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Veröffentlicht am 16.08.2017

flott, facettenreich und süffig

Das Mädchen aus Brooklyn
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Mussos „Mädchen aus Brooklyn“ ist genau der richtige Lesestoff für zwei Urlaubsnachmittage im Liegestuhl: flott, facettenreich, süffig und nicht zu anspruchsvoll. Ich habe das Buch gemocht und schnell ...

Mussos „Mädchen aus Brooklyn“ ist genau der richtige Lesestoff für zwei Urlaubsnachmittage im Liegestuhl: flott, facettenreich, süffig und nicht zu anspruchsvoll. Ich habe das Buch gemocht und schnell gelesen; es fiel mir leicht, einfach über die Plotlücken hinwegzuspringen und die hanebüchenen Dimensionen hinzunehmen, die die Story annimmt. Weil es nämlich Spaß macht.
Raphael liebt Anna, die ein dunkles Geheimnis in ihrer Vergangenheit verbirgt. Als sie es zu offenbaren versucht, eskaliert es. Anna verschwindet, Raphael sucht sie und hetzt den Spuren hinterher, die in die Abgründe von Annas Vergangenheit führen. Ein unbeschreibliches Verbrechen liegt dort verborgen, in das alle Figuren des Romans verwickelt sind und das sich nach klassischem Ermittlungsmuster Stück für Stück enthüllt. Raphaels unschätzbarer Helfer ist der Ex-Polizist Marc, dessen Erfahrung, Spürsinn und alte Kontakte dem findigen Krimiautoren Raphael bis ans Ziel führen. Des Rätsels Lösung findet sich nicht nur in Frankreich, sondern auch in der amerikanischen Vergangenheit des „Mädchens aus Brooklyn“.
Die Handlung spannt sich vor dem Wahlkampf in den USA auf, indem die Demokraten und Republikaner um die Nachfolge Barrack Obamas kämpfen. Die alternativen Fakten des Romans, der noch vor dem Wahlergebnis erschienen ist, wollen es, dass nicht Donald Trump als Herausforderer Hillary Clintons für die Republikaner in das Rennen geht, sondern Tad Copeland.
Ich fürchte, es ist vor allem die Brisanz dieses Wahljahres, die Musso bewogen hat, die Hintergründe seiner Handlung in die Vereinigten Staaten zu verlegen und das Politikerpersonal in die Geschichte einzubinden: Hier geht es meines Erachtens um PR für Mussos Roman, um eine scheinbare Aktualität als Anhängsel zum realen politischen Skandal der Trump-Wahl. Der Roman hätte nicht nur ohne die amerikanischen Ausflüge gut funktioniert, er hätte besser funktioniert. Es sind genau diese Momente im Roman, über die man lieber schnell hinwegliest, als sie exakt zu hinterfragen: „Ach, der Clinton-Herausforderer also, drunter ging es nicht?“ Oder gleich zu Beginn: „Aha, er sieht ein schlimmes Bild (das der Leser ärgerlicherweise nicht sehen darf) und fragt nicht, was das ist, sondern haut erst mal ab?“ Glaubhafte Figuren reagieren nicht so. Romanfiguren aber, die eine bestimmte Handlung motivieren sollen, weil der Autor das so will, müssen das tun.
Egal - selbst Marcs Geschichte, die zum Ende hin hanebüchene Wendungen nimmt - schmälert nicht das Lesevergnügen, dieses Romans, der seinem Anspruch, seine Leser unterhalten zu wollen, absolut gerecht wird.

Veröffentlicht am 16.08.2017

Ein Buch so recht dazwischen: weder Fisch noch Fleisch

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer
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Da hat sich Alex Capus aber viel Mühe gegeben, die Lebensläufe dreier Menschen zusammenzumontieren, indem sie alle zur selben Zeit am selben Ort waren: im November 1924 am Züricher Hauptbahnhof. Und was ...

Da hat sich Alex Capus aber viel Mühe gegeben, die Lebensläufe dreier Menschen zusammenzumontieren, indem sie alle zur selben Zeit am selben Ort waren: im November 1924 am Züricher Hauptbahnhof. Und was ist der Witz? Dass das wahrscheinlich wirklich die einzige Gemeinsamkeit der drei ist - und die ist auch noch mit grobem Werkzeug zurechtgezimmert.

