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Veröffentlicht am 17.10.2021

Wall City

Glitterschnitter
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Frank Lehmann lebt seit einigen Wochen in Berlin. Es ist Anfang der 1980er Jahre und Frank hat eine Putzstelle im Café Einfall ergattert. Manchmal springt er auch für Chrissie hinter der Theke ein, wenn ...

Frank Lehmann lebt seit einigen Wochen in Berlin. Es ist Anfang der 1980er Jahre und Frank hat eine Putzstelle im Café Einfall ergattert. Manchmal springt er auch für Chrissie hinter der Theke ein, wenn die kurz mal weg muss. Morgens läuft das Café, das eigentlich eine Kneipe ist, nicht so besonders. Vielleicht sollte Frank es mal mit Milchkaffee versuchen, das gibt es doch jetzt überall. Die Mitglieder der Band Glitterschnitter proben für den nächsten Auftritt, sie wollen einen Platz bei der Wall City Noise, das könnte ihr Durchbruch werden. Wenn nicht Leo die Organisatorin wäre, die leider ein gutes Personengedächtnis hat.

Mal wieder gibt es etwas Neues aus dem Universum von Herrn Lehmann. Diesmal wieder kurz nach seiner Ankunft in Berlin angesiedelt, kann miterlebt werden, wie Lehmann in Berlin Fuss fasst, wie Glitterschnitter sich auf einen Auftritt vorbereiten, wie H. R. Ledigt seine nächste Performance plant und noch ein paar Kleinigkeiten. Das Ganze im Westberlin der frühen 1980er, wo man noch wusste, was Zonenrand war oder Berlinförderung. Wo man noch nach Westberlin fliehen konnte, wenn man mit der Bundeswehr nichts zu tun haben wollte. Frank Lehmann gehört irgendwie gleich dazu, aber wie sein Bruder sagt, wenn er wieder fort wäre, würde es auch keine Besorgnis auslösen.

Berlin war zwar eine eingeschlossene, aber doch pulsierende Stadt. Kneipen, Kunst, Nachtleben - die Möglichkeiten schienen unbegrenzt. Herr Lehmann und seine Kumpane loten aus, was zu ihrem Leben passt. Wobei Lehmann eher bodenständig erscheint, während seine Kumpel zum Künstlerischen zieht. Eingekleidet ist das Ganze in die flapsige Sprache der Achtziger. Wenn man alle paar Jahre in das Lehmann Universum zurückkehren kann, ist es eine Freude. Vor allem auch, weil man nie weiß, wo man auf dem Zeitstrahl landet. Und irgendwie wünscht man auch, dass man die Lehmann Romane nie in chronologischer Reihenfolge lesen kann, denn das hieße, der Autor habe sich einem anderen Thema zugewandt.

Veröffentlicht am 16.10.2021

Oder stirbt sie doch

Barbara stirbt nicht
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Barbara und Walter Schmidt sind schon lange verheiratet. Eigentlich war Barbara nicht die erste Wahl, aber ein Kind war unterwegs. Der Alltag schien genau durchgeplant, Barbara versorgte den Haushalt und ...

Barbara und Walter Schmidt sind schon lange verheiratet. Eigentlich war Barbara nicht die erste Wahl, aber ein Kind war unterwegs. Der Alltag schien genau durchgeplant, Barbara versorgte den Haushalt und Walter machte, was er meinte. Doch eines Morgens stürzte Barbara im Bad und war danach nicht mehr in der Lage aufzustehen. Und nun erledigt Herr Schmidt alles und Barbara schläft und isst nicht. Die Kinder sind aus dem Haus und Herr Schmidt will auch nicht, dass sie zu häufig kommen. Dafür lernt er, sich mit dem Computer zu befassen. Schließlich muss er irgendwo erfahren, wie er Barbara etwas Leckeres zubereiten kann.

Die Schmidts sind schon ein seltsames altes Ehepaar, wobei Barbara in sich zu ruhen scheint und Walter vor sich hingrantelt und schnappt, wenn sich mal jemand nach seinem Befinden erkundigt. Obwohl Barbara offensichtlich krank ist, will Walter davon nichts wissen. Barbara stirbt nicht, sie isst nur nicht, aber Walter wird schon dafür sorgen, dass alles wieder in die Reihe kommt. Dass seine ganze Umgebung das anders sieht, ficht Walter nicht an. Doch bei aller Brummigkeit, öffnet sich Walter doch ein wenig und wagt einen großen Schritt, der Barbara gefallen soll.

