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Veröffentlicht am 04.01.2024

Ein bisschen Hoffnung

Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?
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Zum Jahreswechsel machen wir uns ja immer ein bisschen Hoffnung. Neues Jahr, neues Glück. Die bösen Geister des alten Jahres werden weggeböllert. Und so weiter und so fort. Ist vermutlich mehr Gewohnheit ...

Zum Jahreswechsel machen wir uns ja immer ein bisschen Hoffnung. Neues Jahr, neues Glück. Die bösen Geister des alten Jahres werden weggeböllert. Und so weiter und so fort. Ist vermutlich mehr Gewohnheit als tatsächliche Hoffnung. Haben wir diese überhaupt noch? In Zeiten von Klimawandel, Rechtsruck und Kriegen? Genau dieser Frage geht Till Raether in seinem neuen Essay nach. Persönlich, ein-, aber nicht aufdringlich und durchaus auch humorvoll.

Raether startet seine Hoffnungsreise in seiner Jugend, in den 80ern. Der Kalte Krieg ist noch nicht zu Ende, die Angst vor einem Krieg in Europa, vor einer Atombombe ist präsent. Wer in der Zeit aufgewachsen ist, kennt das Gefühl. Wer später aufgewachsen wer, hatte ähnliche Ängste zu Zeiten von 9/11 und Irakkrieg oder natürlich aktuell mit Klimakrise und Ukraine-Krieg, zu denen Raether einen passenden Bogen spannt.

Aber auch private Hoffnungslosigkeit ist in seinem Essay präsent: Seine eigene Depression, schon ausführlicher in seinem Vorgänger Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben? behandelt, die seiner Mutter und ihre letzten Lebensjahre im ungeliebten Hamburg, die Corona-Pandemie. Und Wege daraus. Das Schöne, das Gute, das wirklich Wichtige daran: Raether gibt hier nicht den Life-Coach, er hat kein Patentrezept, kein So sprühst du morgen zu 100 % wieder voller Hoffnung -101.

Er erzählt von seinen Erfahrungen, von kleinen persönlichen Schritten, die ihm geholfen haben. Zum Beispiel seinem Japanisch-Kurs. Ist nix für jeden, aber vielleicht ist es in einem anderen Fall ja Zeichnen, Wandern oder das Erlernen von Flechtfrisuren für Langhaarhunde. Schreibe ich, schreibt nicht Raether, so quatschig ist er nicht. Er wirkt eher, so gottlos er aufgewachsen und so fern er der Institution Kirche noch heute ist, eher wie ein gutmütiger Pater in einer Art Religionsunterricht für Erwachsene.

Nicht belehrend, aber Anstöße gebend, Mut machend, dass man zwar vielleicht alleine in einem Boot ist, aber ganz viele Boote um einen rum sind, in denen Menschen mit gleicher Gefühlslage sitzen. Und das funktioniert bei mir persönlich beispielsweise besser als in Daniel Schreibers Die Zeit der Verluste , ein Buch über Trauer. Schreiber verliert sich für meinen Geschmack zu sehr in Venedig, so dass die wirklich guten, wichtigen Passagen seines Essays untergehen, so wie vermutlich eines Tages die italienische Hafenstadt.

Der Hamburger Raether bleibt bei seiner Sache, verliert sich und vor allem mich nicht und schafft es, dass ich das Buch in einem Rutsch durchlese, obwohl ich es auch schön häppchenweise hätte machen können - ein bisschen Hoffnung morgens, mittags, abends über vier Tage verteilt. Gutes Rezept eigentlich, nicht mal verschreibungspflichtig.

Und das Fazit? Lässt sich am besten so zusammenfassen: Es ist nicht schlimm, keine Hoffnung zu haben. Solange man noch Lust hat, wieder welche zu bekommen.

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Veröffentlicht am 11.12.2023

Ein Duftroman

Wilde Minze
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Dieser Roman ist wie Minze. Man kann ihn riechen, in fast jeder Sequenz. Im grünen, dichten Wald. Im edlen Restaurant und im Blumenladen. In staubigen Häusern, die gerade renoviert werden. Fast schade, ...