Wer sind die drei? Der „Fälscher“ Emile Gilliéron, die „Spionin“ Laura d’Oriano und der „Bombenbauer“ Felix Bloch. Ihrer drei Leben werden versetzt zueinander in kurzen Abschnitten erzählt, ausgehend von jenem Moment am Züricher Hauptbahnhof. Capus greift in die Jugend der drei voraus und erzählt, woher sie kommen, um dann nachzuzeichnen, wohin sie gehen.

Felix Bloch entstammt kleinen schweizerischen Verhältnissen, studiert theoretische Physik in Zürich und in Leipzig bei Heisenberg, um vor den Nazis nach Stanford in den USA zu fliehen. Dort sammelt Robert Oppenheimer seine Pappenheimer, also die Spezialisten der Teilchenphysik, die er noch aus seiner Göttinger Zeit kennt, und alle anderen, die sich aus gutem Grund gegen Nazideutschland zusammentun, um die schrecklichste Waffe der Menschheitsgeschichte zu bauen: die Atombombe. Also auch Bloch, der nach dem Krieg den Physik-Nobelpreis für die Entdeckung der Kerninduktion erhält. Blochs Leben ist gut dokumentiert, weshalb Capus aus dem Vollen schöpfen kann. Er verlegt den Schwerpunkt des Bloch-Erzählungsstrangs auf die Motivation des Schweizers, sich für die theoretische Physik zu entscheiden, auf die Gedankenwelt eines jungen Mannes im Konflikt mit den handfesten Vorstellungen seines Vaters und der eigenen Neigung zum Maschinenbau. Ein zweiter erzählerischer Schwerpunkt entsteht im Austausch mit Oppenheimer und der Frage, ob man die Bombe bauen kann und soll. Hier hätte man sich noch ein wenig mehr Reflexion des Pazifisten Bloch gewünscht, aber zum Thema fehlender Reflexion unten mehr.

Laura d’Oriano wird in eine kosmopolitische Künstlerfamilie geboren, die im nördlichen mediterranen Raum zu Hause ist. Sie hat das Gesangstalent ihrer Mutter geerbt, scheitert aber in Paris in ihrer professionellen Ausbildung. Sie strandet in Marseille, verdient ihren Lebensunterhalt als Verkäuferin in einer Musikalienhandlung und tritt immer wieder auf. Ihre Verwandlungskunst aus der Bühne ist eine Facette ihres künstlerischen Erbes, das ihr auch beim verkaufen zugute kommt - und als Spionin. Ehe sie aber im faschistischen Italien im Zweiten Weltkrieg als Spionin gefangen genommen und als einzige Frau in der Geschichte des Landes hingerichtet wird, lernt sie den Vater ihrer beiden Töchter können, einen windigen und weichen Bauernsohn, an dessen Seite Laura ins Elend rutscht, dass sich schließlich in Bottighofen in der Schweiz befindet. Aus der Enge dieser elenden Provinz entflieht Laura und lässt ihre Kinder zurück. Erneut verdingt sie sich als Verkäuferin und Sängerin, bis der französische Untergrund auf die aufmerksam wird und Lauras Fähigkeiten in der Spionage einsetzt. Ein Hauch von Mata Hari weht durch Lauras Geschichte, doch lässt Capus ihn weitestgehend vorüberstreichen. Momente der Reflexion, über die man hier gern mehr gelesen hätte, sind Lauras Entscheidungen, ihre Kinder bei ihrem Mann zurückzulassen, und sich in den Dienst des Widerstands gegen Nazi-Deutschland zu stellen. Warum tut sie das?

