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Veröffentlicht am 29.05.2025

Champagne Problems und kopfloser Eskapismus (aber immerhin mit Meerblick)

Der Sonne entgegen
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Für Romy könnte es wohl aktuell nicht besser laufen: beneidenswerte Karriere als Fotografin samt eigenem Studio, stabiles soziales Umfeld inklusive stolzem Vater und quirliger bester Freundin - und nun ...

Für Romy könnte es wohl aktuell nicht besser laufen: beneidenswerte Karriere als Fotografin samt eigenem Studio, stabiles soziales Umfeld inklusive stolzem Vater und quirliger bester Freundin - und nun noch ein Goldjunge im Armani-Anzug vor ihr auf den Knien? Wie uns bereits Taylor in „Champagne Problems“ lehrte, ist es nicht unüblich, dass ein Übermaß an Perfektion und Harmonie einen explosiven Cocktail ergeben.
Da ist es doch nur verständlich, dass der guten Romy alle Sicherungen durchbrennen, sie mal eben zu einem Halbfremden ins Auto hüpft und sich Hals über Kopf auf einen Roadtrip mit künstlerischer Note und kriminellen Energien begibt. Oder?

Im Grunde ist diese Prämisse, auf die die folgende Handlung aufbauen wird, viel weniger verständlich als schlichtweg naiv, dreist und selbstzerstörerisch. Einem jeden Kind wird beigebracht, bloß nicht zu Fremden ins Auto zu steigen, aber unsere ach so mutige und abenteuerliche Protagonistin Romy hält genau das für eine blendende Idee. Warum auch mit ihrem Verlobten Henry auf Augenhöhe kommunizieren, wie normale Erwachsene das in der Regel tun, wenn man auch einfach kindisch die Fluch ergreifen kann?
Auch im Laufe der Handlung entpuppt sich Romy als anstrengende Zeitgenossin. Sie ist gelinde gesagt launisch und gerade ihre Strategie, sich mit verklärten Augenaufschlägen und naivem Wimpernklimpern die Männer um den Finger zu wickeln, war zum Haareraufen. An sich verurteile ich keine Frau, die sich ihren Weg durchs Patriarchat bahnt, indem sie sich dessen Strukturen zu Nutze macht, doch in „Der Sonne entgegen“ wurde diese Taktik, die lediglich unreflektierte Symptombekämpfung darstellt, als derart geniales Allheilmittel dargestellt, dass ich mich einige Male kurz vor einem Schreikampf befand.
Doch auch unser männlicher Protagonist ist nicht minder problematisch. Valentin gibt sich als intellektueller, kunstbewanderter Freigeist, ist aber letztlich auch nichts anderes als ein einsamer Kleinkrimineller mit Pascha-Anwandlungen und erstzunehmender Sinnkrise. Ein einziger pseudomysteriöser Möchtegern, der völlig überzeugt ist, das Leben verstanden zu haben, und mit seiner alarmierenden Einsamer-Wolf-Lebensphilosophie eigentlich jede Frau, die auch nur halbwegs bei Verstand ist, in die Flucht schlagen sollte. Da kann man natürlich nur von Glück für Valentin sprechen, dass es auch so verblendete und selbstzerstörerisch veranlagte Exemplare wie Romy gibt.
Auf das Plotten des Romans hätte man gerne ebenfalls noch ein kleines bisschen mehr Augenmerk legen können, denn die Handlung flacht im letzten Drittel samt Spannungsbogen besorgniserregend stark ab. Die eigentliche Geschichte ist im Grunde nach knapp 200 Seiten auserzählt, der Rest ist größtenteils ein Hin und Her an Beziehungsgeplänkel aufgrund von bereits erwähnten Kommunikationsproblemen unserer beiden Protagonisten.

Nichtsdestotrotz handelt es sich bei „Der Sonne entgegen“ um eine unterhaltsame Sommerlektüre, die ihre Leserschaft mitnimmt auf eine Reise mit malerischer Kulisse und zuweilen auch ein paar nette kleine Touri-Infos einstreut. Solange man die Geschichte nicht zu ernst nimmt und erst recht nichts kritisch hinterfragt, wird einem dieser Roman sicher einige idyllische Lesestunden bescheren!

