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Veröffentlicht am 08.07.2017

Über dörfliches Leben und die Weite der Welt

Was man von hier aus sehen kann
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Wer gerne zu anspruchsvoller deutscher Literatur greift, dem kann ich diesen Roman nur ans Herz legen. Im Klappentext heißt es über die Autorin zu Recht, dass sie zu den kraftvollsten, den unverwechselbaren ...

Wer gerne zu anspruchsvoller deutscher Literatur greift, dem kann ich diesen Roman nur ans Herz legen. Im Klappentext heißt es über die Autorin zu Recht, dass sie zu den kraftvollsten, den unverwechselbaren Stimmen deutscher Literatur gehört.

Sie lässt die Ich-Erzählerin Luise ab einem Alter von 10 Jahren über etwa ein Vierteljahrhundert hinweg das Leben in ihrem kleinen Dorf im Westerwald schildern. Im Mittelpunkt stehen einige der Dorfbewohner. Manche von ihnen werden mit Vornamen eingeführt, andere werden nach ihrem Beruf eingeordnet (der Optiker, der Einzelhändler). Alle haben kleine Marotten, die sie liebenswert erscheinen lassen und einprägsam sind. So steckt „der Optiker“ etwa regelmäßig seinen Kopf ins Perimeter, hilft die abergläubische Elsbeth mit so manchem Mittelchen oder Ratschlag, erläutert Palm Bibelstellen. Luises Großmutter Selma, deren nächtliche Träume von einem Okapi jeweils den Tod eines Dorfbewohners nachfolgen lassen, steht im Zentrum. Alle bilden eine eingeschworene Gemeinschaft, sind bei Freud und Leid immer füreinander dar. Als Leser wünscht man sich gerade angesichts der Schnelllebigkeit unserer Zeit, in diesem Dorf zu wohnen. Die Sprache und der Schreibstil sind von ganz besonderer Art, vielleicht trifft es bildhaft oder poetisch am ehesten („Sinfonie in blau, grün und gelb“). Einzelne Szenen, Sätze und Wörter durchlaufen wie ein roter Faden das ganze Buch, wenngleich sie immer in einem anderen Kontext stehen. Es wird deutlich, dass die Autorin eine genaue Beobachtungsgabe hat und das Detail liebt. Philosophische Züge erlangt die Geschichte dadurch, dass sich Luise in einen buddhistischen Mönch aus Japan verliebt und über ein Jahrzehnt hinweg mit ihm in Briefkontakt steht. Ihr Ziehgroßvater („der Optiker“) nimmt das zum Anlass, sich selbst intensiv mit dem Buddhismus zu befassen. Er sucht rastlos nach der Bedeutung für den interessanten, im Buchtitel aufgenommenen Satz „Wenn wir etwas anschauen, kann es aus unserer Sicht verschwinden, aber wenn wir nicht versuchen, es zu sehen, kann dieses Etwas nicht verschwinden“. Ob er eine Antwort findet, muss jeder selbst lesen.

Veröffentlicht am 27.06.2017

Wie weit Mutterliebe geht

Solange die Hoffnung uns gehört
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Dieser Roman schlägt wie schon „Das Haus der verlorenen Kinder (2016) ein düsteres Kapitel deutscher Geschichte auf. Er spielt zwischen 1933 und 1955. Quäker organisierten für konfessionslose oder konvertierte ...

Dieser Roman schlägt wie schon „Das Haus der verlorenen Kinder (2016) ein düsteres Kapitel deutscher Geschichte auf. Er spielt zwischen 1933 und 1955. Quäker organisierten für konfessionslose oder konvertierte Juden Kindertransporte nach England, wo die Kinder getrennt von ihren in Deutschland verbleibenden Eltern in Internaten oder Gastfamilien sicher vor den Gräueltaten der Nationalsozialisten untergebracht wurden. Auch die renommierte jüdische Opernsängerin Anni aus Frankfurt greift schweren Herzens zu diesem Rettungsanker für ihre Tochter Ruth, stets hoffend, ihr rasch nachfolgen zu können. Aber die Jahre vergehen ohne eine Wiedervereinigung von Mutter und Tochter. Anni sieht sich zusehends Repressalien ausgesetzt, Ruth versucht in die Fußstapfen der Mutter als Sängerin zu treten.

Der Roman zeichnet sich durch fundierte historische Kenntnisvermittlung aus. Die Autorin hat gut recherchiert und lässt so manches wahre Schicksal in die Geschichte einfließen. Die Darstellung der historischen Zusammenhänge erfolgt eingebettet in eine berührende Mutter-Tochter-Geschichte. Die Spannung dauert bis zum Ende an, wird doch erst hier eine Antwort auf die Frage gegeben, ob Anni und Ruth einander wiederfinden.

Ein Buch, das ich empfehlen kann.

Veröffentlicht am 25.05.2017

Ein modernes Märchen

Mr. Peardews Sammlung der verlorenen Dinge
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Der Schriftsteller Anthony Peardew sammelt seit 40 Jahren auf der Straße gefundene Dinge und archiviert sie sorgfältig. Trauriger Anlass hierzu ist der Verlust eines Medaillons, das ihm seine geliebte, ...

Der Schriftsteller Anthony Peardew sammelt seit 40 Jahren auf der Straße gefundene Dinge und archiviert sie sorgfältig. Trauriger Anlass hierzu ist der Verlust eines Medaillons, das ihm seine geliebte, früh verstorbene Verlobte übergeben hatte. Getrieben wird Anthony von der Hoffnung, mit dem Zusammenbringen von Besitzern und Gegenständen seinen Fehler wiedergutzumachen und vielleicht das Liebespfand zurückzuerhalten. Zu einzelnen Gegenständen schreibt er kurze Erzählungen. Als Anthony stirbt, setzt seine Assistentin Laura seine Arbeit fort. Parallel zu ihrer beider Geschichte geht es um den Verleger Bomber und seine beste Freundin Eunice. Beide Geschichten sind geschickt miteinander verwoben, der eigentliche Verknüpfungspunkt ergibt sich am Ende des Buches.