Beim dritten Erzählstrang handelt es sich um das Leben von Emile Gilliéron, wobei es davon zwei gab: Vater und Sohn. Der Sohn hatte den Vater an jenem denkwürdigen Tag am Züricher Hauptbahnhof dabei, allerdings als Häuflein Asche in der Urne. Die Gilliérons besaßen großes Zeichentalent und setzten es ein, um die Entdeckungen, Ausgrabungen und Erkenntnisse der damals boomenden Archäologie in Szene zu setzen. Dabei erlaubten sie sich künstlerische Freiheiten in der Schließung der Überlieferungslücken, indem fehlende Stücke in Fresken oder Vasenbildern munter gefüllt wurden. Dabei halfen sie den Ausgrabungsgiganten ihrer Zeit - Heinrich Schliemann (Troja) und Arthur Evans (Knossos) - bei der Konstruktion ihrer Antikelegenden. Letztlich taten die Zeichner das, was Capus mit den Überlieferungssplittern über die drei Leben dieses Romans auch anstellt. Nicht ganz konsistent in der Geschichte Gilliérons ist, dass eigentlich zwei Leben erzählt werden, also der Roman aigentlich „Die Fälscher …“ und nicht „Der Fälscher …“ heißen müsste. Zwar erlaubt sich Capus hier mehr Introspektive in die handelnden Personen, am Ende erscheint es aber symptomatisch für die nur knapp dargestellte Reise Gilliérons, dass er früh un still im Schlaf verstirbt.

Capus ist bekannt dafür, dass er historische Quellen akribisch auswertet und daraus seine Romane strickt. im vorliegenden Fall tritt er aus der Rolle des auktorialen Erzählers auch oft heraus und kommentiert die Quellenlage dieses oder jenes Sachverhalts. Dann fällt der Tonfall plötzlich in den Konjunktiv: „Hier könnten sie …“ - „Vielleicht dachte er …“ - „Genaueres ist nicht überliefert, möglicherweise …“ Dabei wird sich Capus etwas gedacht haben, es ist ihm gewiss nicht aus Versehen passiert, dass er die Romanfiktion mit diesen Einlassungen aufbricht - oder an anderen Stellen über die Gegenwart mancher Gegenstände im Jahr 2013 berichtet. es stört aber den Lesefluss, denn der Text scheint sich nicht entscheiden zu wollen, ob er Roman oder Dokumentation sein will. Mal lauscht der Leser den Dialogen der Figuren oder den Gedanken etwa Felix Blochs in einer schlaflosen Nacht, dann wiederum muss der Leser zur Kenntnis nehmen, dass über andere Momente keine Quellen existieren - etwa ob Block und Oppenheimer sich über Los Alamos noch einmal ausgesprochen haben. Oder der Konjunktiv springt ein und muss eine mögliche Erklärung, einen möglichen Handlungsfortgang im Ungefähren ausführen. Warum ist Capus an diesen Stellen nicht Romancier und füllt die Lücken der Überlieferung mit fiktionaler Erzählung? Warum spart er Reflexionen seiner Figuren gerade an den Stellen aus, an denen Brüche und Widersprüche in den Figuren auftauchen? Deshalb nämlich bleiben alle drei unnahbar.

Das sind offene Fragen, die in guter Gesellschaft sind mit der Frage: Wieso stehen diese drei Geschichten beieinander? Gemeinsam haben die Lebensläufe lediglich die Anknüpfungen an die Schweiz und den gröblich gezimmerten Moment der Gleichzeitigkeit am Züricher Hauptbahnhof. Gemeinsam ist den Leben von Bloch, Laura und Gilliéron zwar auch, dass große Träume und Lebensentwürfe die Begegnung mit der Wirklichkeit nicht überstehen und dass schließlich immer alles anders kommt als gedacht. Aber das ist zu banal, um als Tertium comparationis ernst genommen werden zu können.

Am Ende hat sich Capus‘ Buch nicht entscheiden können, was es sein wollte: Roman oder Dokumentation. Die Geschichten wirken, als hätten sie allein nicht für ein Buch gereicht; zusammen reichen sie aber auch nicht zum Roman. Das wird nicht dadurch gerettet, dass alles schön geschrieben ist und voller eleganter Sätze glänzt.

Veröffentlicht am 16.08.2017

Ihr mögt Hoover haben - aber wir haben Nero Wolfe!

Es klingelte an der Tür
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Man muss kein linker Ultra sein, um es zu genießen, wie Nero Wolfe J. Edgar Hoover und seine Truppe - das FBI - reinlegt. Rex Stout versteht es in seinem erfolgreichsten Krimi um den fettleibigen Privatdetektiv ...

