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Veröffentlicht am 18.02.2024

Tiefgreifende politische und persönliche Einblicke

Land der vielen Wahrheiten
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Åsne Seierstad ist Kriegsberichterstatterin und Korrespondentin. Sie hat mehrere Sachbücher geschrieben, sowie zwei internationale Bestseller.
In „Land der vielen Wahrheiten - 3 Leben im Afghanistan“ taucht ...

Åsne Seierstad ist Kriegsberichterstatterin und Korrespondentin. Sie hat mehrere Sachbücher geschrieben, sowie zwei internationale Bestseller.
In „Land der vielen Wahrheiten - 3 Leben im Afghanistan“ taucht sie tief in die Politik des Landes ein. Sie erzählt die Geschichte dreier Menschen und ihrer Familien, zeigt verschiedene Lebensrealitäten auf, verschiedene Möglichkeiten mit Geschehnissen umzugehen.
Afghanistan ist ein Land, welches sich seit langer Zeit im Krieg befindet, welches sehr viele politische Umbrüche durchlebt hat, aus welchem viele Menschen geflohen sind.
Eine dieser Geflohenen ist Jamila. Als Vorsitzende einer Frauenrechtsorganisatuon ist es nach der Machtübernahme der Taliban zu gefährlich für sie und ihre Familie geworden und sie sucht Asyl erst in Norwegen, später in Kanada. Durch ihre Geschichte lernt man viel über die Rechte von Frauen in Afghanistan. Über verschiedene Zeiträume hinweg waren diese mal besser, mal schlechter, aber nie mit den Privilegien vergleichbar, die wir in der westlichen Welt genießen. Bildung ist für Mädchen nicht vorgesehen und so musste auch Jamila den Besuch der Schule und der Universität hart erkämpfen. Diesen Kampf führt sie nun für andere weiter, da sie überzeugt ist, dass für einen Umbruch in ihrer Heimat Bildung unerlässlich ist.
Außerdem lernen wir Bashir, einen bekennenden Talibal, kennen. Er ist im Jugendalter von zu Hause weggelaufen um sich den Taliban anzuschließen. Schon immer hat er ihre Überzeigungen geteilt, steigt in der Hierarchie schnell auf, wird einer der Führer. Seine Erzählung führt tief in den Glauben der Taliban, in das verwurzelte, rückständige Bild, in eine Gesellschaft, die geprägt ist durch Hass auf und Gewalt gegen Ungläubige. Zum einen ist diese Tiefe Verwurzelung mit der Religion bemerkenswert, auf der anderen Seite aber auch beängstigend, da über Leichen gegangen wird und die Koran-Verse im eigenen Ermessen ausgelegt werden. Sehr interessant an Bashir‘s Geschichte fand ich den Blick auf die Familie und was im Alltag als normal angesehen wird. So wird sich bspw. nicht aufgelehnt, wenn es für Mädchen ab einem bestimmten Alter heißt, dass sie das Haus nicht mehr verlassen dürfen und teilweise schon im Baby-/Kindesalter verlobt und später zwangsverheiratet werden. Auch die Tatsache das die Familie zum gemeinsamen Bomben basteln zusammen kommt hat mich erschreckt.
Und zu guter Letzt lernt man noch Ariana kennen. Sie ist die jüngste im Bunde, profitiert anfangs von einer relativ humanen Politik, besucht die Schule, beginnt ein Jura-Studium… Durch die Machtübernahme der Taliban verliert sie von einem auf den anderen Tag ihre Freiheit und ihre Aussicht auf eine Zukunft. Zwar gelingt es ihr letztendlich ihr Studium zu beenden, nützen tut es ihr nichts, da sie als Frau den Beruf nicht ausüben darf. Der Gesellschaftliche Druck ist enorm, auch die Eltern üben immer mehr aus, sodass auch Ariana zwangsverheiratet soll. Dies ist aber in Afghanistan gleichbedeutend mit einer kompletten Selbsaufgabe, da man als Frau keinerlei Entscheidungen treffen darf und als Besitz des Ehemanns gilt.
Die Autorin zeichnet ein sehr komplexes Bild der Gesellschaft und trotz der Tatsache, dass ich mit Büchern, die einen starken (außen)politischen Hintergrund haben, sonst eher weniger anfangen kann, war ich regelrecht gefesselt von dem Erzählten. Es ist spannend erzählt und wahnsinnig gut geschrieben und recherchiert.
Neben den Geschehnissen in Afghanistan selbst, bekommt man auch einen Einblick in die Politik Amerikas nach den Terroranschlägen, sowie in die Asylpolitik Norwegens, die es Einwanderern nicht gerade leicht macht Fuß zu fassen.
Das Ende ist wenig hoffnungsvoll, aber das kann es auch nicht sein, da Zuviel noch im Argen liegt, zu viel Leid und Ungerechtigkeit herrscht, sodass man dem Land und den Menschen, die geblieben sind, nur wünschen kann, dass Ruhe einkehrt.
Im Fazit ein grandioses Porträt dreier Menschen, einer Gesellschaft und des ganzen Landes. Absolute Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 11.10.2023