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Veröffentlicht am 04.05.2025

Ein kunstvolles Mosaik

Great Big Beautiful Life
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"Great Big Beautiful Life" ist alles andere als ein typischer Emily-Henry-Roman, das sagte die Autorin kürzlich erst selbst in einem Interview. Denn mit diesem Buch hat sie ihrem bisherigen Werk etwas ...

"Great Big Beautiful Life" ist alles andere als ein typischer Emily-Henry-Roman, das sagte die Autorin kürzlich erst selbst in einem Interview. Denn mit diesem Buch hat sie ihrem bisherigen Werk etwas völlig Neues hinzugefügt – und sie hat es fantastisch gemacht. Hier hat Emily Henry endgültig bewiesen, dass sie nicht nur das Schreiben romantischer Komödien wie aus dem ff beherrscht – wobei ihre Bücher für mich schon immer mehr waren als „nur“ romantische Komödien.

In ihrem jüngsten Roman rückt Emily Henry die Romanze zwischen den beiden Hauptfiguren Alice und Hayden bewusst in den Hintergrund, was – wie mir bereits zu Ohren kam – für einen beträchtlichen Teil der Leserschaft eine herbe Enttäuschung gewesen sein muss. Stattdessen steht in "Great Big Beautiful Life" das Worldbuilding im Rampenlicht, wobei hier zudem mit einer intradiegetischen Erzählung aufgewartet wird und wir Leser*innen eine Geschichte in der Geschichte genießen dürfen: Wir tauchen ein in die ebenso mysteriöse wie tragische Familiengeschichte von Margaret Ives, erleben Skandale und Liebe und Hass und erfahren, was Geld und Ruhm mit einer Familie und vor allem mit einer jungen Frau, die sich ihres Platzes in der Welt noch nicht sicher ist, anstellen können. Wie ein kunstvolles Mosaik fügt sich nach und nach alles zusammen, bis ein schillerndes Kunstwerk entsteht, das nichts Geringeres als das Leben selbst abbildet.

Doch trotz des leichten Genrewechsels, der hier eingeschlagen wird, kann man dieses Buch getrost aufschlagen und sich sicher sein, dass man den gewohnten Emily-Henry-Charme vorfinden wird. Denn was wäre ein Emily-Henry-Roman ohne eine bestechend idyllische Kulisse und das wohlbekannte Kleinstadt-Feeling samt schrulligen, liebenswerten Figuren und ulkigen kleinen Läden? Und auch wenn die Romanze hier wie gesagt nicht der Fokus des Romans ist, ist sie dennoch zweifelsohne präsent und authentisch ausgearbeitet und macht, was wohl das Wichtigste ist, großen Spaß beim Lesen. Auch unser Sonnenscheinchen Alice und vor allem der gelinde gesagt reservierte Hayden sind typische Hauptfiguren für die Autorin, was jedoch keinesfalls negativ konnotiert sein soll – besonders in diesem für Emily Henry doch eher neuartigen Roman fühlt es sich geradezu wie Nachhausekommen an.

Somit kann ich für "Great Big Beautiful Life" nur meine wärmste Empfehlung aussprechen. Es ist eine Ode an das Leben, an die Höhen und an die Tiefen und alles dazwischen. Besonders Fans von Taylor Swifts "the last great american dynasty" oder von Taylor Jenkins Reids "The Seven Husbands of Evelyn Hugo" werden hier sicher ihren Spaß haben!

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Ein lesenswerter Brocken

Babel
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Sprache ist etwas Mächtiges. Sie ist der entscheidende Faktor, der ganze Nationen eint. Sie schafft Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl. Sie ist Identität. Aber gerade deshalb bewirkt Sprache auch oft ...

Sprache ist etwas Mächtiges. Sie ist der entscheidende Faktor, der ganze Nationen eint. Sie schafft Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl. Sie ist Identität. Aber gerade deshalb bewirkt Sprache auch oft das Gegenteil. Betrachtet man ihre Wirkung nationenübergreifend, so stellt man fest, dass es gerade die Sprache ist, die verschiedene Nationen unwiederbringlich voneinander abgrenzt. Sie betont gnadenlos Unterschiede und führt im schlimmsten Fall zur Ausgrenzung von Andersartigem.
Auch auf der persönlichen Ebene ist Sprache ein aussagekräftiger Machtfaktor. Die Art und Weise wie jemand spricht - ob er sich gewählt ausdrückt, einen bestimmten Dialekt verwendet oder einen ehr begrenzten Wortschatz hat - bestimmt unser Bild von dieser Person; in welcher Sprache ein Mensch kommuniziert sagt ebenso viel aus: Ist uns jemand vertraut oder fremd? Fühlen wir uns mit jemanden spontan verbunden oder stellt die Sprache eine schier unüberwindbare Barriere dar?