Man muss kein linker Ultra sein, um es zu genießen, wie Nero Wolfe J. Edgar Hoover und seine Truppe - das FBI - reinlegt. Rex Stout versteht es in seinem erfolgreichsten Krimi um den fettleibigen Privatdetektiv Nero Wolfe, den Leser in ein Spiel mit dem allmächtig erscheinenden FBI einzuladen und auf die Folter zu spannen: Wie wird es ihm gelingen, das FBI auszutricksen?

Den Auftrag dazu erhält er von der reichen Witwe Rachel Bruner, die sich den Zorn Hoovers zugezogen hat, als sie ein Enthüllungsbuch über die demokratisch fragwürdigen Praktiken nicht nur etwa öffentlich gelobt, sondern 10.000 Exemplare an ebenso viele bedeutende Personen in den USA versendet hat. „Sie haben sich mit dem FBI angelegt, und jetzt stecken Sie mittendrin.“ Dass sie nun den Leibhaftigen am Hals hat, soll Wolfe ändern, und sie ködert ihn mit einer Summe, die er nicht ablehnen kann. Nero nimmt an und schickt seinen Ermittler Archie Goodwin aus, um diversen Spuren nachzugehen. Der Roman trägt das Gewand von Goodwins Bericht, so dass der Leser alles aus erster Hand erfährt.

Im Mittelteil hängt die Geschichte ein wenig, weil man nicht genau versteht, warum Goodwin in einer bestimmten Mordangelegenheit ermitteln soll. Auch erfährt man von einer Falle, die Wolfe dem FBI stellt, erst, als sie zuschnappt, weshalb zugunsten der Überraschung auf erläuternde Details verzichtet wird. Aber zum Schluss versöhnt die Handlung mit der Erzählweise, und der Leser schaut dem Meister Nero Wolfe als Meister seines Faches dabei zu, wie er seinem Auftrag auf pfiffige und selbstbewusste Weise nachgeht.

Die neue Ausgabe bei Klett-Cotta erscheint mit schönem Leineneinband und mit einem hervorragenden Nachwort von Jürgen Kaube, in dem der liberale Grundgedanke erläutert wird, der dem Spiel zwischen Wolfe und FBI zugrunde liegt: Rex Stout schlägt nicht zum ersten Mal den Bürgerrechten eine Bresche, wenn es wieder einmal eine demokratische Institution damit übertreibt, „Sicherheit gegenüber Freiheit vorzuziehen“ (S. 241). Der antikommunistische Kreuzzug des Senators Joseph McCarthy war gerade zehn Jahre vorbei, als „Es klingelte an der Tür“ erschien, während Hoover immer noch - nach 40 Jahren - FBI-Direktor war, weshalb die Kriminalliteratur hier ihrem Auftrag nachkommt, gesellschaftliche Themen in den Kontext ihrer Handlung zu setzen.

Ein Wort zur Neuübersetzung: Sie ist gelungen, auch wenn Wolfes wiederkehrender Kommentar „Zufriedenstellend“ im Deutschen unpassend klingt. Überdies scheint die Übersetzerin Conny Lösch anzunehmen, ein Zentner entspräche 100 Kilogramm, denn sie nennt Wolfe einen „knapp anderthalb Zentner schweren Mann“ (S. 48), wo er doch zutreffender „300 Pfund“ wiegt (S. 176). Ein Zentner entspricht in Deutschland 50 Kilogramm, und ein anderthalb Zentner schwerer Mann wäre nur dick, wenn er 1,20 m Körpergröße hätte.

Alles in allem ein großartiger Auftakt eines oldschooled wirkenden, gerissenen Ermittlers im Auftrag zeitloser gesellschaftlicher Themen. Man kann sich nur auf die Fortsetzung der Reihe freuen!

Veröffentlicht am 16.08.2017

Der neue "Playboy of the Western World"

Der Freund der Toten
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In Jess Kidds Debütroman „Der Freund der Toten“ (orig. „Himself“) treffen irische Mythen, die rätselhafte Welt der Toten und eine spannende Mordgeschichte aufeinander. Mahony, aufgewachsen in einem Waisenhaus, ...

