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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.08.2018

Das Vermächtnis der Großeltern

Aus Opas Federhalter und Omas Handtasche
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„...Als mein Cousin Christoph vor etwa drei Jahren das kleine, unscheinbare Türchen unter der Dachschräge seines Elternhauses öffnete, ahnte noch niemand, welche Schätze dort seit Jahrzehnten unberührt ...

„...Als mein Cousin Christoph vor etwa drei Jahren das kleine, unscheinbare Türchen unter der Dachschräge seines Elternhauses öffnete, ahnte noch niemand, welche Schätze dort seit Jahrzehnten unberührt in der Dunkelheit der Dachkammer lagen...“

Mit diesen Zeilen beginnt die Autorin das Vorwort ihres Buches. Fotoalben, Tagebücher und der Inhalt der Handtasche der Großmutter aus dunkelblauen Leder erzählen die Geschichte einer Familie. Mit Hilfe der Fundstücke gestaltet die Autorin das Lebensbild ihrer Großeltern.
Am 11, Januar 1900 erblickte Alfred in Schlesien das Licht der Welt. Den Namen aber sollte er nur drei Tage tragen. Auf dem Standesamt wurde er als Arthur eingetragen. Wer genau wissen, will, wie es dazu kam, sollte das Buch lesen.
Sein Vater war Bergmann. Die Familie hatte eine Wohnung auf einem Bauernhof. Wenige Jahre später sollte Arthurs kleine Welt das erste Mal zerbrechen. Die Eltern ließen sich scheiden. Die Mutter zog mit den beiden Kindern zu ihren Eltern. Großmutter Ernestine konnte nur noch zwei Jahre für die Kinder da sein. Aber sie hat ihnen ein besonderes Erbe mitgegeben, was im folgenden Zitat zum Ausdruck kommt:

„...Doch Zeit genug, um Arthur und seinem Bruder Fritz das Samenkorn des Glaubens in ihr Herz zu legen, das sie ihr ganzes Leben lang tragen würde...“

Arthurs Kindheit und Jugend ist von Verzicht geprägt. Der begabte junge wird nie seinen Traumberuf lernen dürfen. Trotzdem geht er unverdrossen seinen Weg. Mit seinen Begabungen bringt er sich in der Kirchgemeinde ein. Ich erfahre, wie er seine zukünftige Frau Johanna kennenlernt. Die beiden bekommen vier Söhne. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs bleibt er Mensch, auch im Umgang mit den Zwangsarbeitern. Politische Themen spielen in der Familie keine Rolle. Dafür fühlen sie sich durch den Glauben auch in schwerer Zeit getragen.
Der Schriftstil lässt sich zügig lesen. Die große Schrift wirkt dabei angenehm. Als Besonderheit hat die Autorin die Tagebucheinträge des Großvaters und Briefe der Familie in die Geschichte eingefügt, natürlich in heutiger Schrift. Das gibt der Erzählung eine persönliche Note und ermöglicht mir als Leser einen Blick in die Gedankenwelt der Protagonisten. Der folgende Tagebuchausschnitt zeigt, dass Arthur über einen reichen Wortschatz und eine mit passenden Metaphern geschmückte Ausdrucksweise verfügte:

„...Der warmen Sonne Strahlen in ihrem hellen Schein schufen reine Freude in unsrer Brust. Der wolkenreine Himmel ließ gar nicht zu, dass man ihn hätte jemals grau und unfreundlich sich denken können...“

Doch auch ernste Themen und eine in die Tiefe gehende Auseinandersetzung mit dem Glauben finden sich in den Aufzeichnungen. So schreibt er:

„...Nicht passives Verhalten, sondern aktives Sein ist Leben. Nicht der Glaube allein führt vorwärts, sondern die Tat...“

