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Veröffentlicht am 23.12.2024

Kindheit in der dänischen Provinz

Hof
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Der dänische Schriftsteller Thomas Korsgaard schreibt in seinem Erstling vom Leben auf dem Land in Dänemark. Genauer gesagt: vom Leben in einem „Vorort der Finsternis“, wie der Erzähler Nørre Ørum nennt. ...

Der dänische Schriftsteller Thomas Korsgaard schreibt in seinem Erstling vom Leben auf dem Land in Dänemark. Genauer gesagt: vom Leben in einem „Vorort der Finsternis“, wie der Erzähler Nørre Ørum nennt. Dort steht der Hof, den die Familie bewirtschaftet.

Von einer Idylle ist das Leben des 12-jährigen Tue auf dem Bauernhof meilenweit entfernt. Der Hof ist schwer verschuldet, die Mutter trägt kaum etwas zur Hofarbeit bei, der Vater ist nur bedingt zum Bauern geeignet und sucht andere Wege, um die Familie finanziell über Wasser zu halten – mal mehr, mal weniger legal. Seinen Sohn lässt er schon mal keim Kupferkabel-Stehlen Schmiere stehen. Und dazu kommen noch jede Menge Tierkadaver

Erzählt wird die Kindheit von Tue stark episodenhaft. Dabei wirkt die Familie sehr überzeichnet, klischeehafte Vertreter der unteren Gesellschaftsschicht. Nicht nur, dass die Tochter die eigene Familie anpumpt, sie bestiehlt sie auch. Wobei es schon komische Züge annimmt, wenn ausgerechnet der Braten bei Tues Konfirmation im Kofferraum der Schwester landet.

Dennoch: So richtig gepackt hat mich „Hof“ nicht. Denn die Geschichte hat eigentlich erst ein wenig Fahrt aufgenommen. Figuren wie Iben, mit der sich Tue anfreundet, haben noch kaum Kontur – auch wenn sie gemeinsam abhauen wollen. Und von Tues Erfolg in der Schule ist nur dann ausführlicher die Rede, wenn Tue selbst den Entschluss fasst, ans Gymnasium zu wollen. Es bleibt Thomas Korsgaard noch viel zu erzählen in seiner Trilogie, die der Kanon-Verlag nun nach und nach in deutscher Übersetzung veröffentlicht.

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Veröffentlicht am 08.11.2024

Zum Ende hin weniger fesselnd

Das Philosophenschiff
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Michael Köhlmeier spielt in seinem neuen Roman „Das Philosophenschiff“ mit Fiktion und Wahrheit. Doppelbödig lässt er eine 100-jährige erfolgreiche Architektin ihr Leben erzählen.

Die eigene turbulente ...

Michael Köhlmeier spielt in seinem neuen Roman „Das Philosophenschiff“ mit Fiktion und Wahrheit. Doppelbödig lässt er eine 100-jährige erfolgreiche Architektin ihr Leben erzählen.

Die eigene turbulente Lebensgeschichte soll für die Ewigkeit festgehalten werden. Darum geht es der 100-jährigen Anouk Perleman-Jacob. Einen Schriftsteller, den Ich-Erzähler im Buch, will sie dazu bringen, ihre Geschichte aufzuschreiben. Die beiden führen regelmäßig Gespräche, die gefeierte Architektin erzählt von ihrem Leben, vor allem von der Flucht aus der Sowjetunion.

Als junges, 14-jähriges Mädchen floh sie auf einem der so genannten Philosophenschiffe. Mit diesen Schiffen, das ist historisch verbürgt, hat die Regierung unliebsame Bürger des Landes verwiesen – zu ihrem eigenen Schutz, wie die russische Propagandamaschinerie formulierte.

Doch bald schon beginnt der Schriftsteller selbst zu recherchieren, was damals wirklich geschah. Denn seine Auftraggeberin erweist sich als sehr unzuverlässig. Missliebiges verschweigt sie, Unliebsames lässt sie lieber weg oder ändert die Tatsachen.

Ganz und gar unglaublich ist die Geschichte, auf die sich alles zubewegt: das Schiff macht sich mit überraschend wenigen Passagieren auf den Weg – und das nicht nur, weil viele der Passagiere wegen angeblicher Devisenvergehen zuvor erschossen wurden. Plötzlich stoppt das Schiff auf offener See, ein Beiboot bringt einen weiteren Passagier auf das fast leere Schiff, der in der 1. Klasse untergebracht wird.

