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Veröffentlicht am 04.02.2020

Janna Steenfatt - Die Überflüssigkeit der Dinge

Die Überflüssigkeit der Dinge
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Sie sind kein Liebespaar, aber auch mehr als die typische WG. Als Ina sich bei Falk das zu vermietende Zimmer ansieht, wissen sie sofort, dass sie zueinander passen. Der introvertierte Falk und die planlose ...

Sie sind kein Liebespaar, aber auch mehr als die typische WG. Als Ina sich bei Falk das zu vermietende Zimmer ansieht, wissen sie sofort, dass sie zueinander passen. Der introvertierte Falk und die planlose Mitzwanzigerin, die zwar ihr Studium beendet, aber keinerlei Zukunftspläne hat. In Hamburg streifen sie durch die Nachtszene bis Inas Mutter, zu der das Verhältnis immer schwierig war, unerwartet stirbt und Ina von der Vergangenheit eingeholt wird. Doch nicht so sehr die Trauer ist es, die sie überwältigt, sondern die Erkenntnis, wer ihr Vater ist und dass dieser womöglich gar nichts von ihrer Existenz weiß. Doch just in diesem Moment kommt der Regisseur in die Stadt und so tut sich für Ina die Chance auf, ihm am Theater näherzukommen. Als Küchenkraft beäugt sie ihn aus der Ferne, wie immer schon in ihrem Leben, auf den richtigen Moment wartend, um ihn zu konfrontieren.

Es ist nicht leicht, Ina sympathisch zu finden, nein, eigentlich ist es sogar ausgesprochen schwierig, die junge Frau zu verstehen und zu mögen. Janna Steenfatt hat einen komplexen Charakter geschaffen, dem zwar jedes Charisma fehlt und der auch für die anderen Figuren kaum liebenswert erscheint, der jedoch aus psychologischer Sicht durchaus seinen Reiz hat. Schon als kleines Kind leidet sie unter ihrer dominanten Mutter, die als Schauspielerin immer die öffentliche wie auch private Anerkennung und Bewunderung sucht. Besonders ausgeprägt sind ihre mütterlichen Instinkte nicht, was in einer emotionalen Vernachlässigung des Kindes endet. Auch die Tatsache, dass sie Vater und Tochter die gemeinsame Beziehung vorenthält, ist eine egoistische Entscheidung mit weitreichenden Folgen.

Ina internalisiert den Wunsch zu gefallen, es ihr Recht zu machen, was ihr jedoch kaum gelingt, mehr als süffisante Verachtung hat ihre Mutter selten für sie übrig. Als Erwachsene ist ihre Persönlichkeit durch Unentschlossenheit und Unsicherheit geprägt, dies geht so weit, dass sie einen Job weit unter ihrer Qualifikation annimmt. Beziehungen und Freundschaften gibt es nicht wirklich in ihrem Leben, mit Falk verbindet sie ein eigenartiges Band, beide sind introvertiert und gehen ungern auf andere zu. Auch der Beziehungsversuch mit der Schauspielerin Paula scheitert kläglich. Liebe ist für sie nichts, das einfach geschieht und dann gedankenlos gelebt werden kann, was dann letztlich auch erwartungsgemäß zu großen Problemen führt.

„Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist ein endloses Warten darauf, dass das Leben irgendwann beginnt. Das Leben, das die Figuren eigentlich leben wollen. Bis dahin leben sie eben ein anderes, fremdes, das sie sich nicht selbst ausgesucht haben, sondern eines, das sie gefunden hat. Ein sperriger Roman, der auch im Leser einiges bewegt, nicht einfach zu fassen bleibt und an dem man sich reibt, wenn nicht gar aufreiben kann.

Veröffentlicht am 02.02.2020

Pascal Mercier - Das Gewicht der Worte

Das Gewicht der Worte
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Und plötzlich ist nicht nur der Körper gelähmt, sondern auch die Stimme ist weg. Er kann die Worte nicht mehr sagen, die doch sein Leben bedeuten. Der Engländer Simon Leyland kommt in Triest in die Klinik, ...

