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Veröffentlicht am 04.02.2021

Die Familiengeschichte geht weiter

Vati
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In hohem Alter erzählte Tante Kathe der Nichte Monika Helfer die Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits mit der Auflage, sie erst nach ihrem Tod für einen Roman zu verwenden. Unter dem Titel "Die Bagage" ...

In hohem Alter erzählte Tante Kathe der Nichte Monika Helfer die Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits mit der Auflage, sie erst nach ihrem Tod für einen Roman zu verwenden. Unter dem Titel "Die Bagage" war er eines meiner Lese-Highlights 2020. Die bitterarmen Lebensverhältnisse, in denen die Familie Moosburger als verachtete „Bagage“ im hintersten Bregenzerwald lebte, und das Schicksal ihrer Mutter Grete als vermeintliches Kuckuckskind erzählte Monika Helfer äußerst knapp, mit Unschärfen, ohne Dramatisierung oder Pathos und ebenso lebendig wie elegant.

In ihrem neuen Roman, Vati, steht nun ihr Vater Josef im Mittelpunkt. Man muss den Vorgängerband nicht kennen, da alle notwendigen Informationen kurz zusammengefasst werden, trotzdem macht es mit Vorkenntnissen noch mehr Spaß. Ich habe mich jedenfalls sehr gefreut, so viele „alte Bekannte“ wiederzutreffen.

Anders ist bei diesem neuen Buch das Schöpfen aus eigenen Erinnerungen. Darüber hinaus hat Monika Helfer ihre Stiefmutter befragt – und auf deren Wunsch bis nach ihrem Tod mit dem Schreiben gewartet – und eigene Erinnerungen mit denen ihrer beiden Schwestern verglichen.

Auf und ab
Die Lebensumstände ihres Vaters als unehelich geborener Sohn einer Magd im Lungau waren ähnlich prekär wie die der Mutter. Allerdings nahm sich ein Pfarrer des begabten Jungen an und sorgte dafür, dass er in Salzburg Aufnahme ins Gymnasium und Schülerwohnheim fand. Schon damals fiel seine ungewöhnliche Liebe zu Büchern auf, die ihn ein Leben lang begleitete.

Ein halbes Jahr vor der Matura erhielt er die Einberufung und verlor in Russland ein halbes Bein und viele Hoffnungen. Weder über seine Kindheit noch über den Krieg sprach der Vater, eher schon, wie er im Lazarett die Mutter kennenlernte. Völlig mittellos lebten die beiden zunächst bei der „Bagage“.

Ab 1955 leitete der Vater das Kriegsversehrtenheim auf der Tschengla, rückblickend ein Paradies für die 1947 geborene zweite Tochter Monika Helfer. Fast wäre ihm seine rücksichtslose Büchersucht dort zum Verhängnis geworden. Als das Unglück abgewendet war, starb die zeitlebens zurückgezogene, den Alltagsanforderungen nicht gewachsene Mutter und Monika Helfer kam mit ihrer älteren Schwester Gretel zur Tante Kathe:

"Ohne Mutti ist ohne Würde. Sie konnte nicht kochen, aber sie war unsere Würde. Natürlich wusste ich damals nicht, was dieses Wort bedeutete, aber heute weiß ich es. Alle wissen: Die Gretel und ich sind noch dazu nur untergestellt bei den Armen, wir sind sogar noch ärmer als die Armen, die Ärmsten der Armen sind unsere Wohltäter." (S. 109)

Immer wieder greift die „Bagage“ ohne viele Worte bei größter Not ein:

"Tante Kathe sagte: „Es geht niemand verloren.“ Diesen Satz habe ich später sehr oft von ihr gehört." (S. 111)

Zuletzt vermitteln sie dem Vater sogar eine neue Frau und eine Stelle. Die vier Kinder bekommen wieder ein Zuhause:

"Das waren trotz allem schöne Abende. Das Paradies waren sie nicht, das war oben, 1220 Meter über dem Meer, für uns nicht mehr erreichbar." (S. 117)

Große Literatur auf nur 172 Seiten
Es ist bei weitem nicht nur die anrührende Lebensgeschichte des Vaters, die Monika Helfer „mehr wahr als unwahr“ (S. 9) in puzzleartigen Versatzstücken erzählt. Es ist ihre eigene Geschichte bis zur Gegenwart und eine Reflexion über das Schreiben und Erinnern, letzteres am greifbarsten in der Übergangsphase zwischen Wachsein und Schlaf. Vor allem aber ist es wieder ein großes Stück Literatur.

