Generationengeschichte
Damals, am Meer„Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich nicht mit meinem Vater gesprochen hatte. Ich glaube sogar, es war das erste Mal überhaupt. Vielleicht, weil wir noch nie in einer Sternennacht im Gebirge spazieren ...
„Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich nicht mit meinem Vater gesprochen hatte. Ich glaube sogar, es war das erste Mal überhaupt. Vielleicht, weil wir noch nie in einer Sternennacht im Gebirge spazieren gegangen waren. Vielleicht, weil wir jetzt weniger Vater und Sohn als vielmehr zwei Männer waren. Allein mit der Dunkelheit und der Angst vor der Abwesenheit Gottes.“ (Zitat)
Ein leiser, zarter Roman über drei Generationen, über „Heimat“, eine Wohnung am Meer und zwischenmenschliche Distanz.
Seit Ewigkeiten lebt die Familie Russo in Mailand, einst dorthin gezogen in die Großstadt, weit weg aus dem kleinen Dorf nahe dem Meer. Nun, nachdem sich jahrelang niemand um die Wohnung gekümmert hat, steht der Verkauf selbiger an. Großvater Leonardo, liebevoll Babbo genannt, ehemaliger Kommunist, verspürt tiefen Herzschmerz. Für ihn ist die Wohnung ein Stück Heimat, das er zurücklassen musste; ein Gefühl, das tief vergraben war, aber nie weg. Für Riccardo, Leonardo’s Sohn und Vater von Nicolà, ist die gefühlte Verbindung zu dieser Wohnung eine andere. Für ihn führte diese zum Zerfall und stetigem Streit unter den Geschwistern. Für Nico, arbeitssuchenden Lehrer, ist es die Wohnung, die er in den Ferien besuchte, wo er seine Freizeit verbringen durfte und die Zeit mit Großeltern und Freunden verbrachte. So unterschiedlich jedoch die Gemütszustände und Gefühle der Drei zur Wohnung sind, so stark ist trotzdem ihre Verbindung dadurch zueinander.
Die Wohnung wurde zurückgelassen, als man sich in den wirtschaftlich besseren Norden aufmachte, um dort ein besseres Leben zu genießen. Eines Tages ist es soweit, die Wohnung verfällt langsam, soll verkauft werden und dem sentimentalen Denken ein Ende gemacht werden. Und so machen sich die drei auf die Reise von Mailand nach Barletta/Apulien. Für Nico ist Großvater Leonardo sein Held, ein großer Krieger. Bei ihm und seiner Großmutter hat er dort viel Zeit verbracht, daher will er auch mitfahren nach Apulien – und, um seinen Vater zu ärgern. Auf diese Reise lernen die drei auch sehr viel über sich selbst, kommen sich selbst auch näher, streiten und trauern gemeinsam.
Balazano hat hier wieder tolles geschaffen. Eine gefühlvolle Geschichte, leise und doch ausdrucksstark. Hier wird beim Lesen schnell klar, dass Balzano die Reise sowie die Wohnung als Metaphern benutzt, als Symbole für Erinnerungen, Vater-Sohn-Beziehungen, dem Gefühl von Heimat und Lebensveränderungen bzw. Erfahrungen. Er beschreibt die Heimatlosigkeit, das Auseinanderleben der Familie. Der Verfall der Wohnung ist ein Symbol für den Zerfall der Familie. Die Leben und die damit verbundenen Veränderungen, die in Barletta von Statten gingen, als Leonardo weg war. Früher noch Herr der Gassen, heute teilweise nicht mehr erkannt. Zu lange war er weg.
..
Marco Balzano hat hier wieder kluges vollbracht. Eine Generationengeschichte, pointiert, herrlich ehrlich, klar, laut & leise und doch auch zurückhaltend, authentisch und sehr unterhaltsam. Ein Buch über das Loslassen von nostalgischen Erinnerungen, den Verlust von anderen und von Heimat. Ein Buch, das ins Herz geht. Leseempfehlung!
..
„Es handelte sich um Sand von vor zwanzig Jahren, er war noch nicht zerfallen und verschwunden. Das wären die richtigen Körnchen gewesen, die Atome, damit hätte ich die Sanduhr meiner Zeit füllen können. Mit der festgebackenen Erde meiner Kindheit.“ (Zitat)