In Jess Kidds Debütroman „Der Freund der Toten“ (orig. „Himself“) treffen irische Mythen, die rätselhafte Welt der Toten und eine spannende Mordgeschichte aufeinander. Mahony, aufgewachsen in einem Waisenhaus, kehrt 1976 nach 26 Jahre an den Ort seiner Geburt zurück. Er hat erst jüngst erfahren, dass seine Mutter ihn damals nicht weggegeben hat, sondern dass die Bewohner von Mulderrig sie ihm genommen haben. Mahony versucht nun, dem Verschwinden seiner Mutter und seinem frühen Schickal auf die Spur zu kommen, und sucht dabei nicht nur den Mörder seiner Mutter, sondern auch seinen ihm unbekannten Vater. Unterstützt wird Mahony, ein nicht gerade sesshafter Hippie-Typ aus Dublin, der in der Provinz im County Mayo aufsehenerregend anders ist, vor allem von Mrs Merle Cauley. Sie ist eine steinalte ehemalige Bühnenschönheit mit ungewöhnlichem Humor, schrägem Charme und extravagenten Oufits. Seitdem sie in Mulderrig ist, inszeniert sie jeden Sommer ein Laientheater mit eben jenen Dorfbewohnern, unter denen Mahony den Mörder seiner Mutter vermutet.

Es ist nicht irgendein Stück, sondern „The Playboy of the Western World“ von John Millington Synge, einem der großen irischen Dramatiker, dessen Muse Mrs Cauley einst gewesen sein will. In diesem Stück geht es um einen Vagabunden, der in der westlichen Provinz Irlands als Held gilt, weil er sich seines tyrannischen Vaters entledigt haben soll, indem er ihn mit dem Spaten erschlug. Der Vater aber lebte noch, spürte den Sohn auf, und die Legende de „Helden“ sollte Wirklichkeit werden, indem der Sohn erneut mit dem Spaten zuschlagen muss. Es ist kein Zufall, dass der Vater Mahon heißt, der Held in „Der Freund der Toten“ aber Mahony; ebenso wenig, dass ein brutaler Vater-Sohn-Konflikt die Grundstruktur der Handlung bildet und der Spaten eine ganz besondere Waffe wird. Das Stück ist zwar in Irland Standardlektüre, bei uns aber eher unbekannt. Man braucht es auch nicht, um den Roman zu mögen, aber seine Kenntnis schadet auch nicht.

Mahony und Mrs Cauley - unterstützt von Mahonys Flamme Shauna und der resoluten Bridget Doosey - rücken den abweisenden Dörflern auf die Pelle, stellen ungemütliche Fragen und bringen die Phalanx des Schweigens in Wanken. Sowohl der schmierige Dorfpfarrer Quinn als auch die gewissenlose Witwe Annie Farelly sehen sich zu Gegenaktionen gezwungen, um Mahony daran zu hindern, die Schande des Dorfes, die Bluttat an Mahonys Mutter aufzudecken.

Die ungewöhnlichsten Helfer Mahonys aber sind die Geister der Toten, die allein er sehen kann, und die ihm immer wieder Tipps geben, wenn ihre aus dem Leben ins Geisterdasein geretteten Marotten sie nicht daran hindern. Dass Geister durch Mulderrigs Wände wabern, ist nur der Anfang der surrealen, fantastischen Elemente, mit denen Kidd ihre Geschichte ausstattet und ihr so einen ganz eigenen morbiden Zauber verleiht. Auch die Natur erscheint beseelt, Ratten versammeln sich, Raben sammeln Eheringe und Ruß sprüht in der Form großer Wölfe aus den Öfen. Dabei verliert die Erzählung den roten Faden nicht, sondern führt spannend an das Ende der Geschichte, das so turbulent wie - leider - vorhersehbar ist.

Sprachlich auffällig sind die Natureingänge und die aus der Natur gegriffenen Metaphern, mit denen Kidd häufig ihre Kapitel aufschließt. Damit führt sie einen Märchenton ein, der die Lektüre für die übersinnlichen Elemente empfänglicher macht.

Die Charaktere - allen voran Mrs Cauley - sind schön gezeichnet, die Atmosphäre dicht und die Handlung spannend. Getrübt wird der Gesamteindruck lediglich durch die unmotiviert grausamen Passagen, in denen Menschen erschlagen oder Tiere gequält werden, sowie durch das unklare Konzept, nach dem die Toten zu Geistern werden. Übrigens: Auf einen Geist wartet man vergeblich, nämlich auf den Geister von Mahonys Mutter.

