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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.09.2023

Sowjetisches Frauenleben

Das Pferd im Brunnen
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Vor den Augen der Leser entfaltet sich das Leben von drei Generationen sowjetischer Frauen, geschildert von der Erzählerin, die ihre Heimat bereits in der Kindheit verlassen hat und nun als Erwachsene ...

Vor den Augen der Leser entfaltet sich das Leben von drei Generationen sowjetischer Frauen, geschildert von der Erzählerin, die ihre Heimat bereits in der Kindheit verlassen hat und nun als Erwachsene sich behutsam herantastet, die Verflechtungen innerhalb ihrer Familie aufzudecken. Auf diese Weise ergibt sich eine hochartifizielle Komposition. Gelegentlich tritt das personale Erzählen in den Vordergrund, wenn die namenlos bleibende Erzählerin ihre subjektive Perspektive, ihre Außensicht verbalisiert. Dann wiederum konzentrieren sich die Kapitel auf jeweils eine Protagonistin: Tanja, Nina, Lena - Urgroßmutter, Großmutter und Mutter. Jede Generation verkörpert jeweils eine Phase weiblichen Selbstverständnisses im historischen Kontext der Sowjetunion. Die Lektüre vermittelt diese Einsichten in einer ungemein poetischen Sprache, stilistisch bieten diese in sich abgeschlossenen Kapitel eine große Variationsbreite. Ein Buch, das ebenso ambitioniert wie erhellend ist, emotional berührend und atmosphärisch dicht.

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Veröffentlicht am 10.08.2023

Zeitgeschichtlicher Roman oder Krimi?

Sekunden der Gnade
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Ungeheuer spannend ist dieser Roman, keine Frage.

Der Leser wird zurückversetzt in eine brisante Phase der amerikanischen Geschichte. Ein Ergebnis der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre war die Erscheinung ...

Ungeheuer spannend ist dieser Roman, keine Frage.

Der Leser wird zurückversetzt in eine brisante Phase der amerikanischen Geschichte. Ein Ergebnis der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre war die Erscheinung des ‚busing‘, das den Hintergrund dieses Romans bildet.

Im Zentrum des Geschehens steht im Boston des Jahres 1974 die irisch-stämmige Unterschicht, repräsentiert durch die zähe Mary Pat, die gewillt ist, mit allen Mitteln das Verschwinden ihrer Tochter Jules aufzuklären. Flankiert wird diese singuläre Frauengestalt durch die vielgestaltigen Vertreter eines Kleinkriminellentums wie auch der organisierten Kriminalität.

Im Kontrast steht dazu das Leid einer schwarzen Familie, die ihrerseits ihren Sohn im diesem Wirrwarr der aufgeheizten Atmosphäre verliert, ein stilleres, verhaltener erlebtes Leid als Mary Pat herausgeschrienes Unglück.

Die von Dennis Lehane erzählte Geschichte hat den Ehrgeiz, zwei literarische Genres zu verknüpfen: den zeitgeschichtlich grundierten Roman und den Krimi. Über weite Strecken gewinnt der Leser den Eindruck, dass die Krimihandlung gegenüber der Schilderung des historischen Hintergrunds die Oberhand gewinnt. Wie dieser Tatbestand beurteilt wird, hängt von der individuellen Erwartungshaltung bei der Lektüre ab!

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Veröffentlicht am 15.07.2023

Bigottes Klima

Kontur eines Lebens
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Die junge Frieda tritt dem Leser in ihrem beengenden Umfeld im frommen Holland der Sechzigerjahre als erstaunlich sinnliche Frau entgegen, die ihr heimliches Liebesglück mit einem verheirateten Mann frappierend ...

Die junge Frieda tritt dem Leser in ihrem beengenden Umfeld im frommen Holland der Sechzigerjahre als erstaunlich sinnliche Frau entgegen, die ihr heimliches Liebesglück mit einem verheirateten Mann frappierend rückhaltlos genießt. Als sie jedoch trotz der begrenzten damals verfügbaren Verhütungsmittel schwanger wird, erlebt sie die Unmenschlichkeit der Verhältnisse, die ihr sowohl in ihrer eigenen Familie wie in der gesamten Gesellschaft entgegenschlägt. Eindringlich wird die Bigotterie der katholischen Sphäre, ihre Verlogenheit, die Lebens- und Menschenfeindlichkeit einer Religion geschildert, die weder Verständnis, geschweige denn Trost oder Hilfe zu spenden bereit ist. Im Bewusstsein der alten Frieda, am Ende ihres Erdendaseins angelangt, kämpfen sich die Erinnerungen an die Oberfläche, und ihre schroffen Charakterzüge, die stets eine Belastung für ihre Familie gewesen sind, werden verständlich und gemildert, wenn Frieda sich der Wucht des Erlebten und Verdrängten öffnet. Der Roman stellt eine subtile Abrechnung dar mit einer Zeit, einer Gesellschaft, einer religiös begründeten Unterdrückung. Allein der inneren Stärke der Heldin ist es geschuldet, dass all diese negativen Kräfte sie nicht zu brechen vermochten.