Mit humorvollen Worten und teilweise beißendem Witz schildert die Autorin das Eheleben von Walter und Barbara, dass wohl auf seinen letzten Abschnitt zugeht. Walter, der immer wollte, dass sie in Deutschland nicht schon wegen ihres Akzents auffallen, hat seine Frau wohl erzogen. Seiner Meinung nach hat er sich in die Ehe gefügt und sein Bestes gegeben. Und er hat die zarte Barbara den ganzen Haushalt erledigen lassen. Über seine Gefühle spricht Walter nicht, da nutzen auch alle gut gemeinten Worte nichts. Gerade wenn sich alles in ihm zusammenzieht, wird er besonders bärbeißig, auch seinen Kindern gegenüber. Bei Beginn der Lektüre dieses witzigen Romans, der einem manchmal auch das Lächeln auf den Lippen gefrieren lässt, wird man direkt in die Handlung gezogen. Zwar fehlen einige Hintergrundinformationen, aber man ist gleich mitten drin im Leben von Walter und Barbara. Und so bewirkt die Handlung, dass man reagiert und reflektiert. Wie haben die eigenen Eltern gelebt? Wie hätte man selbst es gemacht? Mit leichten Worten geschrieben, widmet sich die Autorin durchaus ernsten Themen und ihre teils eigenwillige Herangehensweise macht den Roman sehr lesenswert.

Veröffentlicht am 11.10.2021

Zwei neben ihr

Judith und Hamnet
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Der Vater des jungen William Shakespeare hat Schulden und sein guter Ruf ist dahin. William muss deshalb, um einen Teil der Schulden abzutragen, Latein unterrichten. Eine sehr öde Aufgabe, hätte er nicht ...

Der Vater des jungen William Shakespeare hat Schulden und sein guter Ruf ist dahin. William muss deshalb, um einen Teil der Schulden abzutragen, Latein unterrichten. Eine sehr öde Aufgabe, hätte er nicht einen Blick auf das Mädchen mit dem Falken geworfen. Es handelt sich um Agnes, die älteste Tochter des Hauses. Kurz darauf heiraten sie und William. Im folgenden Sommer wird die erste gemeinsame Tochter Susanna geboren und nicht viel später die Zwillinge Hamnet und Judith. Die beiden sind ein Herz und eine Seele. Als die Zwillinge elf Jahre alt sind, fühlt sich Judith plötzlich unwohl. Hamnet ist in großer Sorge, der er ertastet die verdächtigen Beulen am Hals seiner Schwester.

Über das Leben William Shakespeares und seiner Familie sind nur wenige Fakten bekannt. So stimmt es, dass seine Frau einige Jahre älter war als er und sie drei Kinder hatten. Auch ist belegt, dass Hamnet mit elf Jahren verstarb. Um diese wenigen Daten entwickelt die Autorin ein fesselndes Familiendrama. Erzählt wird von den letzten Lebenstagen des aufgeweckten Hamnet. Er entdeckt die Krankheit seiner Schwester und versucht vergeblich Hilfe zu holen. Erst später als Agnes aus dem Wald nach Hause kommt, kann sie sich um Judith kümmern. In Rückblenden wird die Geschichte von William und Agnes erzählt. Die Gesamtkomposition bildet eine anrührende Ausschmückung der wenigen gesicherten Lebensdaten.

Shakespeare mal nicht in erster Linie als Dichter, sondern als junger Mann, Geliebter und Vater. Die Erzählweise ist etwas verwickelt, doch nachdem man sich eingelesen hat, bietet sie eine besondere Facette. Im Mittelpunkt der Geschichte steht jedoch Agnes, die sehende Frau, die sich sofort sicher ist, dass William der Richtige ist, dass mehr in ihm steckt. Sie ist sich auch sicher, dass zwei Kinder an ihrem Sterbebett stehen. Auf welch tragische Weise sie Recht behalten wird, kann sie nicht ahnen. Agnes ist eine eigenwillige und starke Frau, die zum Besten anderer in der Lage ist, Verzicht zu üben. Diese Familiengeschichte wirft einen anderen Blickwinkel auf Shakespeare und fesselt damit ungemein.

Veröffentlicht am 10.10.2021

Die Patentochter

Eine Art Familie
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Almas Eltern versterben früh. Über verschiedene Stationen kommt sie Anfang der 1920er nach Frankfurt zu ihrem Patenonkel, der eigentlich nicht ihr Patenonkel ist. Ludwig Lendle ist kaum älter als sie. ...

Almas Eltern versterben früh. Über verschiedene Stationen kommt sie Anfang der 1920er nach Frankfurt zu ihrem Patenonkel, der eigentlich nicht ihr Patenonkel ist. Ludwig Lendle ist kaum älter als sie. Pate war eigentlich sein Vater, der nicht mehr am Leben ist. Ludwig hat Alma gewissermaßen geerbt. In Frankfurt lebt er wegen des Studiums. Im Haus der Familie Mensch hat er eine Wohnung, die er sich mit Fräulein Gerner teilt. Und Alma vervollständigt die ungewöhnliche Wohngemeinschaft. In diesen ersten Jahren ist die Zeit relativ leicht, der erste Weltkrieg, in dem auch Ludwig diente, ist vorbei und es hat den Anschein, als genieße die Gesellschaft die Freiheit.