Dieser Roman ist wie Minze. Man kann ihn riechen, in fast jeder Sequenz. Im grünen, dichten Wald. Im edlen Restaurant und im Blumenladen. In staubigen Häusern, die gerade renoviert werden. Fast schade, dass es kein richtiges Duftbuch ist. Dafür ein starker Roman zwischen Coming-of-Age und Gegenwartsliteratur für late 20s und early 30s. Oder alle, die diese Art von Literatur mögen. Mit einem kleinen Wermutstropfen.

„Wilde Minze“ begleitet zwei Frauen auf ihrem Weg. Sara flüchtet aus ihrer White Trash-Heimat, nachdem ihre Freundin tot aus dem Fluss gezogen wird. Sie trampt mit einem Jungen nach Los Angeles und versucht Fuß zu fassen. Emilie wechselt ihre Studienfächer immer kurz vor dem Abschluss und jobbt als Blumenbinderin in einem der angesagtesten Restaurants der Gegend, dem Yerba Buena – dem spanischen Namen der titelgebenden wilden Minze. Sie begegnen sich kurz, verlieren sich dann aber aus den Augen. Emilies Romanze mit dem verheirateten Restaurantchef spielt hier eine Rolle. Aber auch, dass Sara plötzlich ihren Bruder aufnehmen muss – und dann zu einem Trip in ihre Heimatstadt gezwungen wird.

Nina Lacour schreibt wunderschön, ihr gelingt, wie schon in „Alles okay“ eine wundervolle Atmosphäre aufzubauen. Ihre Figuren werden liebevoll gezeichnet, die Stimmung der Familien perfekt dargestellt. Und auch in die Settings – Saras Elternhaus, Emilies kleine Wohnung, das Yerba Buena – kann sich mit Leichtigkeit eingefühlt werden. Der Roman liest sich extrem leicht, ein echter Pageturner. Aber – es gibt ein kleines Aber. Im NDR Bücher-Podcast Eat Read Sleep poppt manchmal ein kleiner Kommentar auf, der mich bislang immer kalt gelassen hat, hier aber latent auf meiner Schulter saß und mir ins Ohr flüsterte: „Glaubst du das?“

Und komischerweise gibt es vieles, das total realistisch ist, das extrem nachvollziehbar und echt ist. Bloß Emilies sehr schnelle Berufung in der zweiten Buchhälfte, ihr beruflicher Erfolg, der doch ein eher zentrales Element gegen Ende ist – der ist, obwohl er schlüssig hergeleitet wird, etwas too much. Das hat mich mehr gestört als es sollte, dass so auf ein hübsches Ende zugesteuert wird. Natürlich Jammern auf hohem Niveau und bloß der Grund, warum es am Ende nicht für ein 5-Sterne-Buch reicht, sondern nur für ein sehr gutes mit 4 Sternen. Ein schönes Buch zum Jahresabschluss – oder für den literarischen Start ins neue Jahr.

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Veröffentlicht am 10.10.2023

Tierisch schöne Weihnachtsbotschaft

Das große Weihnachtsfest im Zoo
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Die Bedeutung von Weihnachten verschiebt sich. Was nicht unbedingt schlecht sein muss. Weniger Kirche, mehr Gemütlichkeit zuhause, im besten Fall viel Zusammensein und ja, natürlich, Geschenke.

So auch ...

Die Bedeutung von Weihnachten verschiebt sich. Was nicht unbedingt schlecht sein muss. Weniger Kirche, mehr Gemütlichkeit zuhause, im besten Fall viel Zusammensein und ja, natürlich, Geschenke.