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Veröffentlicht am 23.01.2021

Zusammen ist man weniger allein

Noch alle Zeit
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Der Zufall führt die beiden sehr unterschiedlichen Protagonisten des Romans 2019 auf einer Fähre von Dänemark nach Oslo zusammen. Der gut 60-jährige Edvard hat nach dem Tod seiner Mutter Hinweise gefunden, ...

Der Zufall führt die beiden sehr unterschiedlichen Protagonisten des Romans 2019 auf einer Fähre von Dänemark nach Oslo zusammen. Der gut 60-jährige Edvard hat nach dem Tod seiner Mutter Hinweise gefunden, dass sein 1967 an seinem zehnten Geburtstag plötzlich verschwundene Vater Oskar Mellmann nicht tot war, wie seine Mutter Helene ihn glauben machte. Die Spur führt nach Norwegen, wo Oskar, wie er gern erzählte, im Zweiten Weltkrieg als Pilot stationiert war. Erschüttert und voller Wut über das Schweigen der Mutter macht sich Edvard, der nichts als sein Dorf hinter dem Elbdeich kennt, auf die Suche nach der Wahrheit.

Die 30-jährige Berlinerin Alva dagegen ist auf der Flucht vor sich selbst und den Erwartungen an sie. Immer „anders“ als alle anderen, wie durch eine „Scheibe“ vom Leben getrennt und nie von ihrer Mutter angenommen und kann sie ihre eigene Mutterrolle nicht ausfüllen. Sie ist auf der Suche nach sich selbst, auch wenn der vordergründige Anlass der Reise Recherchen für eine Fernsehreportage über magische Orte sind:

"Mit den magischen Orten käme Ordnung in ihr Leben – Ordnung und Geld […]. Das war es doch, was ihre Mutter immer von ihr wollte: dass sie wie alle anderen sei." (S. 46)

Edvard wie Alva sehnen sich nach Halt, Angenommensein, Liebe und einem erfüllten Leben.

Vom Dunkeln ins Helle
Zunächst hatte ich Sorge, dass Edvard, dem die Mutter seit dem Verschwinden des Vaters kein eigenes Leben und kaum Luft zum Atmen ließ, der nie die Kraft zur Befreiung aus ihrer Umklammerung aufbrachte, und der seine große Liebe Elsie aus Pflichtbewusstsein seiner Mutter gegenüber verlor, bei Alva in erprobte Muster fallen und zum „Kümmerer“ würde. Doch im Gegenteil finden beide einen Weg, ihre Projekte zu verbinden und sich gegenseitig zu stützen:

"Er öffnete die Augen, sie strich ihm übers Haar und begriff, dass man den anderen auch trösten kann, wenn einem selbst genau so kalt war." (S. 214)

Bei Edvard kehren immer mehr verschüttet geglaubte Erinnerungen zurück und vor allem Alva wächst über sich hinaus:

"Es durfte keine Rolle spielen, was sie brauchte, wenn sie gebraucht wurde." (S. 249)


Es bedarf nicht immer der ganzen Wahrheit
Die Reise durch die fantastische Landschaft Norwegens von Oslo über den Wasserfall Sputrefossen nach Tromsø, mit der Fähre nach Honningsvåg, nach Kirkeporten, dem Felsen des Nordkaps und Opferstätte der Sami, und auf die vor Bergen liegende Insel Herdla, im Zweiten Weltkrieg Stützpunkt der deutschen Luftwaffe, wird für beide zum Wendepunkt, von dem aus sie verändert heimkehren:

"Das Leben verändert sich nicht an einem Tag. Doch eines Tages weiß man, dass es sich verändert hat." (S. 216)

Unbedingt lesenswert
Acht Jahre lang hat der 1960 geborene Autor Alexander Häusser an seinem vierten, von eigenen biografischen Ereignissen beeinflussten Roman "Noch alle Zeit" gearbeitet und dafür spürbar gründlich recherchiert. Historischer Hintergrund und Einzelschicksal sind hervorragend verbunden, die Handlung spannend und feinfühlig erzählt, die stimmigen Bilder, Metaphern und Motive lohnen ein gründliches Lesen und Wiederlesen. Haupt- und Nebenfiguren sind glaubhaft und mehrdimensional, so dass ich mehrfach vorschnelle Urteile revidieren musste, jedes Schicksal berührt, jedoch völlig ohne Kitsch. Besonders gut gefallen hat mir das Ende mit der perfekten Balance zwischen Auserzählen und Offenlassen.

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Veröffentlicht am 05.01.2021

Zwei Wochen in Badenweiler

Mr. Crane
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Was äußerlich zunächst einen Künstlerroman oder eine Biografie über den in Deutschland bisher wenig bekannten US-amerikanischen Journalisten, Kriegsberichterstatter und Autor Stephen Crane (1871 – 1900) ...

Was äußerlich zunächst einen Künstlerroman oder eine Biografie über den in Deutschland bisher wenig bekannten US-amerikanischen Journalisten, Kriegsberichterstatter und Autor Stephen Crane (1871 – 1900) vermuten lässt, entpuppt sich bei der Lektüre als virtuos komponierter Roman, in dessen Mittelpunkt eine junge Krankenschwester steht. Trotzdem sind Titel und Foto gut gewählt, denn "Mr. Crane" verändert auf denkbar intensive Weise das Leben von Elisabeth T. Camphausen, zunächst bei seinem achttägigen Aufenthalt als schwerkranker Tuberkulosepatient im Sanatorium „Villa Eberhard“ in Badenweiler im Schwarzwald und 14 Jahre später indirekt erneut, als der junge Leutnant Bernhard Fischer ebenfalls acht Tage dort verbringt.

28. Mai bis 4. Juni 1900
Bei Cranes Ankunft wird die 25-jährige Elisabeth ihm wegen ihrer Englischkenntnisse als Pflegerin zugeteilt. Sie kennt seine Bücher, sein wichtigstes Werk "The Red Badge of Courage", über den Amerikanischen Bürgerkrieg aus der Sicht eines einfachen Soldaten, aber vor allem "The Monster" über einen Mann, dessen Gesicht durch ein Feuer entstellt wurde, genau wie ihres. Weder ihre Eltern, noch ihr Mann oder ihre Kollegen haben ihre vernarbte linke Gesichtshälfte je thematisiert oder berührt. Anders Crane:

"Es gibt viele gesichtslose Menschen, Schwester Elisabeth“ röchelt er. „Aber Sie, ich bitte Sie, Ihre Narben sind doch gar nicht so schlimm. Sie sind schön, Schwester.“ (S. 92)

Crane, von Todesängsten gepeinigt, erzählt Elisabeth im Fieberwahn Bruchstücke seiner Biografie und hört ihr zu. Sofort fühlt sie sich von dem nur wenig älteren, unsteten und weitgereisten Schriftsteller magisch angezogen und verfällt ihm. Für die temperamentvolle, im Herzen rebellische Frau ist er nicht nur „meine erste wirkliche Liebe“ (S. 192), sondern Symbol eines freieren Lebens.

