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Veröffentlicht am 27.06.2023

Eine Jesidin und ihr Schicksal

Unruhe
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Eine Jesidin und ihr Schicksal: das ist das Thema von Zülfü Livanelis Roman „Unruhe“ .

Erzählt wird die Geschichte der Jesidin Meleknaz aus Sicht des Journalisten Ibrahim. Und so wird aus der tragischen ...

Eine Jesidin und ihr Schicksal: das ist das Thema von Zülfü Livanelis Roman „Unruhe“ .

Erzählt wird die Geschichte der Jesidin Meleknaz aus Sicht des Journalisten Ibrahim. Und so wird aus der tragischen Lebensgeschichte der Jesidin eine Geschichte um Liebe, Mitleid, Gewalt und Hilflosigkeit. Denn der Journalist recherchiert nicht nur, er lässt sich immer mehr hineinnehmen in die Geschichte, die er da erfährt – eine innere Unruhe befällt ihn. Eine Unruhe, die er sich selbst nicht erklären kann.

Auslöser der Recherchen des Journalisten ist eine kurze Nachricht aus den USA: ein „hate crime“, ein Muslim wird erstochen Dass er aus der Stadt Mardin stammt, lässt den Journalisten Ibrahim aufhorchen: die Stadt an der syrischen Grenze ist seine Geburtsstadt. Bald schon ist klar: der Ermordete war ein Schulfreund von Ibrahim. Der reist nach Mardin und stößt auf eine Liebesgeschichte, die fast schon wie Romeo und Julia klingt. Der fromme Hüseyin trifft in einem Flüchtlingslager, wo er arbeitet, auf eine Jesidin – und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Die beiden wollen heiraten – gegen den Widerstand ihrer Familien und Religionen. Dass Hüseyin eine bestehende Verlobung dafür löst, macht die Sache nicht einfacher.

Doch an dieser Stelle beginnt erst der Alptraum für Meleknaz. An ihrem Beispiel erzählt Zülfü Livaneli das Schicksal der Jesiden in Syrien unter dem IS. Nach und nach trauen sich die Menschen, dem Journalisten Ibrahim zu erzählen, was geschehen ist. Und nach und nach findet Ibrahim so heraus, was Meleknaz erleiden musste und was aus ihr wurde. Je mehr er von ihr erfährt, umso mehr wächst in ihm der Wunsch, ihr und ihrem blinden Baby zu helfen. Sowohl dieser Wunsch in ihm wie auch die Ablehnung, die er erfährt, verstören den Journalisten immer mehr. Der Leser spürt förmlich, wie sehr ihn das beschäftigt, was er erfahren hat. Allerdings nimmt es auch sehr absurde Züge an, wenn er etwa beginnt, Liebesgedichte an Meleknaz zu schreiben wie es einst Hüseyin getan hat, um zu erreichen, dass sie seine Hilfe annimmt und ihren Stolz überwindet.

Ich muss zugeben, dass mich dieser Teil der Geschichte nicht ganz überzeugt hat, umso mehr aber die Geschichte der Jesiden, die in ihren Traditionen und in ihrem schweren Schicksal unter dem IS in Zülfü Livanelis Roman „Unruhe“ einem plastisch vor Augen treten.

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Veröffentlicht am 26.06.2023

Entfaltet sein dystopisches Potenzial

QualityLand
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In diesen Zeiten, wo die Diskussion über die KI und ihre Möglichkeiten am Beginn ist, ist es sicher kein Fehler, wieder einmal auf Marc-Uwe Klings Buch "QualityLand" zu greifen. "QualityLand" zeigt, was ...

In diesen Zeiten, wo die Diskussion über die KI und ihre Möglichkeiten am Beginn ist, ist es sicher kein Fehler, wieder einmal auf Marc-Uwe Klings Buch "QualityLand" zu greifen. "QualityLand" zeigt, was passieren kann, wenn gesetzliche Regeln zur KI und zur Verwendung von Algorithmen ausbleiben. 

