Für seinen achtjährigen kleinen Bruder Billy,einen aufgeweckten, lebhaften und sehr intelligenten Jungen, muss er nun Vater und Mutter sein. Die Mutter hat die Familie verlassen, als Billy ein Baby war, der Vater ist nach langer Krankheit gestorben und die Farm, so erfahrt Emmett gleich bei seiner Ankunft, gehört der Bank. Alles was den Brüdern geblieben ist, ist Emmetts Studebaker.

Doch bei Emmett läuft nichts ohne Plan: Er will nach Texas, ein baufälliges Haus kaufen, renovieren, wieder verkaufern und in zwei weitere Häuser investieren - und immer so weiter, bis er irgendwann andere für sich arbeiten lassen kann. Doch er hat die Rechnung ohne Billy gemacht, der ihm erklärt, sie müssten nach Kalifornien. Denn in den Unterlagen des Vaters hat der Kleine Postkarten der Mutter getroffen, die offenbar den Lincoln Highway entlang nach Kalifornien gezogen ist - die letzte Postkarte kam aus San Francisco.

Und noch andere Störmanöver gibt es mit dem Auftauchen von Duchess und Woolie, zwei Freunden Emmetts aus der Strafanstalt. Duchess, streetwise und mit allen Wassern gewaschen, Sohn eines fahrenden Schauspielers und Kleinkriminellen, und der ein bißchen langsame Woolie, der aus bester Ostküstenfamilie stammt, gewissermaßen Ostküstenadel, aber psychisch krank ist. Während Duchess als Kind von seinem Vater im Waisenhaus abgegeben wurde, weil er einer Romanze im Weg war, hat Woolie nie den Tod seines Vaters als Offizier im Zweiten Weltkrieg verwunden.

Die Handlung von "Lincoln Highway" spielt in den frühen 60-er Jahrem, es ist ein langsameres, leiseres, monochromeres Amerika, die Trennung der Menschen in Schwarz und Weiß wird noch akzeptiert, das Frauenbild ist sehr traditionell, aber eigentlich wabert dieses gesellschaftliche Umfeld am Rand des Blickfelds, denn Duchess und Woolie torpedieren die Reise in den Westen, weil sie Woolies Erbe aus dem Safe seines Urgroßvaters aus dem Ferienanwesen in Neu England holen wollen. Zu welchen Komplikationen das führt, soll hier gar nicht erörtert werden.

Towles lässt seine Leser den Abenteuern der vier Jungen folgen, immer wieder werden dabei die Perspektiven gewechselt, Wege trennen sich und führen wieder zusammen. Und wenn Emmett und Billy wie die Hobos in Güterzügen unterwegs sind, treffen sie auf Menschen wie Ulysses, in dem Billy mit seiner Begeisterung für Helden und Entdecker einen wiedergeborenen Odysseus zu erkennen bleibt. Lincoln Highway hat seine großen und kleinen Tragödien, steckt voller Träume und Hoffnungen. Die ruhige, bildhafte Erzählweise trägt zum Lesegenuss bei und viel zu schnell endet die Lesereise auch trotz der 575 Buchseiten. Mit Emmett, Billy und ihren Freunden unterwegs zu sein, macht Spaß und nachdenklich gleichermaßen.

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Veröffentlicht am 23.07.2022

Eine Leidenschaft für Bücher

Papyrus
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Es hat lange gedauert, bis ich mit Irene Vallejos Buch "Papyros" fertig war - nicht weil es mir nicht gefallen hätte - ganz im Gegenteil! - sondern weil hier so viel drinsteckt, dass es am besten in kleinen ...