Neugierig schleicht sich die 14-jährige Anouk zu dem alten Mann, der dann sogar noch offiziellen Besuch bekommt. Eine famose Lügengeschichte? Oder nichts als die Wahrheit, die reine Wahrheit?

Ein wenig schade ist, dass im Laufe des Buches die Rahmenerzählung um den Schriftsteller und die 100-Jährige immer mehr an Gewicht bekommt, während die Binnen-Erzählung um das Schiff an Kontur verliert. Allerdings: Worüber will ein 14-jähriges Mädchen auch mit einem betagten Staatsmann sprechen, das für die Nachtwelt von Interesse ist?

So sehr mich das „Philosophenschiff“ am Anfang in seinen Bann gezogen hat, zum Ende hin hat es mich nicht mehr fesseln können.

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Veröffentlicht am 01.11.2024

Beeindruckend

Kaltblütig
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Ein brutaler Mord, dem eine vierköpfige Familie zum Opfer fällt, scheinbar zufällig ausgewählt. Davon handelt „Kaltblütig„, Truman Capotes Tatsachenroman aus dem Jahr 1966, neu aufgelegt in einer Übersetzung ...

Ein brutaler Mord, dem eine vierköpfige Familie zum Opfer fällt, scheinbar zufällig ausgewählt. Davon handelt „Kaltblütig„, Truman Capotes Tatsachenroman aus dem Jahr 1966, neu aufgelegt in einer Übersetzung von Thomas Mohr. Truman Capotes 100. Geburtstag soll Anlass sein, das Buch neu zu lesen.

Truman Capote hat aus diesem Kriminalfalle einen Roman gemacht. Wie aber kann man, wie soll man über solch ein Verbrechen schreiben? Anklagend, erklärend, skandalisierend – all das wäre denkbar.

Capote tut nichts davon. Er hat daraus einen Roman gemacht, der viel über Menschen sagt, aber genauso viel auch offen lässt. Er sucht nicht nach Erklärungen, er beschreibt einfach, was ist. Was geschehen ist.

Dazu gehört auch, dass zunächst die ermordete Familie beschreiben wird. Capote räumt ihr viel Raum ein, beschreibt ihr Leben. Er beschreibt die Menschen, zeigt was ihr Leben ausmacht. Nur so kann der Verlust sichtbar werden. Erst dann geht er auf das Leben der beiden Mörder ein.

Capote erzählt unaufgeregt, nie wertend. Viele Dialoge helfen ihm dabei. Das Mitleid, Kopfschütteln, Haareraufen und Grauen: all das stellt sich beim Leser von selbst ein. Truman Capote gibt keine Deutung vor, keine psychologischen Muster oder Erklärungen aus der Kindheit. Aber er erzählt von der Kindheit von dem Mörder Perry, von seinem Verhältnis zu seinem Vater. Von seiner Zeit als Soldat. Capote hat dabei immer wieder Dokumente eingefügt, wie etwa den Brief eines Kameraden aus dem Militär. Sie geben einen anderen, weiteren Blick auf die beiden Mörder.

Mit gemischten Gefühlen bleibt man als Leser zurück, es geht gar nicht anders. Die eine, einzig gültige Erklärung gibt es nicht, ebenso wenig die einzig gültige Folgerung. Nicht nur die Frage, wie es zu einer so brutalen, sinnlosen Tat kommen kann, stellt sich der Leser, sondern auch die nach den Konsequenzen – also: welchen Einfluss können oder sollen psychologische Gutachten haben, und nicht zuletzt: macht die Todesstrafe Sinn?

Truman Capote gibt mit „Kaltblütig“ keine Antworten. Und das macht er beunruhigend gut.

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Veröffentlicht am 31.10.2024

Die fliegende Wühlmaus

Earhart
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Die Mäuseabenteuer von Torben Kuhlmann sind inzwischen Kult. Das Leben der Pilotin und Frauenrechtlerin Amelia Earhart stand Pate für das neueste Mäuseabenteuer: „Earhart„. 1932 flog Earhart als erste ...

Die Mäuseabenteuer von Torben Kuhlmann sind inzwischen Kult. Das Leben der Pilotin und Frauenrechtlerin Amelia Earhart stand Pate für das neueste Mäuseabenteuer: „Earhart„. 1932 flog Earhart als erste Pilotin über den Atlantik.