"QualityLand" ist ein Roman, der etwas langsam in Schwung kommt, dann aber sein dystopisches Potenzial voll entfaltet. Der Schrecken einer KI-gesteuerten Zukunft ist dabei so gut wie durchweg im Alltäglichen angesiedelt. Menschen, die in sich selbst gefangen sind, von der die KI alles weiß, sind die Protagonisten.

Nein zu sagen ist in dieser Welt nicht mehr vorgesehen - bei relevanten Entscheidungen drückt man einfach nur auf okay. Die KI weiß schließlich, was man will. Auch, was man wählen will - allerdings hat man da noch die Möglichkeit, sich die anderen Kandidaten, die einem nicht empfohlen werden, anzeigen zu lassen. 

Dass es eine Kampftruppe gegen eine robotergesteuerte Zukunft im Untergrund gibt, erfährt der Leser. Durchgespielt wird der Kampf aber nur im kleinen Rahmen. Peter Arbeitsloser ist der Protagonist, der erkennen muss, dass der Protest gegen das Geschäftsgebaren von TheShop zwecklos ist - der Algorithmus macht keine Fehler, genauer: er darf keine Fehler machen. Und doch will Peter Arbeitsloser etwas an TheShop zurückschicken - was nicht vorgesehen ist, da die Firma weiß, was sich ihre Kunden wünschen. 

Gerade weil es vor allem um den kleinen Mann geht, entfaltet der Roman sein dystopisches Potenzial. Nur am Rande geht es um die Frage, was es heißt, dass Menschen mit Punkten in Gruppen eingeteilt werden, es genügt die Darstellung wie TheShop arbeitet, um eine Zukunft zu projizieren, die alles andere als wünschenswert ist - auch wenn die TheShop den Menschen die Wünsche von ihren Profilen ablesen kann. 

Was Peter Arbeitsloser erlebt, ist deutlich eindrucksvoller als etwa die diskutierte Frage, ob ein KI-Roboter Präsident werden darf. "QualityLand" zeigt eindrücklich, wie die KI die Frage nach der Würde des Menschen und nach einem gelingenden Leben stellt. 

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Veröffentlicht am 10.06.2023

Unerklärliche Logik des Lebens

Die unerklärliche Logik meines Lebens
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„Die unerklärliche Logik meines Lebens“ ist ein feinfühliges Jugendbuch, verfasst von Benjamin Alire Sáenz. Protagonist ist der 17-jährige Salvador, Sally genannt.

Sally schließt gerade die Schule ab ...

„Die unerklärliche Logik meines Lebens“ ist ein feinfühliges Jugendbuch, verfasst von Benjamin Alire Sáenz. Protagonist ist der 17-jährige Salvador, Sally genannt.

Sally schließt gerade die Schule ab und muss sich Gedanken über seine Zukunft machen. Aus seiner Perspektive erzählt „Die unerklärliche Logik meines Lebens“ von den Widerfahrnissen des Lebens. Und davon passieren in dem Jugendbuch so einige. Nicht nur, dass die Mutter seiner besten Freundin Sam stirbt, auch seine Großmutter, Mima, liegt im Sterben. Und Sally selbst spürt Veränderungen in sich – immer leichter ist er gereizt und prügelt sich auch mal mit Mitschülern.

Wie gut, dass Sally einen so verständigen Vater hat und dass er mit Sam über alles reden kann – wenn auch zumeist übers Handy. Sally, Sam und Fito, der später hinzustößt, als er zuhause rausfliegt, bilden in dem Buch eine Schicksalsgemeinschaft mit ähnlichen Erfahrungen im Leben. Gemeinsam können sie über alles reden. Wenn auch manchmal lieber per SMS.

Die vielen Dialoge – vor allem zwischen Sally und Sam – gehören zur Stärke des Buches. Eine Stärke des Buches ist ebenfalls die große Bandbreite an Themen, die angesprochen wird: der Tod von geliebten Menschen, die schwere Entscheidung, wie es nach dem Schulabschluss weitergehen soll, die Auseinandersetzung mit der Frage, was man über leibliche Eltern, die man nicht kennt, wissen will, Homosexualität, Selbstbewusstsein, Vorurteile, Freundschaft und noch viel mehr.