Wichtiges Thema wunderbar umgesetzt

Frag nach Jane
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Angela arbeitet in einem Antiquitätenhandel und findet einen alten Brief, der fälschlicherweise zugestellt wurde. Da die betreffende Person nicht mehr dort wohnt, öffnet sie den Brief, um weitere Anhaltspunkte ...

Angela arbeitet in einem Antiquitätenhandel und findet einen alten Brief, der fälschlicherweise zugestellt wurde. Da die betreffende Person nicht mehr dort wohnt, öffnet sie den Brief, um weitere Anhaltspunkte zur Empfängerin zu bekommen. Was sie findet, rührt sie zu Tränen. In dem Brief gesteht eine Mutter auf dem Sterbebett ihrer Tochter, dass diese adoptiert wurde und bittet sie, sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter zu machen.
Nancy wird ungewollt schwanger. In den 60er Jahren war es in Kananda noch illegal eine Abtreibung durchzuführen. Viele Frauen starben auf den Liegen von irgendwelchen Scharlatanen. Sie wendet sich an die Janes, ein großes landesweit agierendes Netzwerk, welches sich für sichere Schwangerschaftsabbrüche einsetzt. Jahre später beginnt sie sich selbst dort zu engagieren.
Evelyn wird in ein Heim für ledige Mütter geschickt, um dort ihr Kind zur Welt zu bringen. Kurz nach der Geburt wird sie, wie viele andere Frauen auch, dazu gezwungen ihre Tochter zu Adoption freizugeben. Getrieben durch diese Erlebnisse, macht sie es sich zur Aufgabe, werdenden Müttern zu helfen und ihnen die freie Wahl, für oder gegen das Kind, zu ermöglichen. Sie wird Ärztin im Jane-Netzwerk.
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Heather Marshall wirft einen generationenübergreifenden, eindrücklichen Blick auf Schwangerschaft, Mutterschaft und die Rechte und Freiheiten für Frauen. Der Roman spielt in Kanada, aber vieles lässt sich auch auf Länder Europas oder die USA übertragen. Ein großes Kernthema ist das Recht auf weibliche Selbstbestimmung, das Recht darauf selbst zu entscheiden, was mit dem Körper passiert, dass Recht sich für oder gegen ein Kind zu entscheiden. An vielen Stellen macht dies einfach nur sprachlos und wütend, sowohl wenn man die Vergangenheit betrachtet, als auch mit Blick auf die Gegenwart. Aber dazu später mehr…
Wir folgen den jungen Frauen auf verschiedenen Zeit- und Erzählsträngen, die zum Ende hin auf wunderbare Weise zusammenlaufen und mich in der Auflösung durchaus überrascht haben. Auch an Spannung fehlt es nicht, vor allem im Hinblick auf die Tätigkeiten des Jane-Netzwerks, welches illegal betrieben wurde und somit permanent im Visier der Strafverfolgungsbehörden stand.
Die Reise beginnt zeitlich gesehen 1960 mit der Ankunft von Evelyn im Heim für ledige Mütter. Ungewollt schwanger, vergewaltigt von einem Freund der Eltern, wird sie dort hingeschickt um die Schwangerschaft auszutragen und ihr Kind danach abzugeben. Diese Heime waren zu jener Zeit allgegenwärtig um ungewollte Schwangerschaften im Stillen auszusitzen. Schwangerschaftsabbrüche waren undenkbar und die Heime somit die einzige Alternative für Familien ihr Ansehen aufrecht zu erhalten und sich ungewolltem, unehelichem Nachwuchs zu entledigen. Es war so hart wie es klingt… Die jungen Schwangeren hatten keinerlei Mitspracherecht, durften ihre Kinder nicht behalten, viele sind nach Folge sexueller Übergriffe dort gelandet. Eine psychologische Betreuung gab es nicht, es wurde nicht über Schwangerschaft und Geburt aufgeklärt, die Frauen wurden während der Geburt sich selbst überlassen. Vielen wurde erzählt, dass die Kinder gestorben seien, sie mussten einen Vertrag unterschreiben, dass sie sich nicht auf die Suche nach den Kindern begeben, wenn sie sich geweigert haben, durften sie ihre Kinder gar nicht sehen. Sie mussten sowohl während der Schwangerschaft, als auch danach im Heim arbeiten um ihren Aufenthalt zu finanzieren und die Schulden zu tilgen. Wenn man bedenkt, dass die Kinder größtenteils verkauft wurden, eine weitere Ungerechtigkeit, die auf Leid und Unwissenheit basiert. Auch in Deutschland gehörte diese Praxis lange Zeit der Realität an und es ist einfach nur erschreckend, wie damals mit Frauen umgegangen wurde und welche Traumata diese davon getragen haben.