Veröffentlicht am 16.08.2017

Two Oaks träumt von zwei Frauen

June
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„Nicht alle Häuser träumen.“ Two Oaks aber träumt, weil es selbst als Traum eines Ölmillionärs erbaut wurde und mehrere Generationen hier die Dramen ihres Daseins erlebt haben. Zwei Frauen vor allem inspirieren ...

„Nicht alle Häuser träumen.“ Two Oaks aber träumt, weil es selbst als Traum eines Ölmillionärs erbaut wurde und mehrere Generationen hier die Dramen ihres Daseins erlebt haben. Zwei Frauen vor allem inspirieren Two Oaks zum Träumen: June, die Nichte des Millionärs, und Cassie, deren Enkelin. An zwei besonderen Momenten im Leben der beiden Frauen nimmt der Leser Anteil: Als Hollywood in den kleinen Ort in Ohio kommt und mit ihm der Urknall der Liebe zwischen dem Filmstar Jack Montgomery und June und als Cassie überraschend zur Erbin von Jacks Millionen wird. Zwischen diesen Momenten liegen sechzig Jahre, in denen viel passiert: June heiratet Cassies Großvater, sie bekommen einen Sohn, Cassies Vater, der allerdings bei einem Unfall mit der Familie sich und seine Frau umbringt - und Jack Montgomery hat mehrere Ehen, zwei Töchter und eine Hollywoodleben.

Beide Frauen sind umringt von wichtigen Personen ihres Lebens: June wird von ihrer jüngeren Freundin Lindie verehrt, von der schwarzen Haushälterin Apatha still geliebt und von der Mutter Cheryl Ann in die arrangierte Hochzeit mit dem wohlhabenden Artie gedrängt. In der Woche vor der Hochzeit bricht Hollywood mit seinem Filmteam und den Stars über das Städtchen herein, von denen Jack Montgomery der berühmteste ist. der Frauenschwarm und June kommen sich näher … aber wie nahe? So nahe, dass sechzig Jahre später die fünfundzwanzigjährige Cassie zu Recht Jacks Millionen erbt, weil sie seine Enkelin ist?

Vor allem Jacks Tochter Tate, selbst ein Hollywoodstar, kann das nicht glauben, und zieht bei Cassie in Two Oaks ein, ihr kalifornisches Assistententeam im Gefolge: der schöne Nick und die blonde Hank. Cassie ist selbst in einer Lebenskrise und fühlt sich ähnlich heruntergekommen wie Two Oaks, weshalb sie mit dem möglichen Erbe eines unvermuteten möglichen Großvaters und vor allem mit den Enthüllungen über das Leben ihrer geliebten Großmutter nicht klar kommt, von er sie zeit Lebens ein ganz anderes Bild hatte, als die Ereignisse vermuten lassen.

Das Ende wartet mit einigen Überraschungen auf, verblüfft jedoch nicht, denn zu klischeehaft sind die Muster, denen Personenkonzepte und Handlung folgen. Die Zeichnung Junes als selbstbewusste Vertreterin ihrer Generation mit Opferwillen und Prinzipien ist gelungen, die Cassies als ziellose moderne Frau zwischen Allem und Nichts hingegen nicht. Die Personifizierung des Hauses Two Oaks wird überstrapaziert: Was am Anfang wie eine charmante Allegorie wirkte, entwickelt sich zu einer manierierten fixen Idee, die bei manchen vielleicht sogar ankommt. Der in der Ankündigung des Romans versprochene plötzliche Todesfall geschieht auf S. 487 und ist ein symptomatisches Indiz für das Lesegefühl: Man wird die ganze Zeit hingehalten, die Handlung wird verzögert, die Ereignisse gehemmt. Alles entwickelt sich im gewünschten Drama der Intrigen und Eifersüchteleien viel zu spät. Dabei ist der Erzählton gefällig, das Warten ist nicht über die Maßen langweilig, aber unter dem Strich eher etwas für Verzögerungsgenießer.