In den Kriegs- und Nachkriegsjahren lebt die Familie das Geschriebene. Arthur denkt mit und verhindert so Unheil. Er bleibt selbst in Anfechtung seinen Überzeugungen treu.
War der Krieg schlimm, so wurde der Frieden furchtbar, denn plötzlich waren sie Fremde im eigenen Land. Schlesien gehörte ab sofort zu Polen. Positiv ist mir aufgefallen, dass zwar die Angst vor der Roten Armee thematisiert wurde, aber die Soldaten als Menschen dargestellt wurden, nicht nur als Sieger. Im Mittelpunkt standen positive Erfahrungen und Glaubenserlebnisse.
Zu besonderen Anlässen schreibt Arthur Gedichte. Sie zeugen von festem Glauben und Gottvertrauen, aber auch von gegenseitiger Liebe.
In der Mitte des Buches befinden sich Fotos, die den handelnden Personen ein Gesicht geben und das Buch sehr persönlich machen.
Im Anhang werden die ehemaligen deutschen Orte mit ihren heutigen polnischen Namen wiedergegeben.
Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es macht eine Zeit lebendig, die für uns Nachgeborene schon weit in der Ferne liegt. Es zeigt aber auch, wie sich die Lebensverhältnisse seitdem geändert haben. Das sollte man beim Lesen nicht aus den Augen verlieren, wenn einem das eine oder andere ungewöhnlich vorkommt. Wenn Arthur beschreibt, wie sie in ihrer neuen Heimat im Schwarzwald nach ihrer Ausweisung aus Schlesien aufgenommen wurden, dann sind Parallelen zu aktuellen Ereignissen augenfällig.

Veröffentlicht am 18.08.2018

Schicksale im Nordirlandkonflikt

Belfast Central
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„...Was hinter uns liegt und was vor uns liegt, sind Kleinigkeiten, verglichen mit dem, was in uns steckt...“

Wir schreiben das Jahr 1993. In Belfast macht Ryan ein Praktikum als Sanitäter. Eines Abends ...

„...Was hinter uns liegt und was vor uns liegt, sind Kleinigkeiten, verglichen mit dem, was in uns steckt...“

Wir schreiben das Jahr 1993. In Belfast macht Ryan ein Praktikum als Sanitäter. Eines Abends werden sie zu einem Einsatz im Bahnhof gerufen. Sie finden einen Verletzten. Doch ehe sie sich um ihn kümmern können, erscheint ein Polizist und erschießt Jarvis, Ryans Begleiter.. Ryan wird ebenfalls angeschossen. Dann aber ist der Polizist tot und Ryan erwacht im Krankenhaus. Wer war der Fremde, der ihm zu Hilfe kam?
Die Autorin hat einen fesselnden Thriller geschrieben. Die Geschichte wird in zwei Handlungssträngen erzählt. Erst am Ende zeigt sich, das die Vorgänge am Bahnhof ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben und wie schnell Freund zu Feind werden kann.
Ryan lassen die Vorgänge keine Ruhe. Auch die Warnung eines Polizisten kann ihn nicht von seinen Nachforschungen abbringen. Er stößt auf Adam, einen Schriftsteller. In dessen Heimatort will er mehr über ihn erfahren. Doch Adam hat Downpatrick 1932 verlassen und nie wieder betreten.
In Belfast treffen Ryan und Adam aufeinander. Diese Begegnung wird Ryans Leben grundlegend verändern.
Der Schriftstil lässt sich gut lesen. Er unterstützt die spannende Handlung. Einerseits erfahre ich, was 1993 geschieht und was hinter den Ereignissen am Bahnhof steckt, andererseits erzählt Adam Ryan nach und nach seine Lebensgeschichte. Gleichzeitig zeichnet die Autorin ein detailliertes Bild der Machtkämpfe zwischen Protestanten und Katholiken in Belfast. Dabei wird deutlich, dass es zwar auf beiden Seiten Friedensbemühungen gab, die aber dann konsequent von den eigenen Leuten boykottiert wurden. Es ist bitter, wenn eine Mutter am Grab ihrer Tochter, die in Gewaltdelikte verstrickt war, sagt:

„...Rache? Was hat Rache uns denn je gebracht – außer Tote?...“

Adam und Elaine erfahren beim Tod des katholischen Pfarrers, dass sie dessen unehelichen Kinder waren. Sie verlassen das Elternhaus und den Stiefvater. Deutlich wird dabei, dass Elaine die Planvollere ist und sich konkrete Gedanken über das Weiter gemacht hat. Nach und nach wird Adam ohne sein Wollen in die politischen Auseinandersetzungen eingebunden. Er hat keine Chance, sich aus daraus zu lösen. Das beweist das folgende Zitat.

