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Veröffentlicht am 14.03.2022

Ohnmacht

Zusammenkunft
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„Zusammenkunft“ ist im Grunde genommen das genaue Gegenteil seines Titels – hier wird nichts vereint, gelöst, versöhnt. Die Friedlichkeit, die das Wort suggeriert, ist kein Teil der Handlung. Der einzige ...

„Zusammenkunft“ ist im Grunde genommen das genaue Gegenteil seines Titels – hier wird nichts vereint, gelöst, versöhnt. Die Friedlichkeit, die das Wort suggeriert, ist kein Teil der Handlung. Der einzige Aspekt von Zusammenkunft, der auf den Inhalt des Textes zutrifft, ist der eines flüchtigen, vielleicht auch gleichgültigen, Zusammentreffens von Menschen, denn an der Erzählerin ist eigentlich niemand wirklich interessiert – seltsamerweise auch sie selbst nicht, denn für sich selbst (wie auch für viele andere) ist sie „nichts“, wie immer wieder betont wird. Ihre Haltung sich selbst gegenüber ist distanziert bis unbeteiligt, um nicht zu sagen apathisch.

Und das ist eigenartig befremdlich, denn insgesamt ist der Roman eine Wutrede, eine ohnmächtige Anklage gegen den Status quo, gegen Sexismus, Rassismus und Marginalisierung, Vorurteile, Privilegierung, Oberflächlichkeit, Kolonialismus, das Klassensystem, Seilschaften, gesellschaftliche Normen. Es ist ein deprimierender Text mit schmerzhaften Wahrheiten, vorgetragen mit brutaler Offenheit, der sich an der Frustration abarbeitet, dass sich weder an der Geschichte noch an der Gegenwart und vermutlich auch nicht an der Zukunft etwas ändern lässt.

„Zusammenkunft“ bietet auf seinen 113 Seiten unendlich viele Interpretationsansätze – am eingängigsten und besonders markant ist wahrscheinlich die Krebsmetapher: die Krankheit, die sich mäandernd und einem Kraken gleich durch den Organismus frisst, an immer neuen Stellen auftaucht und das System unheilbar vergiftet. Wie ein Krebsgeschwür verdammt die spezifische Mischung aus Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht und sozialer Klasse die Erzählerin zu einer Identität, die von Einschränkungen und Unfreiheit bestimmt wird. Sie versteckt sich hinter gewünschten, erwarteten sozialen Rollen und enthüllt so bestechend die Notwendigkeit der Assimilation. Auf diese Weise vereint das Buch einen Katalog verschiedenster Elemente postkolonialer Ansätze und demonstriert seine Klugheit, seinen Zorn, die Unzulänglichkeiten der Welt und die Härte und Schwere der Umstände, die auch durch das britische Empire entstanden sind. „Zusammenkunft“ ist ein anstrengendes, forderndes und anspruchsvolles Buch, das über den gezielten Einsatz des Fragmentarischen Identität gleichsam untermauert und in Frage stellt.

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Veröffentlicht am 14.03.2022

Warum?

Wut
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„Wut“ ist ein Roman, der anfänglich abstößt und verstört, dann zeitweise fasziniert und zum Ende hin leider in surrealer Absurdität zu zerfasern scheint, was durch den sehr gelungen Epilog jedoch einigermaßen ...

„Wut“ ist ein Roman, der anfänglich abstößt und verstört, dann zeitweise fasziniert und zum Ende hin leider in surrealer Absurdität zu zerfasern scheint, was durch den sehr gelungen Epilog jedoch einigermaßen wieder herausgerissen werden kann. Erzählt wird die Geschichte einer Kindheit, die unter den brutalen Ausbrüchen einer Mutter, deren Fürsorge zwischen Vernachlässigung und unkontrollierbarer Wut schwankt, leidet. Diese im Gesamtkontext kurz erscheinenden Erinnerungen wechseln sich ab mit Rückblicken in das familiäre Konstrukt und das Heranwachsen der Mutter, die sich schon im frühen Kindesalter durch Unbeherrschtheit auszeichnete. Eine Erklärung für dieses Verhalten bieten diese Einsichten jedoch leider nicht. In der Folge springt der Roman episodenhaft durch das Leben des Protagonisten, zusammengehalten werden die einzelnen Kapitel durch die Auswirkungen der mütterlichen Erziehungsmethoden, mal ist der direkte Zusammenhang deutlich zu erkennen, mal tritt die Mutter auch fast völlig in den Hintergrund. Schließlich begibt sich die Handlung in etwas abstrus erscheinende Gefilde, bei aller Liebe zur Verschmelzung dessen, was als real wahrgenommen wird und der puren Imagination, erschien mir der Weg der Geschichte schließlich doch als zu weit, zumal dieser auf Kapitel folgte, die von völlig unglaubwürdigen Figuren bevölkert wurden.