Und plötzlich ist nicht nur der Körper gelähmt, sondern auch die Stimme ist weg. Er kann die Worte nicht mehr sagen, die doch sein Leben bedeuten. Der Engländer Simon Leyland kommt in Triest in die Klinik, doch die Hoffnung, dass der Anfall nur eine Migraine accompagnée sei, wird durch den untrüglichen Blick des Arztes zunichtegemacht. Da ist etwas in seinem Kopf, dass da nicht hingehört und mehr als ein paar Monate werden dem Verleger und Übersetzer nicht mehr bleiben. Er erinnert sich zurück an die Zeit mit seiner Frau Livia, als sie mit den Kindern in London wohnten, dann nach dem Tod von Livias Vater und der Übernahme seines Verlages nach Triest kamen, einer seiner Sehnsuchtsstädte, denn als Junge schon stand Simon vor einer Karte und beschloss, alle Sprachen zu lernen, die rund um das Mittelmeer gesprochen werden und nun sollte er direkt an dieses ziehen. Mit der Diagnose jedoch geht das Leben, wie er es kannte zu Ende. Womöglich jedoch ist da aber noch ein Fünkchen Hoffnung darauf, dass er eine Chance auf ein zweites bekommt und jemand zu ihm sagt „Welcome home, Sir!“.

Pascal Mercier, schriftstellerisches Pseudonym des Schweizer Philosophen Peter Bieri, ist ein Virtuose im Umgang mit Worten. Sein aktueller Roman ist eine Hommage an alle Liebhaber der Literatur und Linguistik, denn im Zentrum der Gedanken seines Protagonisten stehen die Worte mit ihren Bedeutungen, Konnotationen und den Emotionen, die sie auslösen, sowie die Frage, ob man den Gedanken einer Sprache adäquat auch in einer anderen wiedergeben kann und wo sich letztlich die Grenze der Sprache befindet. Es ist eine Reise durch die Literatur und die Sprachen des Mittelmeerraums, die eingebunden ist in eine Handlung voller Schmerz, Trauer und Hoffnung gleichermaßen.

Man kann den Inhalt kaum angemessen zusammenfassen, einerseits ob der Fülle der Gedankengänge, die sich um die perfekte Übersetzung und den vollkommenen Ausdruck drehen, andererseits ohne einen wesentlichen Aspekt der Handlung vorwegzunehmen, der für Leyland essentiell werden wird. Es gibt ein Vorher, vor dem Anfall, als sein Leben geprägt ist durch Jagd nach Worten und von Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, denen allerlei fremde Worte eigen sind und die sie mit ihm teilen. Es gibt aber auch ein Danach, als plötzlich die Menschen viel mehr in seinen Blick geraten und aller Fatalität zum Trotz immer ein Neubeginn möglich scheint.

Den knapp 600 Seiten langen Roman liest Markus Hoffmann in über 22 Stunden mit einer leisen und prononcierten Stimme, die hervorragend als Erzählstimme von Simon Leyland gewählt ist. So gerne man ihm zuhört, liegen hier aber für mich auch die einzigen beiden Kritikpunkte: ich hätte mir gewünscht, dass seine fremdsprachigen Einwürfe ebenso flüssig klingen wie die deutsche Stimme, aber leider wirken sein Englisch wie auch sein Italienisch oder das portugiesische Vorwort sehr angestrengt und bemüht. So sehr mich der Roman begeisterte und ich den mäandernden Überlegungen Leylands folgte, so ist das Hörbuch doch etwas zu lange und irgendwann wünscht man sich doch ein etwas zielgerichteteres Erzählen ohne die zahlreichen Wiederholungen bereits geschilderter Episoden.

Veröffentlicht am 01.02.2020

Amaryllis Fox - Life Undercover

Life Undercover
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Jeder kennt sie, die Bücher und Filme über die Agenten, die für CIA, MI6, DGSE oder Mossad gefährliche Aufträge ausführen und die Welt vor den Schurken bewahren. Doch die schillernden Figuren der Unterhaltungsindustrie ...

Jeder kennt sie, die Bücher und Filme über die Agenten, die für CIA, MI6, DGSE oder Mossad gefährliche Aufträge ausführen und die Welt vor den Schurken bewahren. Doch die schillernden Figuren der Unterhaltungsindustrie zeigen nur die eine Seite, auf der sie stark und unverwundbar sind und von einem Kampf in den nächsten ziehen. Ihre Zweifel sieht man selten und noch viel weniger weiß man darüber, wo sie herkommen und wie sie zu dem geworden sind, was uns beim Zusehen so fasziniert. Amaryllis Fox ist eine von ihnen, ein Jahrzehnt ihres Lebens hat sie in den Dienst der CIA gestellt, geheime Missionen unternommen, um ihr Land vor Anschlägen zu schützen. Ein Leben mit fremden Identitäten, die sie selbst vor ihrer Familie und Partner geheim halten musste.