„...Vergiss nie, wer dich füttert. Wenn ich dir und deiner Schwester heute den Geldhahn zudrehe, seid ihr nächste Woche verhungert...“

Bald zeigen sich Parallelen zwischen dem Leben von Adam und Ryan. Letzterer lehnt Waffen und Gewalt ab, wird aber nicht nur durch Adams Erzählungen mit den Auseinandersetzungen vertraut gemacht. Auch in seiner WG bahnen sich ungute Entwicklungen.
Das Geschehen der Vergangenheit war für mich der spannendere Teil. Hier wird klar, mit welch subtilen Methoden junge Leute für den Kampf rekrutiert worden. Wenn die Gewaltspirale einmal begonnen hat, ist es schwierig, sie zu stoppen.
Am Schluss werden alle losen Fäden zusammengeführt.
Eine Landkarte und ein Blick in die Geschichte Irlands ergänzen die Handlung.
Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es enthält nicht nur wesentliche Fakten über historische Zusammenhänge, es zeigt auch, wie tief die Auseinandersetzung in das persönliche Leben der Protagonisten eingegriffen hat. Mit einem nachdenkenswerten Zitat möchte ich meine Rezension beenden.

„...Es gibt nur zwei Tragödien im Leben. Die eine besteht darin, dass man nicht bekommt, was man sich wünscht, und die andere darin, dass man es bekommt...“

Veröffentlicht am 16.08.2018

Schöne Tiergeschichten

Geschichten aus dem Fuchswald
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„...Er wurde berühmt für eine besondere Limonade, die er nach eine geheimen Rezept herstellte. Als er starb, wurde der Gasthof geschlossen und das Rezept wurde niemals gefunden...“

Willi Igel lebt in ...

„...Er wurde berühmt für eine besondere Limonade, die er nach eine geheimen Rezept herstellte. Als er starb, wurde der Gasthof geschlossen und das Rezept wurde niemals gefunden...“

Willi Igel lebt in einem Dörfchen am Rande des Fuchswaldes. Als er sich langweilt, schickt ihn seine Mutter zum Großvater. Unterwegs trifft er Mäxchen Maus und Ricky Kaninchen. Sie begleiten ihn. Beim Großvater erfahren sie, das unbedingt ein neuer Gemeindesaal gebraucht wird. Doch es fehlt an Geld. Großvater Igel schickt die Tierkinder in die Bibliothek. Sie sehen zwar nicht ein, was sie dort sollen, machen sich aber auf den Weg. In einem alten Buch finden sie Informationen über Baron Fuchs. Das Eingangszitat enthält sie. Also machen sich die Drei auf den Weg zum ehemaligen Gasthaus, um nach den geheimnisvollen Rezept zu suchen.
Das Buch enthält vier spannende Tiergeschichten. Die obigen Ausführungen beziehen sich auf den Beginn der ersten Erzählung.
Der Schriftstil ist kindgerecht. Das Besondere ist, dass der Großteil der Handlungen immer in Gesprächen vermittelt wird. Dazwischen gibt es nur wenige beschreibende Sätze. Alle vier Geschichten sind inhaltsreich. Es geht um Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Zusammenarbeit.
Die vielen farbigen Zeichnungen veranschaulichen die Handlung. Sie fehlen auf keiner Seite, sind sehr naturgetreu und anschaulich.
Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es eignet sich zum Vorlesen, aber auch für Erstleser.

Veröffentlicht am 14.08.2018

Eine besondere WG

Alle für einen
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„...Nach ihrem Verständnis war Unordnung kein Zeichen fehlender Disziplin, sondern Ausdruck geistiger Unabhängigkeit...“

In der Villa Zucker gibt es Probleme. Eigentlich sollte sie von ihren Besetzern ...

