Berührendes Buch über das Ende der jüdischen Gemeinden im Irak
Für mich war "In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied" das erste Buch des schweizerisch-irakischen Autors Usama Al Shahmani, doch es wird sicher nicht mein letztes von ihm gewesen sein. Gleich nach der ...
Für mich war "In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied" das erste Buch des schweizerisch-irakischen Autors Usama Al Shahmani, doch es wird sicher nicht mein letztes von ihm gewesen sein. Gleich nach der Beendigung der Lektüre des Buches habe ich nachgelesen, was der Autor sonst noch veröffentlicht hat und werde mir diese Bücher demnächst besorgen - ein sicheres Zeichen für ein Buch, das mich begeistert hat.
Schon der poetische Titel und das Cover des Buches haben mich angezogen und neugierig gemacht, und ich wurde nicht enttäuscht. Es ist ein ruhiges Buch und entfaltet genau dadurch seine ganz besondere Tiefenwirkung: im Zentrum steht der irakisch-israelisch-schweizerische Universitätsdozent Gadi, der seit langem in Zürich lebt und meint, vieles aus seiner Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben. Da erreicht ihn aus Israel ein Anruf seiner Schwester Tamar, mit der er in den letzten Jahren auch keinen Kontakt hatte: sein Vater, mit dem er vor 30 Jahren als Jugendlicher nach der Trennung der Eltern innerlich gebrochen hatte, liege in einem israelischen Spital im Sterben und wünsche sich, den Sohn noch einmal zu sehen und sich zu versöhnen.
Gadi nimmt den nächsten Flug nach Israel, zögert aber dann, ins Spital zu fahren, fährt in die Richtung, dann wieder zum Flughafen und schließlich doch noch ins Spital, wo er den Vater aber nicht mehr bei Bewusstsein erlebt und dieser bald darauf stirbt, ohne dass es zu einer Aussprache gekommen ist. Jedoch hat der Vater seinen letzten Willen, gemeinsam mit umfangreichen Tagebucheinträgen, schriftlich festgehalten: seine Asche möge zur Hälfte in Israel, seiner neuen Heimat, und zur Hälfte im Irak verstreut werden. Im Irak ist der Vater geboren und aufgewachsen, doch er musste ihn dann gemeinsam mit seiner Mutter nach dem Verschwinden des Vaters im Zuge antisemitischer Unruhen verlassen, dabei die irakische Staatsbürgerschaft für immer aufgeben und zusichern, niemals zurückzukehren.
Nach anfänglichem Zögern entscheidet sich Gadi, sich gemeinsam mit einem arabischen Freund in den Irak aufzumachen, die Gegend kennen zu lernen, in der sein Vater aufgewachsen ist und die Asche zu verstreuen. Und er beginnt, die Tagebucheinträge zu lesen und kommt damit der Familiengeschichte und dem entfremdeten Vater näher.
Es ist ein ruhiges, angenehm zu lesendes Buch, ohne viel Dramatik in der Handlung auf der Gegenwartsebene, dafür mit poetischen Formulierungen, berührenden zwischenmenschlichen Begegnungen sowie vielen sehr interessanten und für mich neuen Informationen über die Auslöschung der einst so großen und bunten jüdischen Gemeinden im Irak, ein bisher wenig beleuchtetes Gebiet der Geschichte des Nahen Ostens, zu dem der Autor umfangreich recherchiert hat.
War Bagdad früher mal eine tolerante Stadt voll von Muslimen, Christen und Juden, mit vielseitigen Kontakten zwischen den Religionen, vielen Synagogen und einem blühenden multikulturellen Leben, ist davon heute kaum mehr etwas übrig. Erste Verfolgungen der jüdischen Gemeinden Bagdads begannen schon in Kooperation mit dem NS-Regime und wurden leider auch danach fortgesetzt, sodass die Anzahl der sich offiziell zu dieser Religion bekennenden Juden in Bagdad in dem 2019 angesiedelten Roman so gering ist, dass es nicht einmal mehr für einen Minjan, für den man zehn volljährige jüdische Männer bräuchte, reicht. An vielen Beispielen wird im Roman beschrieben, wie jüdische Einzelpersonen im Irak und in anderen Ländern für die Politik des Staates Israels angegriffen und bedroht werden, auch wenn sie damit nichts zu tun haben: ein sehr aktuelles Thema, wie sich gerade leider auch hierzulande wieder in den Nachrichten zeigt.
Die im Figur vorkommenden Personen sind fiktiv, das historische Hintergrundgeschehen nicht. Dem Autor ist es damit gelungen, auf ein interessantes und bisher wenig bekanntes Kapitel der Geschichte des Nahen Ostens aufmerksam zu machen. Die Figuren im Buch sind alle liebevoll und authentisch gezeichnet und ich mochte insbesondere die Stellen sehr, an denen sich immer wieder zeigt, wie Freundschaft, gegenseitige Unterstützung und Verbundenheit auch zwischen den Angehörigen verschiedener Religionen möglich sein können, in der Vergangenheit genauso wie heute. Trotz allem Traurigem, das im Buch geschildert wird, sind die Hauptcharaktere, die wir auf ihrer Suche begleiten, liebevoll, freundlich und sich gegenseitig unterstützend, das war sehr schön zu lesen und macht hoffnungsvoll. Ich danke dem Autor für sein völkerverbindendes Buch gerade in dieser geopolitisch so herausfordernden Zeit!