Es hat lange gedauert, bis ich mit Irene Vallejos Buch "Papyros" fertig war - nicht weil es mir nicht gefallen hätte - ganz im Gegenteil! - sondern weil hier so viel drinsteckt, dass es am besten in kleinen Portionen genossen wird, ähnlich wie Schokolade mit ultrahohem Kakaoanteil. Da ist weniger mehr für den Genuss. Ein Buch über die Geschichte von Büchern und die Geschichte des Lesens und der Schriftstellerei - das war sofort etwas, was mein Interesse erregte. Und obwohl sich Vallejo auf die Welt der Antike konzentrierte, von Alexander dem Großen bis ins alte Rom, so ist "Papyrus" doch gleichzeit ein Galopp durch die Jahrtausende, mit aktuellen Bezügen, mit Streifzügen und Überlegungen.

Für manche mag das ein wenig konfus sein - sind die persönlichen Erinnerungen und Gedankensprünge der Autorin, die sich vom ursprümglichen Thema fortbewegen, wirklich wichtig? Ich denke schon, denn auf diese Weise habe ich das Gefühl, auch Vallejo besser zu kennen, so wie eine neue Bekanntschaft oder vielleicht auch Freundin. Ja, sie schreibt viel über ihre eigenen Erfahrungen, aber sie macht das auf eine reflektierte Art und Weise, nicht so wie manche Autoren, die vor allem Seelenstriptease betreiben und selbstbezogene Nabelschau halten.

"Papyrus" zu lesen, hat mich an die richtig guten Gespräche erinnert, für die man leider viel zu oft nicht die passenden Gesprächspartner hat - es fängt an einem Punkt an ünd springt munter in immer neuen Ideen und Gedanken - was mit antiken Feldzügen beginnt, führt über die Geschichte der Lyrik zu Philosophie, Feminismus oder Gedanken über verschiedene Gesellschaftsordnungen. Es gibt viel zu entdecken in diesem Buch, daher sollte man sich auch die Zeit dafür nehmen und häufig habe ich das Buch auch erst mal beiseite gelegt, um zu einem Thema etwas nachzulesen und zu recherchieren, um mich mit Vallejos Gedankengängen zu beschäftigen.

Stellenweise hatte ich das Gefühl, hier redet beziehungsweise schreibt jemand über Situationen, die ich selber kenne, hat jemand Bücher ähnlich als verändernd, bereichernd und voll Leidenschaft fürs Lesen kennengelernt. Ich kann sie so gut vor mir sehen, die gemobbte junge Irene, die sich dank der Schulbibliothek aus dem unschönen Alltag fortträumen konnte auf Robnisons Insel, mit Hannibal die Alpen überquerte, in Büchern Freunde, Trost, Lehrer fand.

In "Papyrus" gibt sie diese Erfahrungen weiter, gespickt mit historischen Anekdoten, Einblicken in die Welt der Griechen und Römer, aufräumend mit manchem Mythos über die Welt der Klassik. Apropos Klassiker - wenn sie die Werke klassicher Literatur vom staubigen Sockel holt und statt dessen mit alternden Rockstars vergleicht, die immer noch die Stadien füllen, kommt Lust auf, es doch mal wieder mit den alten Größen zu versuchen.

Papyrus ist klug, ein Sachbuch, das nicht langweilt, sondern viele Anregungen gibt, Wissen auf durchaus unterhaltsame Art teilt und Neugier weckt, den Gedankengängen der Autorin zu folgen. Dass der Literaturanhang am Ende ausgesprochen umfangreich geraten ist, ist nicht verwunderlich. Dieses Buch hat seine Vorschusslorbeeren zu Recht erhalten.

Veröffentlicht am 20.04.2022

Follow the money

Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste
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"Follow the money", lautete bereits der Rat des Informanten "Deep Throat" bei der Aufklärung der Watergate-Affäre. In ihrem Buch "Putins Netz" befolgte Catherine Belton diese Maxime. Als ehemalige Moskau-Korrespondentin ...