„...Nach ihrem Verständnis war Unordnung kein Zeichen fehlender Disziplin, sondern Ausdruck geistiger Unabhängigkeit...“

In der Villa Zucker gibt es Probleme. Eigentlich sollte sie von ihren Besetzern schon lange gekauft sein, aber die Verhandlungen ziehen sich hin. Plötzlich ist nichts mehr sicher.
Die Autorin hat einen amüsanten Gegenwartsroman geschrieben. Nach einem Immobilienbetrug haben die Betrogenen Villa Zucker besetzt.Bei diesem Buch handelt es sich um den dritten Teil der Geschichte. Obwohl ich die anderen Bände nicht kenne, war ich schnell in der Handlung drin. Wichtige Informationen werden mir im Laufe des Geschehens geliefert.
In der WG lebt die 71jährige Rosa mit ihrer Tochter Ellen und der 14jährigen Enkelin Kim, Hans Seefeld, momentan Physiklehrer, aber eigentlich Major der Bundeswehr, und Konrad, der 30 Jahre seines Lebens im Knast verbracht hat. Jeder von ihnen hat seine Stärken und Schwächen. Das Eingangszitat stammt von Rosa. Kim ist mit Samu befreundet, der eine finnische Mutter und einen japanischen Vater hat. Allerdings lebt seine Mutter nicht mehr. Außerdem gehört zu ihnen seit kurzem Tarik, der nur deshalb dem Jugendknast entgangen war, weil er Seefeld als außerfamiliären Betreuer akzeptiert hat. In Samus Familie lebt Mardi, ein junger Schwarzafrikaner ohne Familie, den Samus Vater aufgenommen hat.
Der Schriftstil lässt sich angenehm lesen. Er passt sich variabel dem Handlungsverlauf an. Es gibt ernste Phasen, aber auch amüsante Abschnitte. Die Personen werden gut charakterisiert. Die Beschreibung Seefelds liest sich aus Mittmanns Mund so:

„...Er ist zwar schwierig im Umgang, weil er viel denkt und wenig redet und man deshalb oft nicht weiß, woran man mit ihm ist.Aber das er heimlich verschwindet, um einem unbequemen Versprechen zu entkommen, das glaube ich niemals...“

Doch nicht nur Seefeld verschwindet. Auch Tarik geht nach der Entlassung seines Vaters und den damit verbundenen familiären Problemen eigene Wege und ist nicht mehr auffindbar. Kim, Mardi und Samu wollen ihn allerdings helfen und setzen alle Hebel in Bewegung, um ihn zu finden. Dabei bekommen sie völlig unerwartete Hilfe.
Währenddessen hat Rosa die Idee, einen Basar für die Flüchtlingshilfe zu organisieren. Ihr Freund Roland Stettin hat ihr das in seinem Heimatort vorgemacht. Während Rosa kein Typ für Haus- und Gartenarbeit ist, bringt sie sich in die Organisation des Basars voll ein. Der Ruhepunkt in der Hektik es Alltags ist Konrad. Er sogt für das Essen und ist immer ansprechbar. Dass er selbst Kummer hat, kann er lange gekonnt überspielen.
Der Roman zeigt, wie jeder sich nach seinen Fähigkeiten einbringt. Freundschaft, Zusammenarbeit und Toleranz helfen, die auftretenden Fragen zu klären. Doppersen, Insolvenzverwalter und als solcher für die Villa zuständig, bekommt schnell zu spüren, dass er die WG gründlich unterschätzt hat und dass die sich nicht über den Tisch ziehen lassen. Für Ellen ergibt sich beim Beobachten des Gesprächs folgendes Bild:

„...Ellen blickte Mittmann überrascht an, aber der gehörte nun auch zur Fraktion der Pokergesichter. Vermutlich eine branchenübergreifende Berufskrankheit bei Soldaten, Anwälten und Kriminalbeamten...“

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es ist schön zu lesen, wie jede Generation zeitweise ihren eigenen Weg geht, aber bei gemeinsamen Sorgen alle zusammenstehen.

Veröffentlicht am 12.08.2018

Ungewöhnlicher Schriftstil

Das Sacher
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„...Der Tod, geschmeidig, etwas zu dünne Glieder im schwarzen Anzug, eine erkaltete Zigarette im Mundwinkel, streifte umher, durchaus nicht ziellos.
Sie, die Liebe, bewegte sich kokett am Lärm und Schmutz ...

