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Veröffentlicht am 30.10.2018

Victoria - Namensgeberin einer Epoche

Queen Victoria
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Als Queen Victoria 1901 81-jährig starb, trauerten Menschen überall auf der Welt um die „Großmutter Europas“. Über 63 Jahre saß sie auf dem englischen Thron, ein Rekord, den erst ihre Ururenkelin Elisabeth ...

Als Queen Victoria 1901 81-jährig starb, trauerten Menschen überall auf der Welt um die „Großmutter Europas“. Über 63 Jahre saß sie auf dem englischen Thron, ein Rekord, den erst ihre Ururenkelin Elisabeth II 2015 brach. Sie war Oberhaupt des größten Reiches der Menschheitsgeschichte und regierte über mehr als ein Viertel des Erdballs. Ihre Rolle als konstitutionelle Monarchin war nirgends schriftlich fixiert, doch hatte sie das Recht, gehört zu werden, zu bestärken und zu warnen. Sie verfügte zumindest in späteren Jahren über ein großes Gespür für die öffentliche Meinung, mischte sich stark in die Politik ein und schikanierte viele ihrer Premierminister. Die Tragödien ihrer Regierungszeit hat sie mit zu verantworten: die verheerende irische Hungersnot, die Kolonialkriege u. a. in Afrika, Indien und Afghanistan, das Massensterben indigener Völker beispielsweise in Kanada und Südamerika, die Duldung der türkischen Gräueltaten in Bulgarien und die fortdauernden sozialen Missstände in England.

Schon die Geschichte ihrer Thronbesteigung ist bemerkenswert, denn es brauchte einige familiäre Katastrophen, damit sie als Nummer fünf der Thronfolge mit 18 Jahren Königin wurde. Nach einer unglücklichen Kindheit genoss sie ihre Krönung 1837 und die anfängliche “Reginamania“, nur um 1840 ihren Cousin Albert von Sachsen-Coburg und Gotha zu heiraten und ihm, der beharrlich danach strebte, sukzessive die Macht zu überlassen, nicht zuletzt wegen ihrer neun Schwangerschaften. Sie vergötterte ihren gebildeten, gutaussehenden, stets kränklichen Mann, einen Workaholic, und die Ehe war – trotz Differenzen – eine der großen Romanzen der neueren Geschichte. Über seinen frühen Tod 1861 kam sie nie hinweg, trug von da an Witwentracht, trauerte lebenslang hemmungslos, ostentativ und laut und entwickelte eine Sozialphobie. Die Rolle ihres schottischen Dieners John Brown, der sich von 1864 bis zu seinem Tod 1883 ständig in ihrer Nähe aufhielt, gibt bis heute Anlass zu Spekulationen. Dass Julia Baird für diese Biografie Details dazu aus den Papieren von Victorias Leibarzt zitiert, hätte die königliche Familie gern verhindert.

Verschiedene Aspekte des Buches sind besonders interessant dargestellt, so die Verheiratung von Victorias Nachkommen in zahlreiche europäische Königshäuser. Tragisch war vor allem das Schicksal ihrer ältesten Tochter Vicky als unglückliche Frau des kurzzeitigen deutschen Kaisers Friedrich Wilhelm und Mutter von Wilhelm II, daneben die Tatsache, dass die Nachfahren Victorias die Bluterkrankheit ins russische und spanische Herrscherhaus brachten. Überrascht hat mich die Haltung der mächtigsten Frau der Welt zur Frauenfrage: Suffragetten, allgemeine Frauenrechte und das Frauenwahlrecht lehnte sie strikt ab, genauso wie Demokratiebestrebungen. Religiöse Toleranz und Tierschutz lagen ihr dagegen am Herzen.