Benjamin Alire Sáenz hat allerdings auch ein sehr amerikanisches Buch geschrieben. Die große Bühne der Gefühle wird betreten, wo einem Lebensweisheiten nur so um die Ohren gehaut werden. „Wir müssen unsere Gefühle kontrollieren, damit uns ihre Grausamkeit nicht zu waidwunden Tieren macht“, heißt es etwa an einer Stelle des Buches. Pathos pur muss man bei diesem Buch an manchen Stellen vertragen, ebenso manch sehr wilde Metapher. Beispiel gefällig? „Das Problem mit Tränen ist, dass sie still wie eine Wolke sein können, die über den Wüstenhimmel zieht.“ Aha. Da freut man sich, wenn zwischendurch einfach mal nur Jugendsprache zu hören ist. „Schwere Scheiße, Mann.“ – das ist mir bei einem Jugendbuch deutlich lieber als mit altklugen Lebensweisheiten überzuckerte Melodramatik.

Nicht ganz nachvollziehen konnte ich, weshalb manche amerikanische Formulierung stehen blieb, weshalb die Großmutter also Mima genannt wird und der Großvater – ausgerechnet! – Popo. Das hätte man in der Übersetzung besser lösen können.

Etwas anstrengend empfand ich den Erzählstil des Buches. Es sind überwiegendst sehr sehr kurze Kapitelchen, in denen eher episodenhaft erzählt wird. Zwar wird die Handlung chronologisch erzählt, doch sind die häufigen zeitlichen Sprünge dann doch eine Herausforderung, beim Lesen am Ball zu bleiben.

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Beschreibung des Schreckens eines Massakers

Menschenwerk
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Die koreanische Schriftstellerin Han Kang sieht hin. Sieht genau hin. Beschreibt, was geschehen ist, als in der koreanischen Stadt Gwangju vom 18. bis 27. Mai 1980 Studentenproteste in einem Massaker niedergeschlagen ...

Die koreanische Schriftstellerin Han Kang sieht hin. Sieht genau hin. Beschreibt, was geschehen ist, als in der koreanischen Stadt Gwangju vom 18. bis 27. Mai 1980 Studentenproteste in einem Massaker niedergeschlagen wurden. Dabei geht es Han Kang nicht um das Warum und Wie. Sie konzentriert sich in "Menschenwerk" auf das Massaker selbst. Beschreibt, dass es weh tut. Eine Orgie menschlicher Gewalt. In ihrem Epilog schreibt die Autorin, dem Militär sei es nicht allein darum gegangen, die Lage unter Kontrolle zu bringen: "Vor aller Augen mordeten sie skrupellos und ohne zu zögern". 

Han Kang nun will mit ihrem Buch "Menschenwerk" das damit verbundene Leid ins Rampenlicht setzen. Sie beschreibt, wie Leichen eingesammelt werden, vor sich hinmodern, verbrannt werden, wie sie zur Identifizierung durch die Angehörigen aufgebahrt werden, bis der Platz nicht mehr ausreicht. Sie beschreibt weniger die Gewalt selbst als vielmehr die Wirkung der Gewalt auf die Menschen. 

Im ersten Teil des Romans stehen die Opfer der Gewalt im Vordergrund. Dazu nutzt Han Kang einen klugen Kunstgriff: sie lässt unter anderem die Seele eines Toten berichten, wie sie sich von ihrem irdischen Leben löst und sich auf die Suche nach anderen Seelen macht. 

Im zweiten Teil sind es die Überlebenden, die in den Fokus rücken. Die gefühlte Schande, die es ihnen verbietet, über das zu sprechen, was sie erlebt haben. Die verzweifelte Suche nach den vermissten Söhnen und Töchtern. 