„...Der Tod, geschmeidig, etwas zu dünne Glieder im schwarzen Anzug, eine erkaltete Zigarette im Mundwinkel, streifte umher, durchaus nicht ziellos.
Sie, die Liebe, bewegte sich kokett am Lärm und Schmutz der großen Stadt vorbei ins goldene Licht des Vestibüls im Hotel de l`Opera, das in wenigen Jahren „Sacher“ heißen würde...“

Wir schreiben den 28. November 1892. Im Hotel l`Opera kommen Martha und Maximilian Aderhold an. Das junge Paar hatte vor wenigen Tagen einen Verlag in Berlin gegründet.
Im gleichen Hotel wohnen Prinz und Prinzessin von Traunstein. Die junge Prinzessin und Martha wechseln einen Blick.
Eine Etage obendrüber sitzt Franz Sacher am Bett seines Sohnes. In wenigen Stunden wird er seinen Sohn und Anna Sacher ihren Mann verlieren.
Die 11jährige Marie Stadler arbeitet im Hotel. Sie wird an diesem Abend verschwinden. Alle Suche bleibt ergebnislos.
Die Autorin hat einen beeindruckenden historischen Roman geschrieben. Die obige Einführung stellt die wichtigsten Personen der Handlung vor. Doch das Besondere des Buches ist nicht nur der Inhalt, sondern vor allem der Schriftstil. Der hat mich sofort in seine Bann gezogen.
Das Eingangszitat stammt aus dem Prolog. Es stellt zwei Protagonisten vor, die wie eine roter Faden immer wieder im Handlungsverlauf auftauchen, dann eher wie Zuschauer wirken und doch unsichtbar, aber entscheidend in die Handlung eingreifen. Liebe und Tod sind die wesentlichen Akteure der Geschichte.
Anna Sacher gelingt das Unwahrscheinliche. Sie darf als Frau das Hotel weiterführen. Sie wird es einige Jahre später umbenennen. Welchen Rang sie in Wien erreicht, kommt in dem folgenden Zitat zum Ausdruck:

„...Russisch, Polnisch, Tschechisch, Serbisch, Ungarisch, Österreichisch, Jiddisch. Wien war der Schmelztiegel. Und im Sacher kam zusammen, was sich im Vielvölkerstaat Österreich argwöhnisch auf Abstand hielt....“

Über die Verstrickungen und komplexen Beziehungen zwischen Martha, Maximilian und den Ehepaar von Traunstein möchte ich nicht näher eingehen. Sie ermöglichen aber der Autorin, die historischen Veränderungen zu thematisieren. Bis 1918 darf ich die Lebensläufe der Protagonisten verfolgen. Deutlich wird, wie sich diese Generation von den Anschauungen der Eltern abkoppelt und eigene Wege geht.
Die Autorin gliedert das Buch in drei große Abschnitte: der Tod, das Leben, die Liebe. Dazwischen werden ab und an ein paar Jahre ausgespart. Es ist eine Ironie der Handlung, dass gerade im letzten Teil der Tod die Hauptrolle spielt, denn es sind die Jahre des Ersten Weltkrieges.
Politische Diskussionen spielen genauso eine Rolle wie das Thema Literatur.
Der Schriftstil ist sehr detailliert. Handlungsschritte folgen logisch aufeinander. Dialoge sind gekonnt ausgearbeitet und vielschichtig. Manchmal sind es fast philosophische Inhalte, die besprochen werden. Das folgende Zitat steht als Beispiel dafür:

„...Der Frieden scheint niemanden zu interessieren, wenn Frieden ist...“

Es ist eine Zeit voller Widersprüche. Genau das wird durch den Handlungsverlauf deutlich. Ewiggestrige treffen auf junge Leute mit neuen Gedanken. Die Frauen wollen eigene Wege gehen und stellen sich gegen alte Zöpfe. Die Jahrhundertwende birgt Hoffnung und trägt doch schon den Keim des Krieges in sich.
Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Ein Zitat möge meine Rezension beenden, dessen erster Satz bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat:

„...Kein Problem hat sich je durch einen Krieg gelöst! Und die europäischen Staaten stehen sich wie Raubtiere gegenüber...“