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Veröffentlicht am 13.05.2021

Brandenburger Idylle

Über Menschen
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"Glaubst du, dass man sich ändern kann?", fragt Dora.
"Man kann sterben", erwidert Gote.
"Das meine ich nicht."
"Ist aber ne ziemliche Veränderung." (S. 372)

Dora hat genug; genug von Berlin, von der ...

"Glaubst du, dass man sich ändern kann?", fragt Dora.
"Man kann sterben", erwidert Gote.
"Das meine ich nicht."
"Ist aber ne ziemliche Veränderung." (S. 372)

Dora hat genug; genug von Berlin, von der Enge und der Hektik, genug von ihrem Freund Robert, der sich immer mehr verändert. Da kommt es gerade recht, dass sie im vergangenen Jahr, bevor die Pandemie ausbrach und das Leben noch so war, wie man es gewohnt war, ein altes Gutshaus in Bracken, einem kleinen Dorf irgendwo in Brandenburg, gekauft hat. Kurzerhand packt sie ihr Hab und Gut und ihren Hund und zieht aufs Land. Doch ganz so idyllisch, wie sie sich das vorgestellt hatte, ist es hier wahrlich nicht und der Neuanfang gestaltet sich sehr holprig. Ihr Grundstück gleicht einer Wildnis, der nächste Supermarkt befindet sich eine Stunde entfernt und ihr Nachbar, dessen Grundstück hinter einer hohen Mauer verborgen liegt, ist der „Dorf-Nazi“. Langsam muss sie sich über ihr neues Leben in Bracken, ihren Gedanken und Vorurteilen gegenüber dem Land und seinen Leuten klar werden, ihr Leben neu ordnen und erfahren, nicht allen vorgefertigten Meinungen Glauben zu schenken. Und lernt, hinter die Fassade von Menschen zu blicken, einen zweiten Blick und eine zweite Meinung zu wagen.

In ihrem neuen Roman „Über Menschen“ zeichnet Juli Zeh ein eindrückliches Bild unserer gegenwärtigen Gesellschaft, die mit sich selbst hadert, mit ihren Schwächen und Ängsten, vor allem aber aktivistischer denn je motiviert ist. Doch sie beleuchtet auch die Stärken, Menschlichkeit und Verletzlichkeit zuzulassen, sich Fehler einzugestehen und sich Hilfe zu suchen, wenn man alleine nicht mehr weiterkommt.

Die Protagonistin Dora macht dem Klischee einer Städterin alle Ehre; völlig überfordert und unvorbereitet flüchtete sie kurz vor Beginn des ersten Lockdowns zu Beginn des Jahres mit ihrem wenigen Hab und Gut und notdürftigen Einkäufen mitten ins Nirgendwo, nämlich nach Bracken. Hier sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht, und – wenn man den Hetzen ihres Vaters Jo, einem angesehenen Neurochirurgen, Glauben schenken mag – auch der nächste Nazi lässt nicht lange auf sich warten, wohnt er tatsächlich im Nachbarhaus.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Unfassbar gut!

Gestapelte Frauen
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„Vergessen heißt verlieren. Verlieren heißt töten. Finden heißt leben.“ (S. 73)

Alle sieben Stunden wird in Brasilien eine Frau wegen ihres Geschlechts Opfer eines sexuellen oder gewalttätigen Übergriffs ...

„Vergessen heißt verlieren. Verlieren heißt töten. Finden heißt leben.“ (S. 73)

Alle sieben Stunden wird in Brasilien eine Frau wegen ihres Geschlechts Opfer eines sexuellen oder gewalttätigen Übergriffs mit Todesfolge – begonnen von ihrem Mann, Exfreund oder einem anderen männlichen, nahen Verwandten. Im Jahr 2006 wurde das „Maria-da-Penha“-Gesetz in Brasilien verabschiedet, das Gewalt gegen Frauen härter bestrafen soll, doch eine nachweisliche Besserung ist nicht zu verzeichnen. Das macht Patricia Melo in ihrem Roman „Gestapelte Frauen“ mehr als deutlich.

Wie auf Wolken fühlt sich die junge Anwältin, als sie Amir kennenlernt. Er ist intelligent und humorvoll, und berauscht tanzen sie gemeinsam durch die Nächste São Paulos. Schnell entwickelt sie intensive Gefühle für ihn, doch als er sie auf einer Party ohrfeigt und beleidigt, verbricht etwas in ihr. Um so viel Abstand von ihm zu haben wie möglich, ist sie dankbar für die Möglichkeit, als Prozessbeobachterin in das Dorf Cruzeiro do Sul fahren zu dürfen. Dort soll sie den Gerichtsverhandlungen beiwohnen, die Morde an jungen Frauen und Müttern abhandeln und ein Schema aus den Motiven und Todesursachen entwickeln. Je mehr Verhandlungen sie besucht, je intensiver und abstruser die Urteile werden – je höher sich die Körper toter Frauen stapeln – umso lebendiger werden die Bilder der Opfer in ihrem Kopf und damit die Erinnerungen an ihre Mutter, die dasselbe Schicksal erlitt. Sie flüchtet sich aus Angst davor, von ihnen erdrückt zu werden, immer öfter in eine Traumwelt, um an Ritualen der indigenen Völker teilzunehmen und Rachepläne zu entwickeln. Doch die Grenze zwischen Realität und Vorstellung scheint unüberwindbar.