„Einen Garten anzulegen ist der höchste Akt des Glaubens an ein Morgen.“

Dieses Zitat, das die Agentin schon als kleinen Mädchen an einem Schild im Nachbarsgarten gelesen hat, bringt ihre Motivation auf den Punkt: sie will die Welt ein bisschen besser machen, ihren Beitrag zum Frieden leisten. Sie wächst auf zwischen den USA und Großbritannien, der Vater ist beruflich viel unterwegs und Umzüge alle paar Jahre gehören zum Alltag. Schon früh beginnt sie sich für Politik zu interessieren und eine Schulaufgabe über Aung San SUU Kyi, damals gewaltfreie Kämpferin für die Demokratie in ihrer Heimat Myanmar, wird bestimmend für den Weg sein, den sie einschlägt.

Es braucht die Erzählung über ihre Kindheit und Jugend, um zu verstehen, weshalb Amaryllis Fox sich für diese Karriere und gegen die Arbeit bei Hilfsorganisationen entscheidet. Die Ausbildung ist intensiv und anstrengend, immer überschattet von der Angst, doch noch aussortiert zu werden, es nicht zu schaffen, den Anforderungen nicht zu genügen. Und doch können diese Monate und Jahre sie nicht auf das echte Leben vorbereiten, wenn plötzlich Beruf und Privatleben – und in ihrem Fall auch noch ein Kind – unter einen Hut gebracht werden müssen.

Fox schildert die Seite, die sonst verborgen bleibt. Die Angst, die omnipräsent ist und drohend über ihr und ihrer Familie schwebt. Sie stellt ihr Tun auch infrage und im Laufe der Jahre, insbesondere nachdem sie Mutter geworden ist, nehmen menschliche Aspekte zunehmend mehr Raum bei der Beurteilung einer Lage ein. Es ist ein Bericht aus dem Innersten der CIA, sie gibt Einblick in strategische Denkweisen und die bisweilen zermürbende Detailarbeit, die zu dem Job gehört, der in der Realität viel weniger glamourös ist als auf der Leinwand.

Sicherlich ist Amaryllis Fox eine ungewöhnliche Frau, mit nicht einmal zwanzig Jahren wurde sie rekrutiert und gehört allein schon wegen ihres Geschlechts zu einer absoluten Minderheit. „Life Undercover“ sind eine Art Memoiren, die keine Abrechnung mit dem Geheimdienst sind; sie hat sich aus nachvollziehbaren Gründen für diese Arbeit entschieden und daran ändern auch Jahre mit falscher Identität nichts. Ihre analytischen Fähigkeiten erlauben es ihr auch hier Emotionen unter Kontrolle zu halten, die sie in der Zusammenarbeit mit ausländischen Informanten braucht, um Beziehungen und Vertrauen aufzubauen, die bisweilen ihr einziger Schutz sind.

Spannende Einblicke in die Arbeit der CIA, die jedoch viel mehr die interessante Frage danach beantwortet, was diese mit den Menschen macht als dass spektakuläre Geheimnisse offenbart würden.

Veröffentlicht am 27.01.2020

Lisa Taddeo - Three Women – Drei Frauen

Three Women – Drei Frauen
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Drei Frauen, drei Geschichten, drei Schicksale. Über viele Jahre hinweg hat Lisa Taddeo sie begleitet, immer mehr über sie erfahren, Urteile gelesen und sie letztlich zum Inhalt ihres Buchs gemacht. Maggie ...

Drei Frauen, drei Geschichten, drei Schicksale. Über viele Jahre hinweg hat Lisa Taddeo sie begleitet, immer mehr über sie erfahren, Urteile gelesen und sie letztlich zum Inhalt ihres Buchs gemacht. Maggie ist noch minderjährig als sich ihr Lehrer ihr zuwendet. Zunächst ist es nur die Aufmerksamkeit, die sie bei ihren alkoholsüchtigen Eltern nicht erhält, bald schon glaubt sie in ihn verliebt zu sein und kurz danach verfällt sie ihm völlig und gibt sich in totale Abhängigkeit. Lina wird als junges Mädchen Opfer einer K.O. Tropfen Vergewaltigung, doch statt dass sie Mitleid bekäme, wird sie beschimpft und geächtet. Viele Jahre später findet sie sich in einer toxischen Beziehung wieder, aus der sie aufgrund ihrer emotionalen Abhängigkeit und Blindheit nicht mehr herauskommt und auch nicht heraus will. Auch Sloane trägt seit ihrer Jugend Dämonen in sich, die sie viele Jahrzehnte begleiten werden und die sie lange davon abhalten zu erkennen, wer sie ist und was sie braucht, um glücklich zu sein.