Der Roman liest sich sehr gut, aber das Gefühl, dass hier insgesamt nur an der Oberfläche eines Problems bzw. sehr vieler Probleme gekratzt wird, lässt mich nicht los. Gerade in Bezug auf die Figur der Mutter fehlt mir eine tiefere Auseinandersetzung, die mehr ist als ein bloßes Nachzeichnen von Ereignissen.
Insgesamt ein besonders in der ersten Hälfte lesenswerter Roman, der sich aber scheut, seinen starken, abstoßenden Auftakt im Verlauf der Handlung einzulösen. Letztlich ist nur das Ende so stark wie der Beginn verspricht.

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Veröffentlicht am 13.03.2022

"You had me at Hello"

In all deinen Farben
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Liebe Bolu Babalola, „You had me at Hello”! Wer dem Charme von “In all deinen Farben“ nicht erliegt, hat kein Herz. Ich persönlich freue mich sehr, dass es mal solch einen Band mit schönen Rom-Com-Geschichten ...

Liebe Bolu Babalola, „You had me at Hello”! Wer dem Charme von “In all deinen Farben“ nicht erliegt, hat kein Herz. Ich persönlich freue mich sehr, dass es mal solch einen Band mit schönen Rom-Com-Geschichten gibt! Dieses Buch macht viel richtig und wenig verkehrt und bietet unbeschwertes Leservergnügen. Es ist genau die Art von Leseglück, die es einfach zwischen all den (natürlich auch zu Recht gelobten und gelesenen) Romanen über dysfunktionale Familien, Klimawandel, Krebs, Demenz und Tod, Krieg, Weltuntergang, Vernachlässigung, Scheidung, prekäre Lebensverhältnisse, Armut, Heimatverlust, Intrige, Betrug und Gewalt auch mal braucht! Davon gibt es viel zu wenig – zumindest wenn man nach guter und fröhlicher Unterhaltung mit einem gewissen Anspruch sucht und nicht gleich in die Untiefen der ganz seichten Gewässer abtauchen möchte, bei denen man sich dann auch gleich noch sprachlich und stilistisch ärgern darf.

Bolu Babalola liefert gehobene, anspruchsvolle RomCom-Geschichten, die dadurch, dass einige in Mythen verankert sind, gleich auch noch in gewisser Weise einen Bildungsauftrag erfüllen. Sie stattet ihre Heldinnen mit viel Empowerment aus und beherrscht die Genre-Klaviatur perfekt. Ich habe es genossen, dass ich mit Spannung und einem wohligen Bauchgefühl verfolgen konnte, wie Heldin und Held zusammenfinden. Zwar wusste ich natürlich, dass es immer gut ausgehen wird (das MUSS bei einer RomCom ja auch so sein), aber das sorgt gerade für den Harmonieeffekt, den man beim Lesen erfährt. Die Spannung entsteht hier dadurch, dass man letztlich nicht genau weiß, wie das Happy End erreicht werden kann. Bei den Mythen-Geschichten ist außerdem der Abgleich mit der eigenen Kenntnis (wenn vorhanden) über die Ursprungshandlung sehr interessant, aus dem Grund hätte ich mir zur Einordnung grundsätzlich einen umfassenden Verweis auf die verschiedenen Kulturkreisen entnommenen Urtexte gewünscht.

Sprachlich machen die Geschichten ebenfalls viel Freude, bis auf die Tatsache, dass das „Funkeln in den Augen“, die „zuckenden Mundwinkel“ und das „Flattern im Bauch“ sowie Variationen davon vielleicht drei bis acht Mal zu oft bemüht werden – nicht in einer Geschichte, sondern auf den ganzen Band gesehen. Motivisch war mir der Bezug auf das die Stories verbindende „Gesehen werden“ ebenfalls zu deutlich und zu häufig – es hat mich in der Frequenz tatsächlich ein wenig genervt und unterstrich die im Handlungsablauf gegebene Ähnlichkeit zwischen einigen Geschichten noch zusätzlich. Ich hätte mir auch da ein bisschen mehr Variation gewünscht.