Wir machen einen zeitlichen Sprung in die Jahre ab 1979 und landen bei Nancy. Als ihre Cousine fast bei einer Abtreibung stirbt, erhält sie im Krankenhaus den Tipp nach Jane zu fragen, wenn sie oder eine Bekannte sich in einer ähnlichen Situation befindet. Ein paar Jahre später wird sie selbst ungewollt schwanger, einen legalen Weg zum Abbruch gibt es nicht und so telefoniert sie die Arztptaxen durch auf der Suche nach der mysteriösen Jane. Sie findet eine Ärztin die den Eingriff durchführt und als sie sie wieder ein paar Jahre später erneut trifft, bietet sie ihre Hilfe an und wird Teil des Netzwerkes. Netzwerke wie dieses gab es in ganz Kanada, den USA und wahrscheinlich auch in Europa. Viele ehrenamtliche Ärzte und Helfer haben es damit Frauen ermöglicht eine ungewollte Schwangerschaft unentgeltlich und sicher zu beenden. Außerdem haben sich diese Netzwerke politisch engagiert und für die Legalisierung gekämpft, sowie Aufklärungsarbeit hinsichtlich Verhütung geleistet. Sie hatten viele Feinde und eine Mitarbeit war nicht ungefährlich. Zum einen war es strafbar, zum anderen gab es die Front der Abtreibungsgegner, die sehr gewalttätig werden konnte. Trotz allem gab es über Jahre hinweg viele Freiwillige, die gekämpft haben, die Frauen geholfen haben ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung durchzusetzen. In Kanada hatten sie damit 1988 Erfolg, als das Gesetz, welches Abtreibungen als Straftat deklarierte, abgeschafft wurde. Somit ist Kanada bis heute eins der wenigen Länder in denen Schwangerschaftsabbrüche legal sind und Frauen eine freie Entscheidung treffen dürfen. Schaut man nach Deutschland, so hat man anscheinend auch eine freie Wahl, aber diese ist trügerisch. Laut Strafgesetzbuch wird hierzulande ein Schwangerschaftsabbruch mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 3 Jahren oder Geldstrafe gesühnt. Zwar bleibt er unter bestimmten Voraussetzungen straffrei (z.Bsp. durch Aufsuchen der Schwangerschaftskonfliktberatung und dortiger ausführlicher Darlegung der Gründe), aber dennoch bleibt der fahle Beigeschmack, dass nicht die Frau selbst, sondern andere darüber entscheiden, in meinen Augen ein Unding in unserer angeblich so hochentwickelten, aufgeschlossenen Gesellschaft.
Das Thema Abtreibung ist ziemlich kontrovers. Es gibt viele Gründe die für oder gegen ein Kind sprechen. Es gibt viele Faktoren, die bei einer solchen Entscheidung eine Rolle spielen. Die Gesetzgebung sollte keiner dieser Gründe sein. Bei allem Respekt vor dem ungeborenen Leben, ist es am Ende die Frau, die mit den Konsequenzen ihrer Entscheidung leben muss und somit sollte sie diese auch aus freien Stücken treffen dürfen.
Marshall schafft es in ihrem Roman die komplexen Zusammenhänge von gewollter und ungewollter Mutterschaft, von gewollter und ungewollter Schwangerschaft, sowie mögliche Intentionen hinter Schwangerschaftsabbrüchen zu beleuchten und zu vermitteln. Überdies stärkt sie die Sichtweise auf Selbstbestimmung und das Recht am eigenen Körper und zeigt auf, wie durch Solidarisierung, Zusammenhalt und Durchhaltevermögen ein Umbruch möglich ist.
In meinen Augen ein bedeutendes und mit Hinblick auf das Weltgeschehen wichtiges und aktuelles Werk. Von mir gibts eine große Empfehlung.