So auch im Tierpark von Zoodirektor Alfred Ungestüm. Heiligabend steht vor der Tür und es wird gewichtelt. Jedes Tier soll einem anderen eine kleine Freude machen und trennt sich von einem eigenen Lieblingsstück – das aber dann leider gar nicht so richtig zum anderen zu passen scheint. Aber dann …

Spoilern soll man ja nicht in kleinen Buchbesprechungen, aber so viel sei gesagt: Das Ende ist vielleicht für ein Kinderbuch nicht wahnsinnig überraschend, aber es ist herzerwärmend schön und genau das passt ja zu Weihnachten. Am besten trifft es da das Zitat „Geben ist schön. Doch miteinander teilen ist noch schöner.“

„Das große Weihnachtsfest im Zoo“ fügt sich perfekt in Sophie Schönwalds Reihe um Ignaz Pfefferminz Igel (nicht zu verwechseln mit Ignatz Igel von Dirk Hennig ein. Es tauchen neue Tiere auf, aber auch bereits aus den vorangegangenen Bänden bekannte Zoobewohner auf. Die Illustrationen von Günther Jakobs, ja eh einer der besten Kinderbuchzeichner, sind wunderschön gestaltet. Und auch der Satz des Buchs macht Spaß, wenn Seiten gedreht werden müssen und es zum Ende ganz viel zu entdecken gibt.

Ein schönes, leises Weihnachtsbuch, das perfekt in die gemütliche Adventszeit passt, das den Fokus von "Geschenke bekommen" auf "Schenken und Teilen" verschiebt und vor allem Lust macht, weitere, vielleicht noch nicht bekannte Abenteuer im Zoo zu entdecken.

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Veröffentlicht am 25.08.2023

Kein Entrinnen

Mord auf der Insel Gokumon
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Privatermittler Kosuke Kindaichi ist verzweifelt. Ein Freund hatte ihn auf seinem Sterbebett gebeten, auf seine Heimatinsel zu reisen und seine drei Schwestern zu schützen. Doch nach und nach werden sie ...

Privatermittler Kosuke Kindaichi ist verzweifelt. Ein Freund hatte ihn auf seinem Sterbebett gebeten, auf seine Heimatinsel zu reisen und seine drei Schwestern zu schützen. Doch nach und nach werden sie getötet. Und alle drei Morde erinnern an Haikus, die Kindaichi auf einer Trendwand in seinem Gästezimmer findet. Was hat Japans berühmtester Detektiv nur übersehen?

Die Wiederentdeckung von Seishi Yokomizos Reihe über Kosuke Kindaichi ist weiterhin ein Glücksfall für Freund:innen klassischer Krimis. Ursprünglich ab den späten 1940er-Jahren erschienen, gelten die Krimis als japanische Antwort auf Agatha Christie oder Sherlock Holmes, und wirken dennoch nur bedingt aus der Zeit gefallen. Die Nachkriegszeit ist in „Mord auf der Insel Gokumon“ greifbar, natürlich gibt es keine modernen Kommunikationsmittel, aber das eigenbrötlerische Inselleben auf Gokumon ist gar nicht mal so weit weg von all den eher modernen Insel-Krimis.

Hier und da blitzt etwas Humor auf, Yokomizo hat ein Händchen für skurrile wie liebenswerte Charaktere, immer wieder, wenn auch weniger als noch im ersten Band „Die rätselhaften Honjin-Morde“ wird auch die dritte Wand durchbrochen und der Leser direkt angesprochen. Die Leser:innen erfahren etwas über die Geschichte Japans, über die der fiktiven Insel in Japans Inlandsee und das Fischereigeschäft in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Fall selbst scheint mysteriös: Drei Schwestern werden nach und nach ermordet und hängend in einem Baum, sitzend unter einer Glocke und scheinbar spielend in einem Gebetsraum gefunden. Sympathieträgerinnen waren sie nicht, aber die Erben der größten Fischerei-Dynastie der Insel, nachdem der ursprüngliche Erbe verrückt geworden und sein Sohn auf der Rückreise aus dem Krieg verstorben ist. Hat die Seitenlinie, das zweitgrößte Fischunternehmen auf Gokumon, seine Finger im Spiel? Und was hat es mit den Haikus auf sich, die geschrieben sind, gemurmelt werden.