Der Autor zeichnet, wie im Umschlagtext erläutert, die Geschichte seines Onkels nach. Wohl aus Erzählungen von Alma und aus Tagebüchern, die Ludwig hinterlassen hat. Nicht nur um die ungewöhnliche Wohngemeinschaft von Ludwig und den zwei Frauen geht es, auch um Ludwigs Bruder Wilhelm, dem die Eltern verbundener scheinen. Die Ursprungsfamilie wirkt wie ein Gegenpol zu Ludwigs Lebenswirklichkeit. Und doch mag sich Ludwig nicht fügen. Lieber studiert er, forscht und bleibt distanziert. Alma dagegen wirkt neugierig und nimmt die Dinge des Lebens in die Hand. Einen richtigen Beruf zu ergreifen, ist ihr nicht vergönnt.

Diese Lebensbeschreibung verläuft trotz der turbulenten und auch grausamen Zeit, in der sie sich abgespielt hat, eher ruhig. Ludwig lässt Leidenschaft nur erahnen und Alma findet sich mit der Vergeblichkeit ab. Das Fräulein Gerner scheint den Rahmen der Sicherheit für ihr Wohlbefinden zu wünschen. Findet man sich mit der Beschreibung ab, die Höhen und Tiefen glättet, hat man eine interessante Familiengeschichte, die sehr authentisch wirkt. Zwei Arten von Familien, die sich durchs Nazi-Regime lavieren und irgendwie durchkommen. Wobei gerade Ludwigs Dreierfamilie für die Zeit wohl bemerkenswert ist. Das mag etwas fade klingen, die Geschichte sticht aber gerade deshalb hervor, weil sie so ungewöhnlich normal oder normal ungewöhnlich ist. So wird es häufig gewesen sein, man war dabei oder schwamm mit und hat die Augen verschlossen. Die Lebensbeschreibung des Ludwig Lendle bleibt zwar etwas distanziert gefällt aber durch ihre Ehrlichkeit.

Veröffentlicht am 09.10.2021

Sein ganzer Stolz

Harlem Shuffle
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Der ganze Stolz von Ray Carner ist sein Möbelladen in Harlem. Was für ein Gefühl als er den Mietvertrag unterschrieb. Doch im Jahr 1958 lebt es sich mehr schlecht als recht davon. Rays Frau Elizabeth arbeitet ...

Der ganze Stolz von Ray Carner ist sein Möbelladen in Harlem. Was für ein Gefühl als er den Mietvertrag unterschrieb. Doch im Jahr 1958 lebt es sich mehr schlecht als recht davon. Rays Frau Elizabeth arbeitet in einem Reisebüro, das Reisen abgestimmt auf die afro-amerikanische Kundschaft zusammenstellt. Ray ist immer auf der Suche nach neuer Ware und neuer Kundschaft. Er ist immer am Puls der Zeit. Sein Cousin Freddie dagegen ist ein Schlawiner, der Ray immer mal wieder in krumme Dinge hineinzieht. Grundsätzlich will Ray ehrliche Geschäfte machen, doch manche Transaktionen finden besser nach Feierabend statt.

Mit seinem neuen Roman widmet sich Colson Whitehead den Harlem zwischen 1958 und 1964. Ray Carney hat Betriebswirtschaft studiert und will seiner Familie eine sichere Lebensgrundlage bieten. In der lebendigen Nachbarschaft ist das nicht immer ganz einfach. Die schwarze Community findet gerade ein neues Selbstbewusstsein und dass geht nicht ohne Schwierigkeiten. Und Ray muss sich mühen, nicht zu sehr in dunkle Machenschaften hineingezogen zu werden. Auch wenn dafür hin und wieder ein Umschlag den Besitzer wechseln muss. Unterbuttern lässt sich Ray allerdings auch nicht. Und die Lebenserfahrung bringt ihm Ideenreichtum und Schläue.

Mit seinen Romanen „Underground Railroad“ und „Nickelboys“ vermochte der Autor wirklich zu fesseln. Das gelingt ihm mit seinem neuen Roman nicht in gleicher Weise. Doch auch das Harlem um den Wechsel von den 1950ern zu den 1960ern bietet einen schillernden Hintergrund für die Handlung. Freddie ist ein kleiner Ganove, der seinen Cousin in seine Gefilde zieht. Man bekommt nicht den Eindruck, dass Ray sich konsequent dagegen wehrt. Gegen einige Gepflogenheiten kann er sich vielleicht auch nicht wehren. Dennoch wirkt Ray wie ein treuer Familienmensch, der mit seinen Mitteln versucht, dass Beste zu erreichen. Dabei wirkt er gewitzt und sympathisch. Auch wenn einem das Setting diesmal ein wenig fremd bleibt, folgt man Ray Carner gerne durch drei Episoden seines Lebens.