Und: die Geschichten sind zu kurz. Jede davon (bis auf die letzte, die mir, weil sie nicht der Chick-Lit-Rom-Com-Formel entspricht, auch am wenigsten zugesagt hat), hätte das Potenzial für einen ganzen Roman gehabt, denn alle bieten wunderbare RomCom im Miniaturformat. Ich hoffe deshalb sehr, Eisele traut sich an Bolu Babalolas Roman, der im Sommer erscheint, heran.

Also „ Give Love a Chance“ – wer „Tatsächlich Liebe“ liebt, wird „In all deinen Farben“ mögen!

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Veröffentlicht am 06.03.2022

Der Weg nach oben?

So reich wie der König
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„So reich wie der König“ sollte der Mann sein, den Sarah, die sechzehnjährige Französin aus dem Armenviertel Casablancas, einmal heiraten möchte. Ihr Traum von Reichtum ist so groß, dass sie fast zu allen ...

„So reich wie der König“ sollte der Mann sein, den Sarah, die sechzehnjährige Französin aus dem Armenviertel Casablancas, einmal heiraten möchte. Ihr Traum von Reichtum ist so groß, dass sie fast zu allen Mitteln greifen würde, um ihn sich zu erfüllen. So flattert sie von einem reichen Gönner zum nächsten, um sich über Wasser zu halten, lässt sich mit Paninis und Säften bezahlen und hofft auf ein besseres Leben. Als sie schließlich erfährt, dass der unansehnliche und unattraktive Driss „so reich wie der König“ ist, setzt sie alles daran, ihn für sich zu gewinnen.

Eigentlich ist „So reich wie der König“ von der Anlage her eine raue und kalte Aschenputtel-Story, der Wunsch einer Heranwachsenden nach ein bisschen Märchen. Sarah als Figur ist jedoch schwer einzuordnen. Sie ist hart in ihrem Verhalten, berechnend und klar kalkulierend, Gefühle sind ein Luxus, den sie sich nicht leisten kann. Für den Leser ist sie kaum zu fassen. Ist sie zu Beginn des Romans einfach unsympathisch, greift nach einigen Seiten die Sympathielenkung so manipulierend zu, dass man zwischen Mitleid und Hoffnung für sie schwankt – und dass, obwohl man ihre Vorgehensweise klar erkennen kann. Empathie ist dennoch möglich, denn wer würde dieses mittellose Mädchen aus zerrütteten Verhältnissen, dass mit ihrer schwer übergewichtigen Mutter, die sich von einem „Wohltäter“ nach dem anderen aushalten lässt, in Casablanca gestrandet ist, dafür verurteilen, dass sie etwas an ihrer Lage verändern möchte? Dennoch bleibt die offene und diskussionswürdige Frage bis zum Schluss, wie ihre Gefühle tatsächlich aussehen. Mit Sarah ist Abigail Assor auf jeden Fall eine äußerst spannende Figur gelungen.

Schwierig aus heutiger Sicht ist sicherlich der Umstand, dass Sarah ihre bessere Zukunft ausschließlich in der Ehe mit „einem Reichen“ sieht und nicht einen anderen Weg in Betracht zieht, zumal sie ein sehr gutes Gymnasium besucht. Vermutlich ist das der Grund, warum die Autorin den Roman im Jahr 1994 angesiedelt hat, doch konnte mich genau das als einziger Aspekt an dem Roman nicht vollkommen überzeugen. Wenn ich mich recht erinnere, hatten junge Frauen auch 1994 durchaus Karriereziele und der Feminismus war ebenfalls schon so weit vorangeschritten, dass man sogar als Frau in Erwägung ziehen konnte, selbst etwas aus sich zu machen. Bei Sarah ist der „Karriereweg“ eher durch die Mutter vorgezeichnet, als durch den zeitlichen Kontext gegeben. Auch sonst spürt man die 90er – bis auf den Walkman, das Festnetztelefon und vor allem die Abwesenheit von Handys kaum. Es gibt ein paar archaisch anmutende Momente (wie das Regengebet) aus der marokkanischen Gesellschaft, von denen ich nicht beurteilen kann, ob sie heute noch existieren, aber insgesamt habe ich die Notwendigkeit des zeitlichen Settings nicht ganz nachvollziehen können.