Mit ebendiesen Fragenstellungen und Überlegungen zum Thema Sprache hat sich auch Rebecca F. Kuang beschäftigt. Allein für die Tatsache, dass sie es geschafft hat, ihre Gedanken zu dieser komplexen Thematik allesamt unter einen Hut zu bringen, in eine Geschichte einzupflanzen und diese dann in ein Buch zu verwandeln, hat sie meine Hochachtung. Welch eine Leistung! Dass diese Geschichte ein Dark-Academia-Setting besitzt, im intellektuellen Oxford spielt und darüber hinaus auch noch den Namen "Babel" trägt, ist schon fast zu viel für mich und mein ordnungsliebendes Herz. Alles passt perfekt zusammen, jedes Zahnrad greift exakt ins nächste - ich bin sprachlos, allerdings auf die beste Weise.

Wenn man das Buch dann erstmals vor sich liegen hat, denkt man sich vermutlich etwas von wegen: "Hui, was für ein Brocken." Nachdem ich nun das Vergnügen mit Babel hatte, kann ich bestätigen, dass es nicht nur optisch und gewichtsmäßig ein Brocken ist, sondern auch inhaltlich.
Versteht mich nicht falsch, das meine ich in keiner Hinsicht negativ. Sowohl das akademische Magiekonzept der Silberbarren als auch der Umgang mit sämtlichen -ismen haben mich schwer beeindruckt. Die Autorin hat wirklich ein großes Talent dafür, stets den richtigen Ton zu finden und so ihre Kritik an Kolonialismus, Rassismus und Sexismus auf völlig unverfälschte und realitätsnahe Weise wiederzugeben. Sämtliche Emotionen, die die betroffenen Figuren empfanden - die Frustration, die Wut, die Hoffnungslosigkeit - spiegeln auf beängstigende Art und Weise den schmutzigen Boden der Tatsachen unserer Welt wieder. Rebecca F. Kuang spricht die harten und unschönen Fakten aus und das ist gut so.

Was die Struktur der Geschichte betrifft, so hege ich noch gemischte Gefühle. Einerseits schätze ich es sehr, dass die Autorin so viel Wert auf eine ordentliche Einführung in die Geschichte und Konfliktentwicklung gelegt hat, aber andererseits ist mir die Gewichtung der einzelnen Teile auch etwas suspekt. Wo anfangs alles nur regelrecht dahin plätschert, trifft einen dann ab einem gewissen Punkt schlichtweg der Schlag. Und mit diesem Schlag hört es nicht auf, es folgt der nächste und der nächste. Irgendwo war das bestimmt gut so, ich fühlte mich nur eben einfach etwas erschlagen.
Darüber hinaus hatte ich zuweilen auch gewisse Probleme, die Handlungsweisen mancher Figuren zu verstehen. Vielleicht waren die einzelnen Charaktere doch zu schwammig gezeichnet, vielleicht war alles auch einfach etwas viel: Silberbarren hier, Geheimbund dort, wohin man nur sieht die Verbrechen des britischen Königreichs - wie gesagt, ein Brocken.

Nichtsdestotrotz hatte ich eine gute Zeit beim Lesen, habe mit Robin und seinen Freunden mitgefiebert, mit ihnen triumphiert und gelitten und dabei die kritisch hinterfragende Art von Rebecca F. Kuang stets besonders genossen. Obwohl ich mich mit solch langen Büchern schon sehr schwer tue und gewissermaßen auch Angst vor ihnen habe, bin ich sehr froh, mich hier durchgebissen zu haben.
"Babel" ist wie ein Silberbarren. Ein Brocken, der schwer im Magen liegt, aber eben auch unglaublich wertvoll.

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Veröffentlicht am 06.11.2022

Manchmal ist weniger mehr.

Ich bin dein Schicksal
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Wenn „Ich bin dein Schicksal“ eines verdient hat, dann ist das eine Rezension, die gleichzeitig ehrlich und fair ist. Natürlich sind sowohl Fairness als auch Ehrlichkeit die absoluten Grundvoraussetzungen ...