Die 500 Seiten Text, 100 Seiten Anhang, einen Stammbaum und zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen umfassende Biografie der australischen Historikerin und Journalistin Julia Baird ist informativ und mit Zitaten gespickt. Allerdings hätte ich mir Straffungen gewünscht, denn nicht jede Auseinandersetzung Victorias mit ihren Premierministern und jeder Schnupfen verdienen Erwähnung. Außerdem war mir der Text an manchen Stellen zu romanhaft, wenn beispielsweise ausführlich beschrieben wird, wie der französische Bürgerkönig sich rasiert und im Spiegel betrachtet – das gehört für mich nicht in ein Sachbuch. Dagegen ist die Darstellung von Victorias widersprüchlichem Wesen, ihren Stärken und Schwächen und ihrem Spagat zwischen Familie und Thron gelungen.

Ob Julia Bairds Ziel, Victoria der Legendenbildung zu entreißen und die historische Zensur durch ihre Nachkommen zu revidieren, gelungen ist, müssen Historiker entscheiden. Eine lesenswerte, zugleich Ausdauer fordernde Biografie ist das Buch allemal.

Veröffentlicht am 26.10.2018

Man erfasst einen Menschen nie ganz

Lempi, das heißt Liebe
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Wer war Lempi und was ist mit ihr geschehen? Zu Beginn erscheint sie verschwommen wie die Frau auf dem unscharfen Cover, das hervorragend zu diesem Roman passt. Drei Personen erzählen in der Du-Perspektive ...

Wer war Lempi und was ist mit ihr geschehen? Zu Beginn erscheint sie verschwommen wie die Frau auf dem unscharfen Cover, das hervorragend zu diesem Roman passt. Drei Personen erzählen in der Du-Perspektive und im Präsens über sie: ihr Mann Viljami, mit dem sie ein halbes Jahr bis zu seiner Einberufung zusammengelebt hat, ihre Magd Elli und ihre Zwillingsschwester Sisko. Mit jeder Stimme wird das Bild schärfer – und doch hat Sisko sicher recht: „Man erfasst einen Menschen nie ganz.“

Das ausgezeichnete Nachwort der Übersetzerin Elina Kritzokat hilft bei der historischen Einordnung des Romans, denn über das Schicksal Lapplands im Zweiten Weltkrieg wusste ich leider wenig. Um sich nach dem Winterkrieg gegen Russland 1939 und dem Verlust von Teilen Ostkareliens vor weiteren russischen Angriffen zu schützen, ging Finnland von 1941 bis 1944 eine Waffenbruderschaft mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich ein. Finnen und Deutsche lebten und kämpften gemeinsam, bevor sie 1944 zu Feinden wurden. Finninnen, die sich mit Wehrmachtssoldaten eingelassen hatten, waren nun plötzlich Huren und Landesverräterinnen, ihre Kinder Bälger.

Während Sisko sich in einen Deutschen verliebt und von einer Zukunft in Hamburg träumt, will Lempi lieber einen Mann, der am Leben ist und Finnisch spricht. Sie, die temperamentvolle, mutige Kaufmannstochter mit Abitur heiratet mehr oder weniger zufällig den jungen Bauern Viljami und zieht nach Pusuoja am See Korvasjärvi. Der traut seinem Glück kaum, stellt die Magd Elli ein und verbringt einige traumhafte Monate mit Lempi auf seinem Hof. Als er seine Einberufung erhält, bleibt die schwangere Lempi mit der Magd auf dem Hof zurück. Er sieht seine Frau nie wieder, denn als er äußerlich unversehrt, aber durch die Nachricht von Lempis Verschwinden als gebrochener Mann zurückkehrt, findet er nur seinen Sohn Aarre, Lempis Pflegekind Antero und die Magd Elli vor.

Die drei Erzählstimmen des Romans liefern ganz unterschiedliche Perspektiven. Viljami berichtet in anrührender Weise über sein unfassbares Glück und die anschließende tiefe Verzweiflung und Trauer, Ellis legt ein Zeugnis des Hasses und der Eifersucht ab und präsentiert eine ganz andere Lempi, eine „nichtsnutzige Stadtgöre, verwöhnte, faule, wichtigtuerische „Samtsaumschlampe“, und Sisko, die elf Minuten jüngere Schwester, erzählt als alte Frau im Rückblick von der gemeinsamen Jugend und der innigen Verbundenheit, aber auch Rivalitäten, bis sie sich beide für so ganz unterschiedliche Männer entschieden. Ihr Bericht umfasst den größten Zeitraum und ist zugleich ein berührendes Dokument über das Schicksal der finnischen Wehrmachtsbräute.