25.September bis 2. Oktober 1914
14 Jahre später belegt der erste Kriegsverwundete, Bernhard Fischer, Cranes ehemaliges Zimmer. Er spricht nicht, hat jedoch ein Buch Cranes im Gepäck. Schlagartig wird Elisabeth ins Jahr 1900 zurückkatapultiert. „Ihren“ Mr. Crane konnte sie damals nicht retten, kann sie nun Fischer vor einer Rückkehr an die Front bewahren? Und ihrem Leben eine neue Richtung geben?

"Als Mr. Crane verschwand, war der Zeitpunkt gekommen, an dem auch sie hätte gehen müssen. Aber Elisabeth rettete sich in die Villa. In die Ehe zu einem Mann, der kein Wort über ihre Narben sagte und sehr, sehr freundlich war. Sie suchte Zuflucht in der Enge des Kaiserreiches und ihrer Privilegiertheit als Arzttochter und der gleichzeitigen Chancenlosigkeit als Frau." (S. 97)

Äußerst geschickt vernetzte Geschichten
Andreas Kollender verknüpft in seinem Roman zwei abwechselnd erzählte, fiktive Geschehnisse meisterhaft mit unscharfen biografischen Mosaiksteinen Cranes. Die Figuren sind lebendig, vieldimensional und voller Widersprüche, so dass ich beständig zwischen Sympathie und Abstoßung, Mitleid und Unverständnis schwankte und immer wieder überrascht wurde. Die Details der obsessiven Beziehung zwischen Elisabeth und Crane sind sicher Geschmacksache und sprachen mich wenig an. Auch über die körperlichen Höhenflüge Cranes und die Sorglosigkeit einer Krankenschwester angesichts eines infektiösen Patienten war ich verwundert, aber dies alles zeigt doch den überbordenden Lebenshunger der Protagonisten.

Die sehr anregende Lektüre lohnte in jedem Fall: als erste Begegnung mit dem mir bislang unbekannten amerikanischen Schriftsteller, Porträt einer unangepassten jungen Frau, Plädoyer gegen Kriegsgräuel und Ansporn zum Widerstand vermeintlich Machtloser. Nun bin ich gespannt auf die Neuübersetzung von Stephen Cranes erfolgreichstem Roman "Die rote Tapferkeitsmedaille" in ebenso hochwertiger Aufmachung und gleichfalls aus dem Pendragon Verlag, der zur Lektüre bereitliegt.

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Veröffentlicht am 14.12.2020

Melancholischer Künstlerroman und Abbild einer vergangenen Epoche

Der letzte Prinz
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Künstlerroman und Abbild einer vergangenen Epoche

Biografische Romane lassen den Verfasserinnen und Verfassern Spielräume beim Umgang mit bekannten Lebensdaten und beim Ergänzen fehlender Details. Selbstverständlich ...

Künstlerroman und Abbild einer vergangenen Epoche

Biografische Romane lassen den Verfasserinnen und Verfassern Spielräume beim Umgang mit bekannten Lebensdaten und beim Ergänzen fehlender Details. Selbstverständlich erwarte ich auch hier, dass die große Linie der äußeren Lebensdaten berücksichtigt wird, ich toleriere darüber hinaus aber kleinere Abweichungen und fantasievolle Ausschmückungen. Entscheidend ist, ein stimmiges Gefühl für die Person, ihre Zeit und ihr Umfeld entsteht. Genau dies ist für mich bei "Der letzte Prinz", einem Künstlerroman über den sizilianischen Autor Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896 – 1957) des kanadischen Lyrikers, Autors und Literaturdozenten Steven Price, gegeben. Bestärkt hat mich in dieser Auffassung, dass Gioacchino Lanza Tomasi, der Adoptivsohn, mit der Beschreibung seines Adoptivvaters im Roman einverstanden war.

Ein Mann der Vergangenheit
Fürst Giuseppe Tomasi di Lampedusa entstammte einer der mächtigsten und reichsten Adels- und Großgrundbesitzerfamilien Siziliens. Als letzter Spross seines Geschlechts erlebte er den unaufhaltsamen Niedergang nicht nur seiner Familie, sondern seiner ganzen Welt.