Veröffentlicht am 27.09.2023

Wie weit geht es nach unten?

Der berühmte Tiefpunkt
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Mariekes Leben ist, um es mal nett auszudrücken, gerade etwas suboptimal. Ihr absolut unsympathischer Freund Blok hat sie vor die Tür gesetzt und den Zugriff auf das gemeinsame Konto gesperrt. Sie wohnt ...

Mariekes Leben ist, um es mal nett auszudrücken, gerade etwas suboptimal. Ihr absolut unsympathischer Freund Blok hat sie vor die Tür gesetzt und den Zugriff auf das gemeinsame Konto gesperrt. Sie wohnt in einem Mietwagen, die Waschmaschine im Waschsalon gibt ihre Wäsche nicht frei und die zuständige Person ist gerade im Urlaub. Überdies ist gerade eine regelrechte Gluthitze ausgebrochen, was die Tatsache, dass Marieke gerade nur eine Jeans und ein Sweatshirt hat, noch schlimmer macht, denn so langsam fängt sie auch an zu riechen. Auf Hilfe aus der Familie kann sie nicht zählen. Obwohl sie als Kind mehr oder weniger als Rettungsanker für die Mutter herhalten musste, hält diese lieber zu Blok. Auch die Schwestern bilden eher für sich eine Einheit in der Marieke außen vor ist. Alles in allem könnte man sagen: Es ist ziemlich kompliziert.
Auf ihrer Arbeit läuft es auch nicht gerade rosig. Sie ist allein auf ihrer Station im Pflegeheim, alle anderen sind schon ins neue (klimatisierte) Gebäude umgezogen und scheinen sie vergessen zu haben. Es gibt jeden Tag Wurst mit Apfelmus (was ist das bitte für eine Zusammenstellung???) und auch das Wasser, sowohl zum Trinken, als auch zur Pflege, kommt in Flaschen, da leider die Leitung abgestellt wurde. Und so versucht sie ihr Bestes die Patienten am Leben zu erhalten.
Es geht nicht schlimmer? Ja doch, geht es: zu allem Überfluss tritt ihr Vater wieder in ihr Leben, eine Person die sie lange ausgeschlossen hat und sie sieht sich mit ihrer Vergangenheit/Kindheit konfrontiert und muss sich längst überfälligen Fragen stellen.
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Als allererstes, und das mache ich sonst super selten, möchte ich das Wahnsinns-Cover hervorheben. Es ist bunt, es ist chaotisch, es ist lebendig, es ist einfach sehr meins und extrem gut gelungen. Hätte ich genug Platz um einzelne Bücher mit der Vorderseite nach vorn ins Regal zu stellen, dies hier wäre eins davon.
Kommen wir nun zur Geschichte. De Gryse erschafft eine vielschichtige, tiefgreifende Erzählung auf gerade mal knapp 250 Seiten. Marieke als Protagonistin ist gut gelungen, auch wenn ich mich nur selten mit ihr identifizieren konnte.