Wenn „Ich bin dein Schicksal“ eines verdient hat, dann ist das eine Rezension, die gleichzeitig ehrlich und fair ist. Natürlich sind sowohl Fairness als auch Ehrlichkeit die absoluten Grundvoraussetzungen für eine Rezension, dennoch fiel es mir dieses Mal besonders schwer, diese beiden Aspekte zu vereinen. Beim Lesen merkte ich schnell, dass ich meilenweit von der angestrebten Zielgruppe entfernt bin, weshalb die Mehrheit meiner Kritik auch auf diese Tatsache zurückzuführen ist.

Objektiv betrachtet habe ich wirklich keine Probleme mit dem Buch. „Ich bin dein Schicksal“ hat prinzipiell alles, was ein guter Romantasy Roman braucht: Eine sympathische Protagonistin mit einem gewaltigen Päckchen Komplikationen auf dem Rücken, einen gleichermaßen attraktiven wie mysteriösen Typen, eine andersartige magische Parallelwelt und selbstverständlich eine übergeordnete Mission, um das Große Ganze zu retten.
Unsere beiden Protagonisten haben massenhaft Attribute und Interessen, auch die zahlreichen Nabencharaktere tragen fleißig zur Unterhaltung der Leserschaft bei. Die magische Parallelwelt namens Obskuris inklusive deren Bewohner*innen ist bis ins letzte Detail ausgeklügelt und durchdacht – ein Organisationsproblem werden die da drüben in ihrer Dimension sicher nicht haben. Auch an Plot mangelt es der Geschichte nicht, an allen Ecken und Enden passiert mehr als genug und letztendlich fügen sich sämtliche Handlungsstränge wunderbar ins Gesamtbild ein.

Normalerweise bin ich die Letzte, die sich über eine klare Strukturierung beschwert, allerdings sind diese Handlungsstränge, die so perfekt wie Puzzleteile der Marke Ravensburger ineinander passen, in erster Linie eins: Verkopft und konstruiert. Ich verstehe zwar, was sich die Autorin dabei gedacht hat und ich weiß ihre Bemühungen auch durchaus zu schätzen, jedoch hatte Aristoteles eindeutig einen Punkt, als er von Wahrscheinlichkeit in Bezug auf eine gute Handlung sprach.
Was die Charaktere betrifft, so fand ich deren Ausgestaltung auch nur auf den ersten Blick überzeugend. Beim zweiten Hinschauen stellt man leider fest, dass sich sämtlichen Attribute und Interessen, mit denen die Figuren ausgestattet sind, primär auf der Oberfläche abspielen und sich selten in den Handlungen der jeweiligen Person widerspiegeln. Klar ist das Meckern auf hohem Niveau, doch auf die Frage, ob ich mich in die Charaktere hineinversetzen konnte, muss ich nichtsdestotrotz mit „Nein“ antworten.
Das Worldbuilding finde ich im Großen und Ganzen gelungen und originell. Hätte ich das Buch sieben Jahre früher gelesen, wäre ich sicherlich hellauf begeistert gewesen von den schillernden Gefilden, die sich mir da auftaten. Mein jetziges Ich wurde von den bunten, glitzernden Fantasiewesen nicht direkt abgeholt, aber dafür kann Kira Licht ja nichts.
Der Schreibstil hat mir gut gefallen und vor allem der Erzählerbericht las sich sehr flüssig. An den Dialogen würde ich allerdings noch einmal feilen, die wirken nämlich teilweise doch recht hölzern und gestellt. Nun noch ein gutgemeinter Ratschlag an Kira Licht, der ihr hoffentlich einiges an Kopfzerbrechen ersparen wird: Es ist nun wirklich kein Verbrechen, von Zeit zu Zeit das Verb „sagen“ zu verwenden, auch gern mehrmals auf einer Seite. Auch in meinem Kopf ist die Deutschstunde, in der uns für eben jenes Verb Alternativen eingetrichtert wurden, noch sehr präsent, allerdings ist das noch lange kein Grund, das Synonymwörterbuch nicht mehr aus der Hand zu legen.

Von dem hohen Verkopftheitsgrad einmal abgesehen, ist „Ich bin dein Schicksal“ ein rundum gelungenes und liebevoll ausgearbeitetes Buch mit großem Unterhaltungswert. Gerade für die jüngere Leserschaft, die gern in abenteuerliche und fantasievolle Welten abtaucht, eine klare Leseempfehlung!