Ausgehend von einem Studenten, der niedergeschossen wurde, lässt die Autorin die Erzählperspektiven immer wieder wechseln bis hin zur Seele eines Verstorbenen als Erzählstimme. Auch die Erzählzeit wechselt. Auf drastische Bilder verzichtet Han Kang in ihren Beschreibungen nicht - "Menschenwerk" fasst vielmehr in die Wunde, Gewalt als "Menschenwerk", als fassungslose Frage, wozu Menschen in der Lage sind. An manchen Stellen des Romans braucht es deshalb schon starke Nerven, um weiterzulesen. 

In "Menschenwerk" gibt es keine Geschichte, die erzählt wird, keine Handlung, keine Helden, es bleibt nur der Schrecken. 

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Ein Buch, das einen beim Lesen mehr und mehr in seinen Bann zieht

Walter Nowak bleibt liegen
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Walter Nowak ist nur bedingt ein sympathischer Zeitgenosse. Julia Nowak bringt in ihrem Roman „Walter Nowak bleibt liegen“ eben diesen in eine sehr unangenehme Lage: er stürzt und bleibt erst einmal liegen. ...

Walter Nowak ist nur bedingt ein sympathischer Zeitgenosse. Julia Nowak bringt in ihrem Roman „Walter Nowak bleibt liegen“ eben diesen in eine sehr unangenehme Lage: er stürzt und bleibt erst einmal liegen. In dieser Situation lässt er nach und nach sein Leben rekapitulieren.

Vom Besuch im Schwimmbad weitet sich der Erzählbogen bis in die Kindheit hinein. Obwohl er als uneheliches Kind der Häme seiner Mitschüler ausgesetzt war, ist es eher die Gegenwart, die ihn an seine Grenzen bringt. Ist alles in Ordnung?, fragt ihn sein Sohn Felix. Der Leser hat allen Zweifel, dass dem so ist. Warum sonst liegt seit mehreren Tagen ein aufgetautes Wildschwein in der Küche?

Walter Nowak fantasiert, sieht Dinge, die es nicht gibt. Er wirkt wie in Trance. Liegt es an einer Krankheit oder am Knall mit dem Kopf gegen den Beckenrand im Schwimmbad? War nun eine Fledermaus im Bad oder ist das ein Hirngespinst Walters?

Dass der Roman als innerer Monolog verfasst ist, macht ihn an manchen Stellen mühevoll zu lesen, vor allem weil die Autorin sich an Anakoluthen sehr erfreut. Sätze. Wie abgebrochen. Angedachte, nicht zu Ende gedachte Sätze, Weggelassenes – all das gehört zu „Walter Nowak bleibt liegen„. Hinzu kommen Stichwort-Verknüpfungen quer durch die Zeiten. Vom eigenen Röntgenbild zum Ultraschallbild des Sohnes, vom Sohn zur Ärztin, von der Ärztin zur eigenen Mutter, von der Mutter vom Kindsein in der Nachkriegszeit und wieder zurück in die Gegenwart. Das ist einerseits sehr anstrengend zu lesen, auf der anderen Seite aber eben auch sehr reizvoll.

Denn ist es die Sprache, die dem Leser immer wieder deutlich macht: Wir wissen nichts über diesen Walter Nowak. Nichts, was wir nicht von ihm selbst erfahren. Ist Yvonne wirklich auf einer Tagung oder hat sie ihn verlassen? Was für eine Krankheit wurde bei ihm diagnostiziert? Das ist es, was dem Roman auch seine Kraft gibt. Man steht vor einem unzuverlässigen Erzähler, der zudem noch Schwierigkeiten hat, seinen Alltag zu leben. Doch was haben seine Aussetzer zu bedeuten? Wie kommt es, dass der 70-jährige Walter Nowak plötzlich so völlig hilflos darin ist, sein Leben zu leben?

Dass zuletzt die Beziehung zu seinem Sohn immer mehr in den Vordergrund rückt, gibt dem Buch gegen Ende zudem noch einmal einen neuen Drive.

„Walter Nowak bleibt liegen“ ist ein Buch, das einen beim Lesen mehr und mehr in seinen Bann zieht.

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