Schockierend und bildreich erzählt Patricia Melo in „Gestapelte Frauen“ von der grausamen Realität, die in Lateinamerika Normalität zu sein scheint: Gewalt gegen Frauen. Sie findet eindrückliche, klare Worte für die Abstrusität, mit der die Gerichte gegenüber den Tätern urteilen, für die Gräuel, die den Frauen angetan wurden, für die perverse Einstellung der Gesellschaft.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Einfach nur WOW

Alef
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„Es liegt in der Natur des Verliebtseins, dass man am Anfang alles für überwindbar hält. Man lebt wie in einem Kokon, einer Blase, die das, was man gemeinsam hat, vor der Außenwelt schützt. Man sieht nur ...

„Es liegt in der Natur des Verliebtseins, dass man am Anfang alles für überwindbar hält. Man lebt wie in einem Kokon, einer Blase, die das, was man gemeinsam hat, vor der Außenwelt schützt. Man sieht nur einander, jede Trennung fühlt sich an, als würde man sich selbst in zwei Stücke zerreißen.“ (S. 301)

Als sie sich zum ersten Mal sahen, wusste sie beide, dass es Liebe ist. Dass sie zusammengehören und ihr Leben miteinander verbringen würden; Maja und Eitan, eine atheistische Deutsche und ein jüdischer Israeli. Für Eitans Mutter bricht eine Welt zusammen, als ihr Sohn, ihr Leben, Israel hinter sich lässt, um zu seiner Freundin nach Deutschland zu gehen, dem Land, das ihr und ihrer Familie so viel Leid zugefügt hat. Doch die anfängliche Euphorie schwindet bald, und Eitan sieht sich immer öfters Antisemitismus ausgesetzt, findet keinen Anschluss, verliert sich selbst. Maja schmerzt es, ihn so leiden zu sehen, führt sie doch selbst innere Kämpfe aus: Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen bat Eitan sie inständig, für ihn Jüdin zu werden, aber sie tut sich schwer damit, sich nur der Liebe wegen zu entscheiden, welches Leben sie führen möchte. Sie sieht sich gezwungen, zwischen Liebe und Zugehörigkeit, zwischen Deutschland und Israel zu entscheiden.

Katharina Höftmann Ciobotaru hat mit Alef – „der Beginn von allem und die Unendlichkeit“ (S. 397) – Großartiges geschaffen: Leise, bedacht wirft sie zunächst einen Blick in die Vergangenheit, die familiären Ursprünge Majas und Eitans und verwebt einschneidende, die beiden Länder und Kulturen prägende historische Ereignisse wie das Leben im Nationalsozialismus und die Grenzöffnung in der DDR auf der einen Seite und den Golfkrieg auf der anderen Seite mit den teils tragischen familiären Hintergründen. Der Ton wird eindringender, kraftvoller und schmerzhafter, und so lasten nun all der Schmerz und die Schuld, die Frage nach Opfer und Täter auf den jungen Schultern von Eitan und Maja. Bis zuletzt bemüht sich Maja, Eitan gerecht zu werden, die Giur, den Übergang ins Judentum, ihm zuliebe nach mehrmaligen Anläufen endlich durchzuziehen, so schwer der Weg, so groß ihre Zweifel auch sind.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Welcome to Berlin

Mond über Beton
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"Ach, da kann einem ja nur das Herz aufgehen, der Kotti tritt die Tür zu seinem Herzen immer einfach ein, und innen drin wird's ganz warm und mit Wind, bald ist Sommer, im Torbogen vom NKZ steht noch eine ...

"Ach, da kann einem ja nur das Herz aufgehen, der Kotti tritt die Tür zu seinem Herzen immer einfach ein, und innen drin wird's ganz warm und mit Wind, bald ist Sommer, im Torbogen vom NKZ steht noch eine Flasche Wodka mit Schluckresten.“ (S. 95)

Hier spielt das wahre, das düstere Leben; sozialer Brennpunkt, eiskalter Beton, Drogenhochburg ist „diese[s] herrlich schwarze Loch von Berlin“ (S. 57): das Kottbusser Tor. Als städtebauliches Projekt Anfang der Siebziger aus dem Boden gezogen, ist der Kotti auch weit über die Grenzen Berlins hinaus bekannt. In Gebäudekomplex Neues Zentrum Kreuzberg, kurz NKZ, wohnen die unterschiedlichsten Menschen, die alle ihre Geschichte zu erzählen, ihr Päckchen zu tragen haben: Mutlu mit seinen Söhnen Barış und Barik; Mutlus Nichte Aylin; das alte Pärchen Marianne und Günther; und nicht zuletzt die Witwe Stanca mit ihrem Hund. Sie machen das NKZ zu dem, was es ist, und das NKZ beeinflusst ihr Leben und ihre Schicksale gleichermaßen.