Lempi, das heißt Liebe“ ist ein vielschichtiger Roman mit immer neuen überraschenden Wendungen, raffiniert aufgebaut und großartig erzählt. Es lohnt sich, nach dem Ende einige Stellen nochmals zu lesen, denn ich habe manches Detail erst beim zweiten Mal voll und ganz verstanden. Je mehr ich über Lempi erfuhr, deren Name im Altfinnischen „Liebe“ bedeutet, desto faszinierter war ich von diesem Debütroman der 1974 geborenen finnischen Bloggerin und Autorin Minna Rytisalo, die dafür zu Recht in ihrer Heimat mit Preisen bedacht wurde. Die Verflechtung individueller Schicksale vor dem Hintergrund der finnischen Geschichte ist großartig gelungen und eindeutig eines meiner Lesehighlights 2018.

Veröffentlicht am 17.10.2018

Schöne Vorlesegeschichten zwischen Realität und Fantasie

Glückstage unterm Apfelbaum – Geschichten von Minna
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28 kurze Vorlesegeschichten für Mädchen ab fünf Jahren hat Kathrin Rohmann unter dem Titel „Glückstage unterm Apfelbaum“ zusammenfasst. Im Mittelpunkt steht die fantasiebegabte siebenjährige Minna, die ...

28 kurze Vorlesegeschichten für Mädchen ab fünf Jahren hat Kathrin Rohmann unter dem Titel „Glückstage unterm Apfelbaum“ zusammenfasst. Im Mittelpunkt steht die fantasiebegabte siebenjährige Minna, die jede Menge aufregende Dinge erlebt. Nicht immer sehen die Erwachsenen, was Minna sieht, nicht Willi mit dem Ruderboot, der nachts von Kartoffelpuffer-Insel zu Kartoffelpuffer-Insel durch ihr Zimmer rudert, nicht Anton, der mit seinem rauchenden, kaputten Auto unter ihrem Kleiderschrank hervorrumpelt und dringend eine Mechanikerin braucht, nicht die Blaubeer-Prinzessin, die entführt werden möchte, nicht den Chor der Wassergeister am Strand und nicht den kleinen Großwesir mit seinem Kamel, der einen neuen fliegenden Teppich braucht. Minna sieht sie alle - und noch viele mehr -, hilft ihnen kreativ aus der Patsche und kann sich nur darüber wundern, wie wenig Ahnung doch die Erwachsenen haben!

Wenn Minna keine Fantasieabenteuer erlebt, ist sie ein ganz normales, liebenswertes Mädchen mit guten Freunden, verständnisvollen Eltern, einer tollen Oma, Schule, Ferien am Meer und Alltagsproblemen, mit denen sich die kleinen Zuhörerinnen gut identifizieren können. Mal ist Minna traurig wegen der Oma, die weit weg ans Meer gezogen ist, mal glücklich, als sie sie besuchen kann, mal freut sie sich über die Kartoffelpuffer, die die Mutter für sie gemacht hat, mal muss sie einen Streit ihrer Eltern aushalten und mal freut sie sich, ihre Freunde nach den Ferien wiederzusehen. Auch die erwachsenen Vorleser kommen auf ihre Kosten, wenn Minna und ihre Mutter beim täglichen Weg zum Strand trotz Papas Protesten nie an Herrn Plastikowskis Strandparadies vorbeikommen...

Yayo Kawamura hat mit ihren sehr zahlreichen, fröhlich-bunten Illustrationen den Ton der Geschichten gut getroffen, sodass nicht nur das Zuhören, sondern auch das Betrachten des Buches Spaß macht – und für gute Leserinnen ab Ende der zweiten Klasse natürlich das Selberlesen.

Veröffentlicht am 16.10.2018

Zwischen zwei Welten

Unverfrorene Freunde
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Seit fast 30 Jahren arbeitet der Meeresbiologe Klemens Pütz als Pinguinologe und verbringt dafür jedes Jahr mehrere Monate im subantarktischen Raum, dem entlegensten, kältesten, stürmischsten, trockensten, ...