An ihre Biographie angelehnt ist die Geschichte von der kleinen Wühlmaus, die wissen will, wo Uganda liegt. Denn ihr Mäusefreund hat eines Tages einen Brief mit einer Briefmarke aus Uganda mitgebracht. Und weil die Wühlmaus so viele Fragen hat, löchert sie den Waschbären, der ihr schließlich sagt, dass man auch fliegen könne. Die Neugier ist geweckt und schließlich begegnet die Wühlmaus einer fliegenden Maus – und ist nicht mehr zu halten. Längst geht es nicht mehr darum, wo Uganda liegt, sondern darum, zu fliegen.

Wie die Neugier der Wühlmaus geweckt wird, ist sehr ausführlich erzählt – hier ist die Absicht sicherlich, bei den jungen Lesern zu erreichen, sich selbst Fragen zu stellen und neugierig zu sein.

Bestechend sind die liebevollen, wunderschönen Zeichnungen dieses Bandes. Ihnen ist viel Platz eingeräumt, oft eine ganze Seite oder gar eine Doppelseite. Auch ein kleines Lesebändchen macht das Buch hochwertig. Etwas gewöhnen muss man sich an die abrupten Übergänge zu neuen Orten, da hätte man sich hier und da ein paar Überleitungen gewünscht, damit das Buch sich auch zum Vorlesen gut eignet.

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Veröffentlicht am 03.10.2024

Queere Liebesgeschichte

Ryan und Avery
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David Levithan erzählt in seinem neuen Jugendbuch „Ryan und Avery“ eine Liebesgeschichte, die vom Suchen und Finden der Liebe handelt. Es ist die erste große Liebe zwischen Avery und Ryan und der Leser ...

David Levithan erzählt in seinem neuen Jugendbuch „Ryan und Avery“ eine Liebesgeschichte, die vom Suchen und Finden der Liebe handelt. Es ist die erste große Liebe zwischen Avery und Ryan und der Leser darf mitverfolgen, wie die beiden sich immer besser kennenlernen. Bei einer Party haben sie sich kennengelernt, ein Date verabredet. Es folgen neun weitere.

Um zu viel zuckersüße Romantik zu vermeiden, sind die Dates (sie bilden jeweils ein Kapitel) nicht chronologisch erzählt. Zudem schlägt der Erzähler immer wieder einen stark distanzierten Ton an und bewertet das Geschehen.

Während die fehlende Chronologie einen gewissen Reiz hat, wirkt die kommentierende Erzählerstimme doch immer wieder etwas zu altklug. So wird etwa nicht einfach erzählt, wie Avery nicht einschlafen kann, weil er sich viele Gedanken über seine Beziehung zu Ryan macht, sondern: „Solche Gedanken lassen einen nicht einschlafen. Sie müssen sich erst beruhigen. Sich abkühlen.“ Da ist doch erzählerisches Potenzial vergeudet.

Schwerer wiegen allerdings die altklugen Kommentare wie etwa der:

Avery ist noch so jung, dass er nicht begreift, was Ryan durchmacht. Er glaubt noch, beim Aufbau einer Beziehung ginge es darum herauszufinden, was man gemeinsam hat, und nicht darum, in einem fort mit dem umzugehen, was man nicht gemeinsam hat.

Natürlich kann dies auch einen jugendlichen Leser dazu anregen, sich darüber Gedanken zu machen, was eine Beziehung ausmacht. Aber der belehrende Ton dürfte doch eher abschreckend wirken.

Dabei ist die Konstellation der Liebesgeschichte gut gewählt. Avery erfährt Unterstützung von seinen Eltern, als ihm klar wird, dass er ein Junge ist. Ryan hingegen ist im Dauer-Clinch mit seinen Eltern. Beide tasten sich langsam vor, man kann spüren, wie unsicher die beiden sind. Und ja, das ist wunderbar erzählt. Da wirkt es eine Spur zu psychologisierend, wenn vom distanzierten Erzähler die Frage eingeworfen wird, wie eine Beziehung dauerhaft wird (mit Unterschieden umgehen lernen) und wie viel Freiraum man in einer Beziehung dem anderen lässt (oder wie sehr man den anderen in Beschlag nimmt).

Seine Stärke hat „Ryan und Avery“ , wenn einfach nur erzählt wird, was die beiden tun, was sie fühlen und was sie denken.

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