Thematisch werden sehr viele Themen berührt: die Kindheit, die geprägt war von toxischen Verhältnissen, der Depression der Mutter, des Wegbleiben des Vaters und der damit einhergehenden, viel zu zeitigen Übernahme von Verantwortung auf Seiten von Marieke, was sich bis ins spätere Leben auswirkt. Auch jetzt ist Marieke eher ein Mensch der einsteckt, Dinge mit sich selbst ausmacht, sich herumschubsen lässt. Die Verhaltensweisen der Mutter halten bis heute an und sind geprägt von Vorwürfen und Schuldzuweisungen.
Es verwundert nicht, dass Marieke in einer Beziehung landet, die ebenfalls lieblos und auf Abhängigkeit ausgelegt ist. Sie wird nicht gesehen, nicht anerkannt und schaut man dann noch die mehr als übergriffige Mutter von Blok an, setzt dies dem Ganzen die Krone auf.
Überdies wird mit den Abschnitten die im Pflegeheim spielen sehr harte Kritik an dem System geübt. Völlig zurecht wie ich finde. Auch wenn es hier sicher überzogen ist, wird klar, dass der Pflegenotstand ein großes Problem ist, dem viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Auch gut fand ich die Einbindung von Essen als Lösung der Probleme. Nicht an sich die Tatsache, aber die Thematisierung. De Gryse beschreibt sehr bildlich, wie Marieke sich immer wieder in den „Genuss“ flüchtet und das dies schon seit frühester Kindheit ein Problem ist. Ich denke auch hier ist es wichtig, dass dies mal aufgefasst wird, denn auch wenn rein theoretisch klar ist, dass Essen keine Probleme löst, ist es doch für den/die ein oder andere*n eine Bewältigungsstrategie, die weitere Probleme nach sich zieht.
Apropos Essen: Fleischesser werden definitiv auf ihre Kosten kommen, denn die Beschreibung und Zubereitung von Mahlzeiten geht sehr ins Detail. Für mich war es nix, schon allein die Beschreibung wie es sich anfühlt bestimmte Fleischarten zu kneten, fand ich ein bisschen eklig, aber das ist ein sehr persönliches Empfinden und nach fast 20 Jahren Fleischverzicht denk ich nachvollziehbar.
Der Schreibstil hat mir sehr zugesagt, ist locker und leicht und manchmal weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Es ist eine gute Mischung aus Humor und Drama und durch die immer wieder stattfindenden Rückblicke bekommt man einen tollen Gesamteindruck von Mariekes Leben. Zudem ist man mit der Anfangsszene, in der die Protagonisten nackt in ihrem Mietwagen aufwacht, weil jemand ans Fenster klopft, sofort drin in der Geschichte und kann es dann kaum aus der Hand legen.
Es ist eine Geschichte von Freundschaft, Rückschlägen, Familie und am Ende auch von der Befreiung aus alten Strukturen. Es geht um Selbstfindung und Selbstbestimmung.
Kurz gesagt: es ist ein fantastisches Debüt, dass ich euch sehr ans Herz legen kann.