Auf eine als „golden“ empfundene Kindheit folgten traumatische Erfahrungen Tomasis als Soldat im Ersten Weltkrieg und in einem ungarischen Gefangenenlager, wohin ihm die dominante, weltfremde Mutter Pakete schickte:

"Im März kam das erste Paket seiner Mutter aus Palermo. Es enthielt zwei Bücher von Stendhal und absurderweise einen Tennisschläger, einen Abendanzug und ein Paar feine Lederschuhe." (S. 193)

Nach seiner Heimkehr reiste er unruhig durch Europa. Die Liaison und schließlich Heirat mit einer deutsch-baltischen Baronesse und Psychoanalytikerin bedeutete das Ende seiner überaus engen Mutter-Sohn-Beziehung. Von Geldsorgen geplagt, bewohnte der Literaturenthusiast mit seiner Frau Alexandra von Wolff-Stomersee einen heruntergekommenen Palazzo in Palermo, nachdem beide 1943 ihre prächtigen Familienwohnsitze verloren hatten, sie durch die Russen in Lettland, er durch amerikanische Bomber in Palermo.

Aristokrat durch und durch
Beim Einsetzen des Romans 1955 ist Tomasi ein 59-jähriger, schwerfällig am Stock gehender, vorzeitig gealterter, korpulenter Kettenraucher, der einer vergangenen Zeit nachhängt:

"Giuseppe […] war es gewohnt, dass man stutzte und ihn anders ansah, wenn man von seiner Stellung im Leben erfuhr. Die hatte er viele Jahre lang als natürlich und richtig empfunden, und wenngleich er ihr seit den Nachkriegsjahren und dem Tod seiner Mutter misstraute, sah er sie tief in einem sehr alten Winkel seines Herzens doch als ihm gebührend an." (S. 102)

Die Diagnose eines Emphysems konfrontiert Tomasi mit der Einsicht, dass er nichts hinterlassen wird. Charakterlich zu schwach und passiv, um die ärztlichen Ratschläge nach Rauchverzicht und Diät zu befolgen, nimmt er doch in den letzten Lebensjahren zwei Mammutaufgaben in Angriff: Er adoptiert einen jungen Adeligen und schreibt mit "Il Gattopardo" seinen einzigen Roman. Zwar findet sich zu seinen Lebzeiten kein Verleger, doch ist "Der Leopard" bis heute der meistverkaufte italienische Roman des 20. Jahrhunderts.

Ein Roman in Episoden
In acht, jeweils mit Zeitangaben versehenen, nicht chronologisch geordneten Kapiteln wirft Price Schlaglichter auf Lampedusas Leben und die Entstehungsgeschichte seines Romans. Das neunte Kapitel von 2003 beinhaltet ein Interview mit dem Adoptivsohn.

Dass sich das Lebensgefühl dieses emotionslos treibenden Mannes so gut überträgt, ist der bewusst altertümlichen Sprache des Romans zu verdanken. Man muss "Der Leopard" nicht gelesen haben, um den Roman zu mögen, ich vermute allerdings einen größeren Lesegewinn für die, die ihn kennen und nicht nur – wie ich – vor vielen Jahren die Verfilmung von Luchino Visconti aus dem Jahr 1963 gesehen haben.

Veröffentlicht am 26.10.2020

Merkt ihr nicht, dass man neben euch erstickt?

Ada
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Wie seine Schauspielerkollegen Robert Seethaler, Matthias Brandt, Joachim Meyerhoff, Axel Milberg oder Ulrich Tukurs ist inzwischen auch der 1957 geborene Christian Berkel unter die Romanautoren gegangen. ...