Dieser Debütroman der Autorin ist fast schon ein modernes Märchen. Die Geschichte ist so vielschichtig mit einer Bandbreite unterschiedlicher Themen. Sie ist eine Liebesgeschichte, hat etwas Magisches, es gibt Geister und mit Anthonys geschickt eingestreuten Kurzgeschichten sogar Geschichten in der Geschichte. Die Romanfiguren sind ebenfalls recht vielschichtig und allesamt liebenswert und besonders, sei es Lauras junge, am Downsyndrom erkrankte Nachbarin mit ihrer besonderen Sicht der Dinge, Anthony mit seiner berührenden Vergangenheit oder der Gärtner Freddy. Sogar Bombers unsympathische Schwester ist mit ihren Versuchen, Romane zu schreiben, einzigartig. Selbst Hunde mit markanten Namen spielen eine wichtige Rolle.

Das Buch erhält von mir eine absolute Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 01.05.2017

Geschichte einer jüdischen Kaufmannsdynastie

Das Haus der schönen Dinge
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Dieser historische Roman sei vor allem den an der deutschen Geschichte der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts interessierten Lesern wärmstens ans Herz gelegt. Wir begleiten die fiktive jüdische Kaufmannsfamilie ...

Dieser historische Roman sei vor allem den an der deutschen Geschichte der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts interessierten Lesern wärmstens ans Herz gelegt. Wir begleiten die fiktive jüdische Kaufmannsfamilie Hirschvogl aus München durch die Jahre 1897 bis 1952. Vater Jacob und Mutter Thea erfüllen sich mit dem von ihnen gegründeten Kaufhaus Hirschvogl am Rindermarkt (eben das im Buchtitel benannte „Haus der schönen Dinge“) einen Lebenstraum. Jacob, dessen Familie seit vier Generationen in München ansässig ist und der sich in erster Linie als Münchner, dann als Bayer und erst danach als Jude sieht, glaubt sich und seine Familie als anerkannte Mitglieder der Münchner Gesellschaft. Doch was das für eine Fehlinterpretation ist, zeigen die folgenden Jahrzehnte, in denen das Warenhaus und die Familie verschiedenen wirtschaftlichen Krisen (Großer Krieg, Weltwirtschaftskrise) trotzen muss und vor allem immer wieder antisemitischen Anfeindungen, die ihren Höhepunkt im Nationalsozialismus finden und das Erbe der Hirschvogls bedrohen. So viel lehrreiches geschichtliches Wissen wird in diese Familiengeschichte gepackt, sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Art (Stichwort: Anfänge der Warenhäuser). Dabei geht die Autorin recht geschickt vor, indem sie nur kurze, fokussierte Episoden aus dem Leben der Familie erzählt, die manchmal einige Jahre auseinanderliegen. Auf diese Weise wird alles in einem noch akzeptablen Rahmen von 638 Seiten gehalten, und trotzdem erhält man ein umfassendes Portrait der Familie und ihres Schicksals. Was die Spannung beträchtlich fördert, ist der Umstand, dass oft von bedeutsamen Gegebenheiten die Rede ist, die dann aber nicht sogleich, sondern erst Seiten später umfassend aufgelöst werden. Dass der Autorin als Wahlmünchnerin die Sprache der Städter am Herzen liegt, zeigt sich darin, dass sie den Protagonisten Jacob münchnerisch reden lässt, was ihn als seiner Stadt treu Ergebenen auszeichnet und authentisch wirkt. Abgerundet wird die Geschichte durch einen vorangestellten Familienstammbaum, ein ausführliches Glossar und einen Stadtplan von München mit allen konkurrierenden Warenhäusern.

Veröffentlicht am 27.04.2017

Ein zauberhaftes Buch über Zauberer und Zauberei

Der Trick
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Der zehnjährige Max aus Los Angeles will die Scheidung seiner Eltern verhindern. Hilfe erhofft er sich von dem 88jährigen Mosche, der einst ein Zauberer war und nun den Zauberspruch von der Ewigen Liebe ...

Der zehnjährige Max aus Los Angeles will die Scheidung seiner Eltern verhindern. Hilfe erhofft er sich von dem 88jährigen Mosche, der einst ein Zauberer war und nun den Zauberspruch von der Ewigen Liebe anwenden soll.
Erzählt wird abwechselnd in zwei Erzählsträngen in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Allein der Umstand, dass die Geschichte in den 30er Jahren mit dem Werdegang Mosches einsetzt und dieser Jude ist (wie übrigens auch Max), genügt, um sich denken zu können, dass die Zeit des Nationalsozialismus und das Leid, das er für die Juden in Europa gebracht hat, eine wesentliche Rolle spielen. Das geschieht in genau richtigem Maße, hinreichend knapp, ohne Wesentliches auszulassen. Im eigentlichen Mittelpunkt stehen die wirklich interessante Zauberei und ihre Geschichte, über die ich viel mir bislang Unbekanntes erfahren habe. Beide Protagonisten - der pfiffige und beharrliche Max und der knurrige, aber nichtsdestotrotz liebenswerte Mosche - werden liebevoll und gelungen herausgearbeitet. Die Erzählweise ist oft von feinem, zum Schmunzeln veranlassendem Humor geprägt.
Es ist ein Buch fern der Massenliteratur, das ich uneingeschränkt empfehlen kann und mit dem der Diogenes-Verlag wieder einmal zeigt, wirklich besondere Bücher zu verlegen.