Veröffentlicht am 14.09.2023

Tiefe Auseinandersetzung mit Mutterschaft und Familiengeschichte

Im Prinzip ist alles okay
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Myriam ist 30. Sie ist gerade Mutter geworden, liebt ihr Kind über alles, lebt mit ihrem Freund zusammen, der ein liebe- und verantwortungsvoller Vater ist und sollte eigentlich rundum glücklich sein. ...

Myriam ist 30. Sie ist gerade Mutter geworden, liebt ihr Kind über alles, lebt mit ihrem Freund zusammen, der ein liebe- und verantwortungsvoller Vater ist und sollte eigentlich rundum glücklich sein. Zumindest redet sie sich das ein. Im Prinzip ist ja alles ok… die Realität allerdings ist eine Andere: sie leidet an postnataler Depression, fühlt sich von allem überfordert und als schlechte Mutter. Sie hat Angst mit ihrem Kind allein zu sein, denk sogar, dass ihr Kind sie gar nicht leiden kann, weiß nicht, wie sie die Tage füllen soll, rutscht mehr und mehr in die Isolation ab und ihre Vergangenheit holt sie immer wieder ein.
Aufgewachsen mit zwei narzisstisch anmutenden Elternteilen, fällt es ihr nicht leicht ihren eigenen Wert zu sehen. Sie hat starke Selbstzweifel, möchte jedem gefallen, geht damit stark über ihre Grenzen (die sie wahrscheinlich selbst gar nicht so recht benennen kann). Die Beziehung der Eltern war geprägt von Gewalt, Myriam selbst hat davon zwar nichts (körperliches) abbekommen, dennoch aber feine Sensoren entwickelt. Auch ihre Beziehungen zu Männern sind überaus toxisch. Ihr erster Freund schlägt sie, ist permanent eifersüchtig und kontrollierend. Ihr jetziger Freund trägt selbst viele unbewusste Narben aus der Kindheit mit sich herum, was immer wieder großes Eskalationspotential bietet.
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„Im Prinzip ist alles ok“ ist ein Debüt… und was für eins. Es hat mich nachhaltig beeindruckt, wie die Autorin hier verschiedene Lebenswege erfasst und vor allem wie tief sie gerade bei Myriam dabei geht.
Schon der Titel hat bei mir für Aufmerksamkeit gesorgt, denn ich finde damit ist alles gesagt. Was bedeutet es „ok“ zu sein? Und was bedeutet in diesem Zusammenhang „im Prinzip“? Solch eine Formulierung sagt so viel über das Gegenüber aus: am Ende das genaue Gegenteil. Es ist ein Zustand in dem man gerade so funktioniert, manchmal besser, manchmal schlechter, aber eben nie darüber hinaus. Es hat nichts mit leben zu tun, ist auf das Nötigste beschränkt und fühlt sich besch… an.
Am Beispiel von Myriam wird sehr deutlich bewusst, was es für ein Kind und die spätere Erwachsene bedeutet, Gewalt ausgesetzt zu sein, sich nicht gesehen zu fühlen, die eigene Wahrnehmung angezweifelt zu bekommen. Auch fehlende Unterstützung ist ein Problem. Trotz vorheriger Therapie und Abspaltung von der Familie, wird ihr immer wieder suggeriert nicht gut genug zu sein, undankbar zu sein, zu emotional zu sein… was dazu führt, dass sie in alte Muster zurück fällt. Sie will eine heile Familie, wobei sich dieser Wunsch sowohl auf die derzeitige, als auch auf die Herkunftsfamilie bezieht. Dies ist utopisch, zumindest wenn man die Schuld nur bei sich selbst sucht. Es ist schwer einzusehen, dass man andere Menschen nicht ändern kann und es fühlt sich erstmal egoistisch an, auf sich selbst zu schauen, aber manchmal ist das der einzige Weg sich zu retten.
Auch die Frage, was seine gute Mutter ausmacht, ob Liebe bedingungslos und auf Knopfdruck funktioniert, steht im Raum. Darf eine Mutter überfordert und traurig sein? Darf eine Mutter sich um sich selbst kümmern? Darf eine Mutter Angst vor ihrem Kind haben? In Myriams Fall wird schnell klar, wie schädlich das allseits akzeptierte und propagierte Bild einer Mutter ist. Denn dies schürt Druck, vermehrt Selbstzweifel und ist nun mal auch schlichtweg falsch. Jede Mutter weiß, dass Babys und Kleinkinder anstrengend sein können, das man an seine Grenzen stößt, manchmal auch einfach nur am Boden ist, weil man nicht weiter weiß und es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dies auch auszusprechen.
Yasmin Polat verarbeitet hier so viele wichtige Themen, angefangen mit einem realistischen Blick auf Mutterschaft und postnatale Depression. Themen die gern tabuisiert werden… auch toxische Familiengebilde werden analysiert, Grenzen und Bedürfnisse ausgelotet. Es wird nicht beschönigt, dafür ist dieser Roman auch nicht gedacht. Es ist kein Wohlfühlbuch, es tut teilweise weh es zu lesen und trotzdem ist es eine sehr große Empfehlung von mir. Ich finde wichtig, dass darüber geschrieben und gesprochen wird, einige werden sich sicher wiederfinden und damit vielleicht auch ein bisschen verstanden fühlen, anderen hilft es vielleicht das Gegenüber besser zu verstehen, wieder anderen wird klar, dass nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist.