Neben Sarah ist der eigentliche Star des Romans die Stadt Casablanca. Mit Sarah streift der Leser durch jeden Winkel dieser Stadt und lernt an ihrer Seite den Alltag und die verschiedenen Viertel kennen. Hier wird viel Atmosphäre ausgeschüttet, die Stadt kann man riechen und fühlen, die marokkanische Lebensart durchdringt die Seiten. Sprachlich ist der Roman zeitweise so unterkühlt wie seine Protagonistin, dann aber blitzen wieder sprachlich sehr schöne Bilder auf, wenn z.B. die Haarfarbe der Frauen mit der Farbe der Schatten auf den Mauern von Marrakesch verglichen wird. Überhaupt wird „Sprache“ auch im Verlauf des Romans zu einem eigenen Thema. Im übertragenen Sinne ist sie auf einer nonverbalen Ebene Ausdruck der rigiden Schichtentrennung, denn Sarah muss erkennen, dass bei aller Mühe sie die „Sprache der Reichen“, das instinktive Erkennen der Zugehörigkeit zur Oberschicht, nicht beherrscht.

„So reich wie der König“ ist ein sehr lohnenswerter Roman mit Sogwirkung und äußerst spannender Sympathielenkung.

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Veröffentlicht am 18.02.2022

Intensive Innenschau

Das Vorkommnis
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Es gibt manchmal Texte, die einen leer und zugleich übervoll zurücklassen. "Das Vorkommnis" gehört dazu. Der Roman fordert den Leser auf einigen Ebenen heraus und thematisiert Probleme und Gedanken, die ...


Es gibt manchmal Texte, die einen leer und zugleich übervoll zurücklassen. "Das Vorkommnis" gehört dazu. Der Roman fordert den Leser auf einigen Ebenen heraus und thematisiert Probleme und Gedanken, die einem nur allzu bekannt vorkommen, denen man sich aber nur sehr bedingt in dieser Intensität aussetzen möchte.
Die Erzählerin wird durch das Vorkommnis - ein wunderbares Wort, das sowohl Zäsur als auch Banalität suggeriert - aus der Bahn geworfen. Sie trifft ihre Halbschwester, von der sie irgendwie ahnte, aber nicht wirklich wusste, und deren Zugehörigkeit zu ihr nur dadurch besteht, dass der Vater der Erzählerin sich auf der Geburtsurkunde hat eintragen lassen. Bewiesen ist die Verwandtschaft also nicht. Dennoch beginnt die Erzählerin durch die Existenz dieser möglichen neuen Schwester alles zu hinterfragen, ein auf der Spitze fast paranoides Misstrauen sich selbst und anderen gegenüber zu empfinden, den Wert von Erinnerungen auszutesten und ein Leben in Gedankenspiralen und Grübeleien zu führen.

Im Alltag der Erzählerin passiert eigentlich nichts Spektakuläres. Auslandsmonate in den USA ziehen an ihr vorüber, aber sie scheint nur zu funktionieren, während sie sich ihrem eigenen Denken immer stärker annähert, ihr Dasein und ihre Beziehungen in Zweifel zieht.

Als Leser hat man es mit der Erzählerin schon recht schwer, denn sie ist so in sich selbst verstrickt, in einer konstanten Auseinandersetzung mit sich, dass kein Raum für "normales Leben" bleibt. In ihrem Hadern und Hinterfragen schwankt sie zwischen Teilnahmslosigkeit und Selbstzerstörung. Auch wenn auf diese Weise eine Identifikation mit der in ihrer Selbstwahrnehmung schonungslosen und fast schon brutalen Erzählerin ausgeschlossen wird, der Leser konsequent auf Distanz gehalten wird, kann man sich doch einer Betroffenheit nicht entziehen, denn der Roman bewirkt auch beim Leser eine Auseinandersetzung mit den Konzepten von "Vergänglichkeit" und "Erinnerung", mit der Fragestellung, was passiert, wenn alles, worauf man vertraut, umgestoßen wird.

Der Text ist mitnichten positiv oder fröhlich, im Gegenteil, es handelt sich um einen extrem intensiven, sehr dichten und (emotional) fordernden Text, dessen Schluss für den aufmerksamen Leser eine unglaublich gelungene Überraschung im Hinblick auf Lesererwartungen und Gattungszugehörigkeit bietet. Ich bin nicht restlos begeistert, es ist einfach kein schönes Buch, aber trotzdem ein gutes. Ein Lesetipp für alle, die viel Nachdenken, intensive Auseinandersetzungen und Selbstsektion zu schätzen wissen und sich auf das Abenteuer der Autofiktion einlassen wollen.

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