Seit dem Tod seiner Frau Hilal ist Mutlu nicht mehr der, der er einmal war, lediglich ein Schatten ist übrig geblieben von ihm, und so bemerkt er nicht, wie seine Söhne allmählich ins Drogenmilieu abrutschen, immer auf der Suche nach dem Durchbruch, dem ultimativen YouTube-Fame. Aylin hingegen ist es leid, für ihre Neffen zu sorgen, hat sie doch selbst genügend eigene Probleme: ihr Studium, ihre Arbeit im Gemüsemarkt von Mutlu und im REWE, und seit neustem auch den Junkie Ario, der ihr, seinem Engel, immer öfters nachstellt. Marianne und Günther haben genug davon, in welche Richtung sich der Kotti verändert, es ist einfach nicht mehr sicher hier! Überall liegen die Abfälle der Junkies, die eh an jeder Ecke herumlungern, und die Jungen von Mutlu sind auch nicht mehr so lieb, wie sie als Kleinkinder mal waren. Doch zumindest müssen sie sich nicht wie Stanca um die Miete sorgen: Seit dem Tod ihres Mannes hadert sie, im nach Deutschland gefolgt zu sein, und hat nun einen jungen Studenten zur Untermiete. Sie alle verbindet aber eine Gefahr, die im Verborgenen lauert und ihrer aller Leben ein neues Ende schreiben soll.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Modern Walking Dead

New York Ghost
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„Die Vergangenheit ist ein schwarzes Loch, das wie eine Wunde in die Gegenwart gebohrt wurde, und wenn man ihm zu nahe kommt, wird man hineingezogen. Man muss in Bewegung bleiben.“ (S. 149)

Wenn sie jemand ...

„Die Vergangenheit ist ein schwarzes Loch, das wie eine Wunde in die Gegenwart gebohrt wurde, und wenn man ihm zu nahe kommt, wird man hineingezogen. Man muss in Bewegung bleiben.“ (S. 149)

Wenn sie jemand fragte, was sie in ihrem Leben erreichen möchte – sie wüsste keine Antwort. Beständigkeit vielleicht, Sicherheit, Geborgenheit. Als Kind ist Candace Chen mit ihren Eltern aus China in die USA eingewandert, doch seit sie gestorben sind, hat sie ihrem alten Leben, der Sorglosigkeit, das in den Tag hineinleben und den krassen Partynächten, den Rücken gekehrt. Routiniert, wenn auch ziellos, geht sie gewissenhaft ihrer Arbeit in einem Verlagshaus nach, in dem sie Bibeln produziert, und verbringt die Nächte bei ihrem Freund Jonathan mit Take Away-Essen und Rom Coms. Als er ihr plötzlich eröffnet, New York verlassen zu wollen, stürzt sich Candace aus Frust vollends in die Arbeit, lebt in ihren Routinen, sodass sie gar nicht mehr mitbekommt, was sich draußen eigentlich abspielt: Das Shen-Fieber, ein durch Pilzsporen übertragenes Virus, das in China seinen Ursprung hat, bricht über New York herein. Die Endzeitstimmung ist perfekt: der öffentliche Verkehr steht still, die Menschen fliehen, und es herrscht strenge Maskenpflicht. Doch Candace hat keine Familie mehr in New York, keinen Ort, an den sie gehen könnte, und so bleibt sie in Aussicht einer Prämie im Büro, hält den Betrieb am Laufen. Bald schon ist sie die letzte Verbliebene und dokumentiert das, was von der Stadt, die niemals schläft, übrig geblieben ist auf ihrem Blog „NY Ghost“. Als sie einsehen muss, dass auch sie die Stadt verlassen muss, um zu überleben, schließt sie sich einer Gruppe Überlebender an. Unter der Führung des geltungssüchtigen Bob machen sie sich auf den Weg zu „Der Anlage“, einem Ort, der ihnen – wie Bob verspricht – alles bietet, das sie zum Überleben brauchen würden. So weit, so gut, aber Candace hat kein gutes Gefühl bei der Sache und schmiedet einen Plan.

Zuerst könnte man denken: Ja wow, sehr originell, unser Leben sieht doch gerade ganz ähnlich aus. Doch weit gefehlt: Bereits 2018 veröffentliche Ling Ma ihren Debütroman „Severance“, [...]

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