"Follow the money", lautete bereits der Rat des Informanten "Deep Throat" bei der Aufklärung der Watergate-Affäre. In ihrem Buch "Putins Netz" befolgte Catherine Belton diese Maxime. Als ehemalige Moskau-Korrespondentin der Financial Times dürfte sich Belton regelmäßig mit Wirtschafts- und Finanzpolitik, mit der Rolle der Oligarchen und ihrem Einfluss auch in der Londoner City befasst haben. Ihr umfangreiches und ausführlich recherchiertes Buch geht weit darüber hinaus.

Es schadet nichts, wenn man sich vor der Lektüre schon ein bißchen mit russischer Zeitgeschichte, der Politik der Perestroika, dem Zerfall der Sowjetunion und dem Aufstieg Putins befasst hat. Andernfalls könnten sich völlige Russland-Neulinge leicht ein wenig überfordert fühlen. Doch sowohl das vorangestellte Personenregister als auch der Anhang von Fußnoten helfen, eventuell Unbekanntes nachzuchecken.

"Putins Netz" ist eine faszinierende, ausgesprochen ausführliche Untersuchung der Verbindungen zwischen KGB, Organisierter Kriminalität und Schattenwirtschaft in der letzten Phase der Sowjetunion und im heutigen Russland, von Kontakten, die vor 30 Jahren geknüpft wurden und seitdem einige Menschen in fantastischen Reichtum katapultieren, andere ins Exil oder Schlimmeres. Belton untersucht die Vorgeschichte und Verbindungen Putins seit seinen KGB-Zeiten in Dresden, sein Weltbild und Selbstverständnis, Denkweisen von Geheimdienstlern und Milliardären.

Es liegt in der Natur der Sache, dass nicht alles, worüber Belton schreibt, mit Fakten oder eindeutigen Quellen belegt wird. Zu viele ungeklärte Unfälle, plötzliche Todesfälle und Vergiftungen dürften die Gesprächigkeit von Informanten getrübt haben. In anderen Fällen haben genannte Quellen natürlich eine eigene Agenda und müssen von daher auch hinterfragt werden. Als seriöse Journalistin macht Belton aber stets deutlich, wo das Nachweisbare endet und die Spekulation über Möglichkeiten, das Reich der Gerüchte und Flüstereien auf den Korridoren der Macht beginnt.

Nichtsdestotrotz ist dieses Buch höchst spannend, nicht zuletzt beim Verständnis des Kriegs in der Ukraine und der Diskussion um die Wirksamkeit von Sanktionen, der besonderen Bedeutung von Gazprom und der Energiewirtschaft als Hebelinstrument russisher Machtpolitik. Es offenbart einen Einblick in Komplexe und imperiale Träume in den Reihen des KGB und dürfte auch, zumnindest teilweise, bei der Interpretation der Persönlichkeit und Denkweise Putins helfen. Manche Fragen bleiben offen und dürften von der Geschichte beantwortet werden. Ist Putins Aufstieg seinem eigenen Ehrgeiz zu verdanken gewesen oder Teil einer Strategie? Welche Endszenarien sind denkbar? Wie weit reicht der Einfluss staatlicher Schwarzgelder bei der Korrumpierung und Unterwanderung westlicher Gesellschaften und Einflussnahme etwa auf populistische Bewegungen in ihren?

Als britische Autorin konzentriert sich Belton vor allem auf Beziehungen zwischen Ruzssland und Großbritannien und den USA, einschließlich der Verbindungen Trumps. Doch der zeitgeschichtlich interessierte deutsche Leser dürfte schnell auf Parallelen stoßen, seien es die Aktivitäten von "Russia Today" oder die russland/Putin-freundlichen Aussagen der AfD. Nicht zuletzt hilft das Buch beim Verständnis der Rolle, die die Ukraine im Denken der Kreml-Lenker spielt.

"Putins Netz" ist ein Buch, das mit akribischer Recherche, Detailreichtum und ausführlichen Erläuterungen überzeugt. Nicht nur für Kremlinologen ein Muss!