Veröffentlicht am 01.09.2023

Wenn das Nichts zu groß wird

Und hinter mir das Nichts
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„𝘌𝘣𝘦𝘯 𝘸𝘢𝘳 𝘦𝘴 𝘥𝘰𝘤𝘩 𝘯𝘰𝘤𝘩 𝘥𝘢 𝘨𝘦𝘸𝘦𝘴𝘦𝘯, 𝘥𝘪𝘦𝘴𝘦𝘴 𝘓𝘦𝘣𝘦𝘯, 𝘥𝘢𝘴 𝘮𝘦𝘪𝘯𝘦𝘴 𝘸𝘢𝘳 - 𝘻𝘶𝘮𝘪𝘯𝘥𝘦𝘴𝘵 𝘳𝘦𝘪𝘯 𝘧𝘢𝘬𝘵𝘪𝘴𝘤𝘩, 𝘢𝘶𝘧 𝘥𝘦𝘮 𝘗𝘢𝘱𝘪𝘦𝘳.“ (𝘚.74)

Sara ist Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie sitzt schon auf gepackten Umzugskisten, ...

„𝘌𝘣𝘦𝘯 𝘸𝘢𝘳 𝘦𝘴 𝘥𝘰𝘤𝘩 𝘯𝘰𝘤𝘩 𝘥𝘢 𝘨𝘦𝘸𝘦𝘴𝘦𝘯, 𝘥𝘪𝘦𝘴𝘦𝘴 𝘓𝘦𝘣𝘦𝘯, 𝘥𝘢𝘴 𝘮𝘦𝘪𝘯𝘦𝘴 𝘸𝘢𝘳 - 𝘻𝘶𝘮𝘪𝘯𝘥𝘦𝘴𝘵 𝘳𝘦𝘪𝘯 𝘧𝘢𝘬𝘵𝘪𝘴𝘤𝘩, 𝘢𝘶𝘧 𝘥𝘦𝘮 𝘗𝘢𝘱𝘪𝘦𝘳.“ (𝘚.74)