Die zweite Neuübersetzung der Kosuke Kindaichi-Reihe ist wieder ein behutsamer und ruhig geschriebener Krimi. Die Gänsehaut entwickelt sich eher subtil, er überrascht nicht nur blutrünstige Thriller-Überraschungen, aber vielleicht doch durch die Auflösung des Falls. Auf den ersten Band wird zwar immer wieder zurückgeblickt, aber dennoch funktioniert „Mord auf der Insel Gokumon“ auch für sich, da es lediglich um die genannten Personen geht. Und es bleibt zu hoffen, dass auch die weiteren Bände, die bereits in englischen Neuübersetzungen vorliegen, ihren Weg ins Blumenbar-Portfolio finden, denn wenn man erst einmal Fan der Reihe ist, gilt das gleiche wie für die Kito-Schwestern: Es gibt kein Entrinnen.

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Veröffentlicht am 15.08.2023

Klug und tragisch mit kleinen Wermutstropfen

Nachts erzähle ich dir alles
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Irgendwann so in der Mitte des Buchs, da hat mich Anika Landsteiner verloren. Nicht, dass ich der Geschichte nicht mehr folgen konnte, sie wurde bloß uninteressanter. Aber: So richtig schlimm war das nicht. ...

Irgendwann so in der Mitte des Buchs, da hat mich Anika Landsteiner verloren. Nicht, dass ich der Geschichte nicht mehr folgen konnte, sie wurde bloß uninteressanter. Aber: So richtig schlimm war das nicht. Denn „Nachts erzähle ich dir alles“ ist trotzdem eines der Lesevergnügen des Sommers mit wichtigen Themen und starken Frauenfiguren.

Lea flieht in das Ferienhaus ihrer Familie in Südfrankreich. Die Trennung von ihrer Freundin hat zu Dschungeltapeten in ihrem französischen Café geführt und das war dann doch der Tropfen zu viel. Im „Haus der Männer“ angekommen, trifft sie auf die junge Alice. Sie unterhalten und verabschieden sich und am nächsten Tag ist Alice tot.

Klingt wie ein Krimi-Plot, ist aber dann eine doch oft einfühlsame Geschichte über Schwangerschaften, Abtreibung und die verzweifelte Frage, ob eine Enttabuisierung des Themas nicht dazu führen könnte, dass Frauen mit der Frage nach einem Abbruch nicht allein sind, nicht abgestempelt werden und nicht zu verzweifelten Mitteln greifen.

Diese Teile von „Nachts erzähle ich dir alles“ sind extrem klug und intensiv geschrieben, genau wie in großen Teilen die von Claire, einer alten Freundin von Leas Mutter Marianne, die sich um das „Haus der Männer“ kümmert und über deren Hintergrund wir in Rückblenden und abendlichen Gesprächen immer mehr erfahren.

Weniger interessant, vielleicht auch relevant, war für mich die Geschichte von Lea und Alices Bruder Emile. Lea war die letzte Person, die Alice lebend gesehen hat, und Emile möchte mehr erfahren, sucht immer wieder das Gespräch, nimmt sie mit zu Alices bester Freundin, ihrem Partner, ihren gemeinsamen Eltern. Dass sich hier eine Liebesgeschichte anbahnt, ja vielleicht sogar anbahnen muss, macht den Roman länger, aber nicht besser, auch wenn es Lea in ihrem Heilungsprozess unterstützt. Ein kleiner Wermutstropfen nach einer starken ersten Buchhälfte.

„Nachts erzähle ich dir alles“ ist ein Sommerbuch mit toll geschriebenen Figuren, mit ernsten Themen, tragischen Momenten, einer etwas belanglosen Liebesgeschichte, aber auch mit viel Frankreich-Liebe. Eigentlich möchte man beim Lesen die ganze Zeit ein französisches Picknick machen, Wein trinken und in der Sonne sitzen – und allein für dieses Gefühl verdient Anika Landsteiners Roman 4 von 5 Sternen.

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