Häppchenweise werden die Geschichten der drei Frauen präsentiert, immer wieder wird dadurch die Erzählung unterbrochen, was jedoch sehr gut passt, um zu unterstreichen, dass es sich nicht um Episoden, sondern um bisweilen jahrelange Martyrien handelt. Was Taddeo besonders gut gelungen ist, ist das Gedankenkonstrukt, in dem alle drei gefangen sind, ein Gefängnis, das sie sich selbst geschaffen haben und aus dem es kein Entkommen gibt. Sie sind intelligent, auch oftmals reflektiert, aber dennoch können sie nicht wie der Leser als Außenstehender ihre Lage erfassen und so handeln, wie es für ihre psychische und auch physische Gesundheit gut wäre.

Für mein Empfinden ist der Klappentext irreführend. Die drei Geschichten sind keine Schilderungen von Begehren und Lieben, sondern ganz im Gegenteil: die dargestellten Beziehungen sind auf Macht und Machtmissbrauch aufgebaut, emotional wie körperlich wird die Abhängigkeit - sei es wegen des Lehrer-Schülerinnen-Verhältnisses, wegen der einseitigen Zuneigung oder der stärkeren psychischen Konstitution – von den Männern ausgenutzt. Zwar glauben alle drei Frauen zu lieben, sind dankbar für jede Minute, die der Mann ihnen schenkt, für jede noch so abfällige Bemerkung, die sie sich als Zuneigung umdeuten, die Grundvoraussetzungen der Liebe sind jedoch nie gegeben. Es sind keine Beziehungen auf Augenhöhe, keine Ausgewogenheit der Machtverhältnisse und ganz offenkundig ist den Männern ihr Wohlergehen ziemlich egal. Ganz besonders bitter: die gesellschaftlich-soziale Komponente: die Frauen werden durch das Umfeld ein zweites Mal zum Opfer bzw. sogar zum Täter und böswilligen Lügner und Verbreiter falscher Anschuldigungen gemacht.

Die Bandbreite der Kritiken könnte kaum größer sein, von fulminanter Begeisterung bis totalem Zerriss findet sich so ziemlich jede Stimme zu dem Buch. Einige Kritikpunkte kann ich nachvollziehen, die Autorin hat nur weiße heterosexuelle Frauen portraitiert, hier klafft sicher eine große Lücke, wenn sie umfassend toxische Beziehungen darstellen wollte. Sie wird oft sehr explizit in ihrer Darstellung, ob dies unbedingt immer erforderlich ist, sei dahingestellt, auch erscheint die positive Beschreibung einiger Handlungen bisweilen etwas unpassend, auch wenn die betroffenen Frauen sie in diesem Moment so empfunden haben mögen. Andererseits wirkt alles auf mich authentisch und es werden ganz klar die Widersprüche auch innerhalb der Frauen, aber besonders die Folgen, die diese Erlebnisse für sie haben, aufgezeigt.

Nach inzwischen mehreren Jahren #metoo Debatte und zahlreichen prominenten Gerichtsverfahren stellt sich jedoch schon die Frage, welchen Beitrag dieses Buch zu den spezifischen Anliegen der Frauen liefert. Für mich ist es nicht das Buch mit der großen neuen Erkenntnis, aber ganz sicher ein lesenswertes Steinchen in dem Gesamtbild, das nochmals unterstreicht, dass die Welt überwiegend aus Grautönen in zahlreichen Schattierungen besteht und ganz sicher nicht aus schwarz und weiß. Und manchmal lohnt es sich einfach, wenn auch bekannte Fakten nochmals wiederholt werden.

Veröffentlicht am 26.01.2020

Marion Messina – Fehlstart

Fehlstart
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Das Abitur bestanden, steht ihr die Welt im egalitären Frankreich offen. Sie weiß, wofür sie all die Jahre hart gearbeitet hat, doch dann muss Aurélie Lejeune eine herbe Enttäuschung nach der anderen erleben. ...