Sara ist Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie sitzt schon auf gepackten Umzugskisten, will gerade bei ihrem (unter uns, sehr unsympathischen) Freund einziehen, als etwas passiert, was ihr Leben komplett aus der Bahn wirft. Ein Patient von ihr, Herr Mangold, begeht Suizid. Nichts hat vorher darauf hin gedeutet und sie macht sich Vorwürfe irgendetwas übersehen zu haben, nicht die richtigen Fragen gestellt zu haben…
Von diesem Augenblick an ist alles anders: Sie hinterfragt sich selbst und ihre Beziehung, kann ihre Arbeit nicht aufrecht erhalten, verlässt ihren Freund, findet sich in Gedanken immer wieder mit ihrer Kindheit und der eigenen Endlichkeit konfrontiert.
Eines Tages taucht plötzlich Nikto, eine unbekannte Frau auf, die Sarah seltsam vertraut vorkommt und eine Menge über ihr Leben zu wissen scheint. Doch kann diese ihr helfen wieder zu sich selbst zu finden?
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Ich hab mich wahnsinnig auf das 2. Buch der Autorin gefreut, war ich doch von ihrem Debüt „Gleich unter der Haut“ komplett hingerissen. Und was soll ich sagen: Ich wurde nicht enttäuscht.
Berthe Obermanns versteht es sich in Menschen einzufühlen und Themem zu skizzieren, von denen man gern die Finger lässt. Suizid und psychische Erkrankungen sind solche Themen, die Bearbeitung ist ihr grandios gelungen. Zum einen kommt es durch den Freitod von Herrn Mangold, nicht nur bei der Protagonistin Sara, zu Fragen: Was bringt einen Menschen dazu dem Leben selbst ein Ende zu setzen? Hätte es verhindert werden können? Wer trägt Schuld und hat diese überhaupt jemand? Und ganz allgemein: Ist es überhaupt angemessen die Entscheidung einer Person zu hinterfragen?
Sara verrennt sich regelrecht in diese Fragen, analysiert wieder und wieder Gesprächsprotokolle, versucht einen roten Faden zu finden und scheitert.
Der Tod nimmt sie so wahnsinnig mit, warum bleibt unklar, könnte aber auf fehlende oder geringe Resilienz bedingt durch ihre Kindheit zurück zu führen sein.
„𝘏𝘦𝘶𝘵𝘦 𝘸𝘦𝘪ß 𝘪𝘤𝘩, 𝘥𝘢𝘴𝘴 𝘦𝘴 𝘢𝘶𝘤𝘩 𝘚𝘤𝘩𝘮𝘦𝘳𝘻𝘦𝘯 𝘨𝘪𝘣𝘵, 𝘥𝘪𝘦 𝘦𝘸𝘪𝘨 𝘢𝘯𝘩𝘢𝘭𝘵𝘦𝘯, 𝘧𝘶̈𝘳 𝘪𝘮𝘮𝘦𝘳 𝘸𝘦𝘩𝘵𝘶𝘯.“ (𝘚.65)
Viel erfahren wir nicht darüber, die Erinnerungen bleiben schwammig, aber es schwingt viel Düsteres mit, viel Verdrängtes… Es bleibt Lesenden selbst überlassen Interpretationen zu kreieren und Schlüsse zu ziehen.
Der Auftritt von Nikto bleibt auch vorerst rätselhaft. Was will diese Frau? Woher weiß sie soviel? Es macht den Anschein als würde sie Sara (auf nicht grad einfühlsame Art) anleiten, die richtigen Fragen stellen, versuchen sie zurück ins Leben zu führen und auch mit der Vergangenheit abzuschließen. Erst relativ spät ist mir klar geworden, wer Nikto eigentlich ist. Auch hier bleibt Obermanns undeutlich, lädt zu Spekulationen ein, lässt meine bestehende Meinung immer wieder umbrechen. Sie schafft es perfekt ein, in meinen Augen, wenig bekanntes psychologisches Krankheitsbild einzuflechten, auf das ich leider an dieser Stelle nicht näher eingehen kann, da dies viel zu viel vorwegnehmen würde, daher lest es einfach selbst (und meldet euch gern, wenn ihr euch darüber austauschen wollt).
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Im Fazit konnte mich „Und hinter mir das Nichts“ ebenso begeistern, wie das Debüt. Ein sehr gelungener Roman, der mit Tabus bricht, sehr viel Raum für eigene Gedanken bietet und die Grenzen der Realität gekonnt aufweicht.