Wie seine Schauspielerkollegen Robert Seethaler, Matthias Brandt, Joachim Meyerhoff, Axel Milberg oder Ulrich Tukurs ist inzwischen auch der 1957 geborene Christian Berkel unter die Romanautoren gegangen. Sein Debüt "Der Apfelbaum" habe ich 2018 leider verpasst. Nun habe ich seinen zweiten Roman gelesen, "Ada", ohne zunächst zu wissen, dass er eine Fortsetzung darstellt. Zwar muss man den ersten Teil nicht unbedingt kennen, weil die wichtigsten Ereignisse aus dem Leben von Adas Eltern und Großeltern kurz angerissen werden, aber hilfreich wäre es trotzdem gewesen. Vor allem aber habe ich den Eindruck gewonnen, dass mich der erste Teil thematisch mehr interessiert hätte. Sala, die Protagonistin in "Der Apfelbaum" und Mutter von Christian Berkel, war Halbjüdin und wurde während des Zweiten Weltkriegs unter anderem im Lager von Gurs nördlich der französischen Pyrenäen interniert, dessen eindrucksvolle Gedenkstätte und jüdischen Friedhof ich im Sommer 2020 besucht habe. Ada, die Tochter, wird im von einem großen Schweigen geprägten Nachkriegsdeutschland groß:

"Sie hatten sich ihr Schweigen ebenso hart erarbeitet wie die scheißenden Tauben unseren Dachboden. […] Sie wollten ihre Ruhe. Sie wollten in ihrem Schweigen nicht gestört werden. Nur das interessierte sie.
„Merkt ihr nicht, dass man neben euch erstickt?“ "(S. 334)

Während im ersten Teil der geplanten Trilogie mit Christian Berkels Eltern Sala und Otto zwei reale Personen Pate für den Roman standen, ist deren Tochter Ada, die Protagonistin und Ich-Erzählerin im zweiten Band, fiktiv. 1945 in Leipzig geboren und im Alter von zwei Jahren mit ihrer Mutter nach Argentinien ausgewandert, kehrte sie 1954 in ein ihr fremdes Land mit fremder Sprache und unbekannter Geschichte zurück.

"Ada" besteht aus drei Teilen mit den Überschriften „Erinnern“, „Wiederholen“ und „Durcharbeiten“. Der Beginn jedes Teils sowie das Ende des Buches spielen in den Jahren 1989 bis 1993 und handeln insbesondere vom Versuch Adas, ihr Leben mit Hilfe einer Gesprächstherapie zu ordnen. Sie blickt auf ihre Kindheit und Jugend zurück, die sich vor dem Hintergrund von Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Mauerbau, Angst um West-Berlin und Aufbegehren der Jugend gegen das Schweigen ab Ende der 1960er-Jahre abspielte. Einerseits teilt Ada damit das Schicksal ihrer Generation, andererseits ist in ihrer Familie das Schweigen noch lauter, denn die Eltern enthalten ihr nicht nur Informationen über den eigenen Leidensweg und ihr Judentum vor, sondern ignorieren auch Adas Zweifel über Ottos Vaterschaft.

Ein zwiespältiger Leseeindruck
So spannend die Thematik des Romans unzweifelhaft ist, hatte ich mit der Umsetzung doch meine Schwierigkeiten. Obwohl Adas Verhalten, ihre innere und äußere Unruhe, ihre Rebellion gegen die mühsam aufgebaute Heile-Welt-Fassade und die Mauer des Schweigens, ihre Identitätssuche, ihre Drogenexperimente und schließlich ihr Bruch mit der Familie erklärlich sind, blieb sie mir doch als Figur sehr fremd. Mit einem auktorialen Erzähler oder wechselnden Erzählperspektiven, deutlichen Kürzungen im zweiten Teil und weniger direkter Rede hätte mir das Buch sicher besser gefallen. Statt alle Stationen der 68er-Bewegung kurz anzureißen und Ada bei der Anti-Schah-Demonstration ausgerechnet auf Benno Ohnesorg treffen zu lassen, hätte ich mir eine Fokussierung mit mehr Tiefgang gewünscht.

Als Fazit bleibt mein Wunsch, den Vorgängerband möglichst bald zu lesen. Auf den Abschlussband der Trilogie werde ich dagegen verzichten.