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Veröffentlicht am 25.02.2023

Geschichte und Geschichten

Sibir
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Ein Kapitel deutscher Geschichte, das die meisten Leser reichlich ratlos zurücklassen dürfte, wird Gegenstand eines Romans.

Wer ist denn schon während des Schulunterrichts, geschweige denn später mit ...

Ein Kapitel deutscher Geschichte, das die meisten Leser reichlich ratlos zurücklassen dürfte, wird Gegenstand eines Romans.

Wer ist denn schon während des Schulunterrichts, geschweige denn später mit der deutschen Besiedelung des Ostens, mit der grausamen Verfolgung dieser Minderheit durch das Sowjetregime während des 2. Weltkriegs, mit dem bundesrepublikanischen Angebot der Rückkehr ins Land der Väter in Berührung gekommen?

Sabrina Janesch gelingt es, in einem feinen Geflecht alle Aspekte dieser Thematik zu verknüpfen. Souverän springt sie zwischen den Zeitebenen hin und her, was bei der Lektüre höchste Aufmerksamkeit erfordert.

So bemüht sich die erwachsene Protagonistin, die verschütteten Erinnerungen des in der Demenz versinkenden Vaters wieder ans Tageslicht zu befördern, wozu sie als Teenager, in vertrautester Bindung zu ihm, die Jugendjahre in der sozialen Isolation in der norddeutschen Provinz erneut durchlebt. Die enge Beziehung zum Jugendfreund, mit ähnlichem biographischen Hintergrund wiederum weist zurück auf die vergangene Freundschaft des Vaters zum kasachischen Freund während der Deportation.

Janesch legt eine ungeheure Sprachartistik an den Tag, die alle zeitlichen Ebenen dieses Romans ungemein plastisch hervortreten lässt. Die Kontraste der unterschiedlichen Lebenserfahrungen der einzelnen Personen ziehen den Leser in ihren Bann, historische Momentaufnahmen schaffen schroffe Gegensätze. Gekonnt, wie kleinste Mosaiksteinchen der Autorin den Anlass bieten, wieder und wieder einen rasanten Szenenwechsel zu vollziehen.

Ein lohnendes Lektüreerlebnis für Leser, die sich von Geschichte ebenso wie von Geschichten fesseln lassen!

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Veröffentlicht am 05.02.2023

Lebensthema der Autorin in neuem Gewand

Unsre verschwundenen Herzen
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Lebensthema der Autorin in neuem Gewand
Celeste Ng bleibt ihrem Thema treu: selbst betroffen, lotet sie immer wieder die Lebenssituation der asiatisch-stämmigen Minderheit in den USA aus. In ihrem letztem ...

Lebensthema der Autorin in neuem Gewand
Celeste Ng bleibt ihrem Thema treu: selbst betroffen, lotet sie immer wieder die Lebenssituation der asiatisch-stämmigen Minderheit in den USA aus. In ihrem letztem Buch allerdings wendet sie sich einem neuen literarischen Genre zu: der Dystopie. Die Gesellschaft lebt unter dem Gesetz PACT, das unamerikanische Tendenzen und Gefährdungen unterbinden soll, die in erster Linie den Mitbürgern asiatischer Herkunft unterstellt werden. Der zwölfjährige Bird, dessen Mutter einer aus China eingewanderten Familie entstammt, führt mit seinem WASP-Vater eine depravierte Existenz, da das Misstrauen der Umgebung auch nach dem Verschwinden der Ehefrau und Mutter nicht beschwichtigt wird. Die Autorin bemüht allerlei aus der literarischen Tradition bekannten Motive und Versatzstücke, die beim Leser durchaus Erinnerungen an bekannte Werke der Weltliteratur wachrufen. Manche Figuren erscheinen in ihrer Gestaltung psychologisch überzeugend, so der seine wahren Überzeugungen verbergende Vater, dessen vorrangiges Lebensziel ist, seinen Sohn zu schützen. Andere Protagonisten geraten allzu plakativ. So leidet insgesamt die Plausibilität unter dem intendierten Effekt, manche Wendungen sind allzu melodramatisch. Lesenswert ist Ngs „Die verschwundenen Herzen“ jedoch allemal, da immer wieder ungemein poetische Momente aufscheinen, die den Kampf um Menschenwürde und Existenzberechtigung in einer bornierten und intoleranten Gesellschaft illustrieren.

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