Seit fast 30 Jahren arbeitet der Meeresbiologe Klemens Pütz als Pinguinologe und verbringt dafür jedes Jahr mehrere Monate im subantarktischen Raum, dem entlegensten, kältesten, stürmischsten, trockensten, isoliertesten und lebensfeindlichsten Kontinent. Damit ist er gleich seinen Forschungsobjekten ein Wanderer zwischen zwei Welten: Während er zwischen Bremerhaven und der Antarktis pendelt, wechseln die Pinguine zwischen Land und Meer. Kein Job für Weicheier, eher unromantisch, dafür aber auch niemals langweilig, wie er selbst es zusammenfasst, denn Pinguine leben unter extremen Bedingungen und vollbringen dafür unglaubliche Anpassungsleistungen. Als freier Pinguinforscher ist Klemens Pütz keiner universitären Bürokratie unterworfen und kann sich seine Themen selbst aussuchen, unterstützt von der Stiftung Antarctic Research Trust (ART), an deren Gründung er 1997 beteiligt war. Er betreibt Grundlagenforschung, Schwerpunkt ist das Verhalten der Pinguine auf See, wo sie 70 Prozent ihrer Zeit verbringen. Mit Sendern werden die Wanderungsrouten aufgezeichnet, mittels Magenspülungen untersucht, was sie unterwegs fressen. Die Arbeit besteht aus einer für mich erstaunlichen Mischung aus Hightech und sehr kreativer Improvisation, beides gut verständlich beschrieben. Ziel ist die Gewinnung von Daten, die sich vor allem für den Artenschutz einsetzen lassen, denn fast überall gehen die Pinguinpopulationen zurück. Dabei ist Klemens Pütz kein Aktivist, sondern Pragmatiker durch und durch, sucht überall Mittel und Wege zur Mitgestaltung und kennt keine Berührungsängste zu Wirtschaft, Politik und Tourismus. Trotz aller Sorgen um das Klima und die Folgen für "seine" Pinguine erkennt er auch Erfolge, was mir beim Lesen Hoffnung gemacht hat.

Ein Hauptanliegen des Autors ist es, mit Märchen und Mythen über Pinguine aufzuräumen, denn die Realität ist spannender als jedes Klischee. So habe ich beispielsweise erfahren, dass die befrackten Vögel keineswegs treu und monogam leben, dass Pinguinkolonien keine sozialen Verbände, sondern Zweckgemeinschaften sind, und dass man die charaktervollen Vögel weder nett noch niedlich nennen darf. Wahr ist dagegen, dass in der Pinguincommunity die Gleichberechtigung dank der bei beiden Geschlechtern vorhandenen Brutfalte vollständig umgesetzt ist, womit sie uns eindeutig eine Schnabellänge voraus sind.

"Unverfrorene Freunde" besteht hauptsächlich aus drei Teilen: „Pinguine an Land“, „Pinguine im Wasser“ und „Welt im Wandel – Pinguine in Gefahr“, zwischendurch bleibt Zeit für den interessanten persönlichen Werdegang des Autors. Zwei ausführliche Bildteile, die einerseits die arktische Tierwelt, andererseits den Forscher in Aktion zeigen, mehrere Zeichnungen und Karten, graue Kästen mit Informationen zu Begriffen wie „Subantarktis“, „Krill“, „Falklandkrieg“ oder „Antarktisvertrag“, eine Übersicht über den Grad der Gefährdung der 18 Pinguinarten sowie ein kleines Literaturverzeichnis runden dieses ebenso informative wie ausgesprochen unterhaltsame, oft in flapsigem Ton verfasste Sachbuch ab. Und da laut Klemens Pütz der Mensch das am ehesten zu schützen bereit ist, was er kennt, leistet dieses Buch hoffentlich auch einen wichtigen Beitrag zum Überleben der Pinguine. Ohne sie wäre unsere Welt um eine bedeutende Attraktion ärmer.