Das Abitur bestanden, steht ihr die Welt im egalitären Frankreich offen. Sie weiß, wofür sie all die Jahre hart gearbeitet hat, doch dann muss Aurélie Lejeune eine herbe Enttäuschung nach der anderen erleben. Das Jurastudium an der Universität von Grenoble ist uninspiriert, mit ihren Kommilitonen verbindet sie nichts und zunehmend begreift sie sich als Außenseiterin. Mit den kolumbianischen Austauschstudenten scheint sie viel mehr zu verbinden und in Alejandro, den sie bei ihrem Nebenjob als Putzfrau kennenlernt, verbindet sie bald schon eine innige Liebe. Doch als dieser der Enge der Kleinstadt entflieht, fällt auch Aurélies Leben in sich zusammen, es stand ohnehin nur auf tönernen Füßen. In Paris hofft sie auf einen Neuanfang und die Realisierung ihrer Träume, die sie eigentlich schon gar nicht mehr hat. Sie will ihre soziale Herkunft als Kind einer Arbeiterfamilie hinter sich lassen, sieht sich bald aber schon einer viel prekäreren Situation ausgesetzt als ihre Eltern es jemals erlebt hatten.

In ihrem Debutroman stellt Marion Messina gleich mehrere Mythen ihres Heimatlandes infrage. An ihren jungen Protagonisten zeigt sie auf, dass das voller Versprechen begonnene Leben sich oftmals anfühlt, als sei es schon vorbei, bevor es überhaupt begonnen hat, wie die ungeliebte B-Seite einer Schallplatte, die niemand hören will und die nur die Aufgabe hat, einen eben noch vorhandenen Platz zu füllen, an die jedoch nicht die geringsten Erwartungen gestellt werden. Wofür soll man in dieser Existenz kämpfen? Die Wirtschaftskrise von 2008, die ganz Europa unerwartet und heftig packte, hat vor allem die Jungen und Gebildeten getroffen, die sich nach jahrelanger Mühe um beste Startchancen um ihr Leben betrogen sahen, ein klassischer „Fehlstart“, sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort.

Messina zeichnet ein erbarmungsloses Portrait einer Gesellschaft und einer Generation, das wenig Mut und Hoffnung macht. Wo sich Alejandro einer omnipräsenten Xenophobie in einem sich selbst als weltoffen und tolerant wahrnehmenden Land ausgesetzt sieht, fühlt sich Aurélie aufgrund ihrer sozialen Herkunft ausgeschlossen, sie kennt die Codes der Kleidung, des Verhaltens und der Sprache nicht und ihre Eltern sind schon lange nicht mehr in der Lage, sie zu unterstützen. Sie soll doch mit dem bescheidenen Dasein, wie sie es selbst führen, zufrieden sein. All die Bemühungen und der Verzicht werden sich nicht auszahlen, das elitär organisierte Land hat keinen Platz für Emporkömmlinge. Das muss auch Benjamin erkennen, der einzige Freund, den Aurélie in der 12 Millionen Metropole gefunden hat und der nach jahrelangem Ackern bereit ist, aufzugeben und in die Provinz zurückzukehren.

Insbesondere das Bild der Arbeitswelt, in der die Angestellten in den niedrigen Positionen nicht nur schnell austauschbar sind, sondern die durch vorgegebene Kleidung, Make-up und Phrasen auch austauschbar wirken und dafür mit dem Mindestlohn abgespeist werden, der kaum ausreicht, um Wohnung und ausreichend Nahrung zu finanzieren, wirkt brutal, aber authentisch. Die prekäre Existenz mit Zweit- und Drittjob laugt sie so dermaßen aus, dass sie gar nicht mehr am Leben teilnehmen und von Paris außer den Gängen der U-Bahn nichts mehr sehen. „Métro-Boulot-Dodo“ wird so nicht mehr nur ein ironisches Wortspiel, sondern schlichtweg Realität.

Marion Messina untermauert die falschen Versprechungen sprachlich versiert, in kursiv erscheinen die immer wieder bemühten Phrasen, die sich jedoch als leere Worthülsen entpuppen. Ihr Roman erschien 2017 noch vor den aktuellen Protesten der Gilets Jaunes, sie legt aber den Finger in genau dieselbe Wunde und erfüllt damit eine der wesentlichen Aufgaben der Literatur: sie hält der Gesellschaft und vor allen denjenigen, die diese lenken, den Spiegel vor, in dem sie bei genauen Hinschauen eine schmerzverzerrte Fratze erkennen können. Auch 2020 noch einer DER Romane der Stunde.