Wo endet Solidarität?
„Dieses verdorbene Herz“ von Sunjeev Sahota hat mich von der ersten Seite an gepackt und immer wieder neu herausgefordert. Vor zwanzig Jahren verlor Gewerkschafter Nayan Olak in Sheffield bei einem verheerenden ...
„Dieses verdorbene Herz“ von Sunjeev Sahota hat mich von der ersten Seite an gepackt und immer wieder neu herausgefordert. Vor zwanzig Jahren verlor Gewerkschafter Nayan Olak in Sheffield bei einem verheerenden Hausbrand seine Mutter und seinen kleinen Sohn. Doch Nayan fand seine Mission, die ihm ein Ziel im Leben gab und mit dem er das Vermächtnis seiner Mutter fortleben lassen kann: alle Arbeiter:innen – gleich welcher Hautfarbe – gewerkschaftlich unter einem Banner zu vereinen. Doch genau hier beginnt die eigentliche Zerreißprobe.
Im Zentrum des Romans steht ein innergewerkschaftlicher Streit zwischen zwei Politikformen, die auf den ersten Blick ein gemeinsames Ziel haben, in der Praxis aber kaum zueinanderfinden. Auf der einen Seite begegnen wir Megha, einer jungen, gut ausgebildeten, indischstämmigen Frau – Tochter eines Arztes und Stimme des institutionellen Antirassismus. Sie spricht mit hoher moralischer Legitimation, organisiert Diversity-Workshops, fordert Quoten und Sichtbarkeit für BIPoCs. Doch all ihre Reden, so eloquent sie sind, bleiben oft hinter den Schutthaufen der Baustellen und anderen prekären Arbeitsstellen unsichtbar, in denen Menschen für einen Hungerlohn schuften. Diese Arbeiter:innen kennen ihren rechtlichen Status kaum und haben kaum lebenserleichternde Privilegien oder Zeit/Geld für Auseinandersetzungen mit Arbeitsgeber:innen, sondern sind auf die Arbeit der Gewerkschaften angewiesen. Bei ihnen ist Unterdrückung keine abstrakte Diskriminierung, sondern bittere, körperliche Ausbeutung: z.B. kein Unfallversicherungsschutz, keine geregelten Pausen, keine Chance auf Bleiberecht.
Sahota stellt mit leiser Radikalität die These auf, dass antirassistische Arbeit in Institutionen häufig zur Beschäftigungstherapie für jene BIPoCs wird, die schon im System angekommen sind, während die wirklich Prekären weiter im Schatten bleiben. Ihre Kämpfe um Anerkennung und Repräsentation – so wichtig sie auch sind – bleiben ohne echte Ressourcen hohl, wenn die Frage nach gerechten Löhnen und sicherem Aufenthalt unberührt bleibt. In diesem Paradox zeigt sich: Rassismus- und Diversity-Debatten können schnell von den eigentlichen sozialen Forderungen ablenken, wenn sie nicht zugleich eine materialistische Dimension mitdenken.
Ein besonders schmerzlicher Moment offenbart sich in Meghas offenkundigem Verrat an Nayan. Um ihre Quotenforderungen durchzusetzen, spinnt sie gezielt Intrigen gegen ihn und beschuldigt ihn der Diskriminierung, obwohl er sein Leben dem Kampf für alle Arbeiter:innen gewidmet hat. Sahota demonstriert hier, wie diese Konkurrenz zum Fatalen wird: Megha handelt scheinbar aus der Überzeugung heraus, dass es nur einen Platz am Tisch der Macht geben könne, und dass ihr die Eroberung dieses einen Stuhls zusteht. Diese Knappheitslogik – „Nur Platz für eine Stimme der Minderheit“ – führt dazu, dass selbst im Namen der Gerechtigkeit Solidarität verraten wird. Die Frage bleibt: Wie gerechtfertigt ist es, sich als PoCs gegenseitig wegzustoßen, um persönliche Positionen zu stärken, wenn doch gerade Mehrstimmigkeit und kollektives Empowerment dringend gebraucht werden?
Abseits dieser politischen Konfrontationen entfaltet Sahota eine zutiefst persönliche Familiengeschichte, in der transgenerationale Konflikte und kulturelle Prägungen eine ebenso gewichtige Rolle spielen. Nayan muss sich nicht nur mit seinem eigenen Verlust auseinandersetzen, sondern auch mit den Verstrickungen vorangegangener Generationen. In seiner vorsichtigen Beziehung zu Helen, einer schroffen Frau mit eigener Verletzlichkeit und Schuld, lernt Nayan, dass Solidarität nicht allein durch äußere Forderungen entsteht, sondern auch durch Selbstvergebung und dem ehrlichen Eingeständnis eigener Wunden.
Am Ende steht kein dogmatisches Plädoyer für die eine oder andere Seite, sondern ein impliziter Appell: Wahre Befreiung kann nur gelingen, wenn Klassen- und Rassismuskritik untrennbar verbunden werden. Jede Strategie, die das eine überbetont und das andere marginalisiert, läuft Gefahr, privilegierte Gruppen zu stärken, ohne die Bedürftigsten zu schützen. „Das verdorbene Herz“ wird mir deshalb lange im Gedächtnis bleiben – als literarisches Meisterwerk, das mich an die eigenen Privilegien erinnert, mich wütend macht über die Ungerechtigkeit und zugleich Hoffnung weckt: Denn in der unerschrockenen Verbindung von persönlichem Leid und kollektivem Kampf liegt das Potenzial für eine wirklich inklusive Politik, die gerade diejenigen nicht vergisst, die am meisten ausgeschlossen sind.