Veröffentlicht am 09.10.2018

Zwei Mütter und doch Waise

Arminuta
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Im Sommer 1975 gerät das Leben der 13-jährigen namenlosen Ich-Erzählerin ohne Vorwarnung aus den Fugen. Die Menschen, die sie bisher für ihre Eltern gehalten hat, die ihr ein sorgloses Leben mit Ballett- ...

Im Sommer 1975 gerät das Leben der 13-jährigen namenlosen Ich-Erzählerin ohne Vorwarnung aus den Fugen. Die Menschen, die sie bisher für ihre Eltern gehalten hat, die ihr ein sorgloses Leben mit Ballett- und Schwimmunterricht und ein bequemes Haus am Meer geboten haben, schicken sie zu ihren unbekannten biologischen Eltern zurück, von denen sie bisher nichts wusste. Oder fordern ihre wirklichen Eltern, die sie mit sechs Monaten diesem entfernt verwandten, ungewollt kinderlosen Paar überlassen haben, sie zurück? In der fremden Umgebung und bei der neuen „Zwangsfamilie“ fühlt sie sich „aufgenommen wie ein Unglück“, „allen im Weg, nur ein Esser mehr“. Das Leben im Dorf unter bitterarmen, bildungsfernen und oft gewalttätigen Verhältnissen ist ihr fremd. Als Einzelkind hat sie es nicht gelernt, sich gegen ihre neuen Geschwister zu verteidigen. Selbstzweifel plagen sie: Hat sie etwas falsch gemacht, wurde sie deshalb zurückgeschickt? Oder ist die Adoptivmutter, die zuletzt krank war, inzwischen gar gestorben? Sie vermisst schmerzlich ihre Freundin, ihr altes Leben, aus dem sie so plötzlich verbannt wurde, und natürlich ihre „Meermutter“: „Mit zwei lebenden Müttern wurde ich zum Waisenkind.“ „Arminuta“ wird sie im Dorf genannt, „die Zurückgekommene“.

„Arminuta“ ist ein psychologisch sehr anrührender Roman über die Folgen von Geheimniskrämerei der Erwachsenen gegenüber Kindern. Eigentlich möchte man das Mädchen schonen („Du warst noch viel zu klein für die Wahrheit.“), doch ist gerade dieses Verschweigen neben den äußeren Umständen des Ortswechsels die Hauptursache für ihre Verzweiflung. Sie fühlt sich zurecht als Spielball zwischen zwei Familie und von den Erwachsenen verraten. Da ich genau wie das Mädchen die wahren Umstände sehr lange nicht durchschaut habe, war die Geschichte äußerst spannend und rätselhaft für mich.

Sehr gut gefallen hat mir neben der klaren Sprache, wie die Ich-Erzählerin trotz ihrer Verzweiflung nie im Selbstmitleid versinkt, sondern an den Umständen wächst. Ihre schulischen Leistungen, ihr Fleiß und die Aussicht auf den Besuch des Gymnasiums geben ihr Halt genauso wie die enge Beziehung zu ihrer jüngeren, praktisch veranlagten Schwester, die sich während der Turbulenzen als größter Gewinn entpuppt. Nicht ganz überzeugt hat mich dagegen die Darstellung der sexuellen Übergriffe durch den 18-jährigen Bruder, die die 13-Jährige unbegreiflicherweise nicht zurückweist. Die fehlende Geschwisterbeziehung war für mich hier als Begründung unbefriedigend und das Thema zu oberflächlich betrachtet. Außerdem hätte ich gerne mehr über das weitere Leben der Ich-Erzählerin erfahren, die auf die Jahre 1975 und 1976 zurückschaut, aber leider nur ganz wenige Andeutungen über die Zeit danach macht. Viel mehr, als dass Schlaflosigkeit, Leere und Angst zu ihren ständigen Begleitern gehören, erfahren wir nicht.

Insgesamt kann ich diesen in Italien bereits preisgekrönten, knapp über 200 Seiten starken Roman jedoch unbedingt empfehlen. Ich werde sicherlich noch weitere Bücher von Donatella di Pietrantonio lesen.