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  • Spannung
Veröffentlicht am 23.10.2022

Disruptives Experiment mit Mehrwert

Vielleicht hatten all die Therapeuten ja recht
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Dieses Buch wird sicherlich nicht jedermanns Fall sein. Das hat mehrere Gründe und einige kann ich persönlich auch sehr gut nachvollziehen. Zu Anfang hatte ich selbst große Probleme, ins Geschehen zu finden ...

Dieses Buch wird sicherlich nicht jedermanns Fall sein. Das hat mehrere Gründe und einige kann ich persönlich auch sehr gut nachvollziehen. Zu Anfang hatte ich selbst große Probleme, ins Geschehen zu finden und tat mich schwer, mit der Protagonistin warm zu werden. Doch gleichzeitig entpuppte es sich als eins der relevantesten Bücher im Bezug auf die heutige Zeit, die ich je gelesen habe.

„Vielleicht hatten all die Therapeuten ja recht“ ist von vorne bis hinten disruptiv und scheut nicht davor zurück, mit sämtlichen Gepflogenheiten und Normen zu brechen – sowohl inhaltlich als auch formal. Das vermutlich gewöhnungsbedürftigste ist der Aufbau des Buches: Die Kapitel sind weder chronologisch aneinandergereiht, noch folgen sie irgendeiner anderen auf den ersten Blick ersichtlichen Ordnung. Scheinbar willkürlich springen sie in Ereignissen im Leben der Protagonistin umher, was zugegebenermaßen sehr verwirrend sein kann. Lässt man sich jedoch darauf ein, stellt man fest, dass es durchaus ein System gibt – nämlich ein thematisch geordnetes. In Anbetracht der Tatsache, dass sich alles in dem Buch um das Gefühlsleben der Protagonistin Jenny dreht, macht diese intuitive Gliederung definitiv viel Sinn.

Thema Jenny: Sie ist definitiv keine gewöhnliche Protagonistin. Sie hat massenhaft Fehler und zwar nicht die von der angenehmen Sorte. Ihre Fehler sind keine à la „leicht tollpatschige Romanheldin stolpert sympathisch durchs Leben“. Jennys Fehler sind nicht schön, sondern zutiefst abstoßend. Für die meisten von uns sind Jennys Eigenschaften höchstwahrscheinlich der größte Albtraum, niemand möchte so verblendet, so oberflächlich und so abhängig von den sozialen Medien sein wie sie. Dennoch bewundere ich die Art, wie Jenny geschrieben wurde. Wenn ein Charakter von Grund auf so fehlerhaft und unsympathisch ist, hat das meistens Gründe. Abgesehen davon ist Jennys Charakterentwicklung wirklich erste Sahne: Im Rahmen ihrer Möglichkeiten wird sie stetig etwas reifer, erlangt wichtige Erkenntnisse und schlägt letztlich eine wirklich gute Richtung ein. Generell bin ich ein großer Fan der Selbstreflexion, die im Laufe des Buchs konsequent durchexerziert wird – nicht nur bezogen auf Jenny, sondern auch auf die Leserschaft.

Gerade diese Selbstreflexion macht das gesamte Buch zusammen mit seiner problematischen Protagonistin auf einer gesellschaftlichen Ebene höchst relevant. Durch die Art, wie wir Jennys unschöne Angewohnheiten mit ansehen müssen, werden wir zum Nachdenken angeregt und sinnieren automatisch über unser eigenes Verhältnis zu den angesprochenen Problemen nach. Und auch wenn man sich ohne Punkt und Komma über Jenny aufregen kann, eins muss man Emma Jane Unsworth doch lassen: Sie hat eine Protagonistin geschaffen, die – egal wie gern wir es leugnen möchten – auch irgendwie in einer jeden von uns steckt. Ich für meinen Teil fühlte mich beim Lesen des Öfteren ertappt.

Was auf mich anfangs wie ein etwas halbgares Experiment von einem Buch wirkte, hat sich nun als eine rundum gelungene und vor allem höchst wirksame Gesellschaftskritik von einer absolut souveränen Autorin entpuppt, die zweifelsohne weiß, was sie tut. Allein schon im Sinne des Wohls unserer Gesellschaft spreche ich hiermit meine Leseempfehlung aus. Denn auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, es laufen weit mehr Jennys frei draußen herum, als wir denken.
Deswegen: Seid nicht wie Jenny. Lest ein Buch.

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