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Veröffentlicht am 25.04.2020

Spannende, wirklichkeitsnah scheinende postnukleare Dystopie

Der Weizen gedeiht im Süden
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REZENSION – „Realitätsnahe Bezüge mit gründlich recherchierten Fakten“ sind ihm besonders wichtig, sagt der unter dem Pseudonym Erik D. Schulz schreibende Arzt über seine Arbeit als Autor. Gleichzeitig ...

REZENSION – „Realitätsnahe Bezüge mit gründlich recherchierten Fakten“ sind ihm besonders wichtig, sagt der unter dem Pseudonym Erik D. Schulz schreibende Arzt über seine Arbeit als Autor. Gleichzeitig geht es ihm um Spannung und Unterhaltung „durch eine intensive, emotionale Zeichnung der Romanfiguren“, verbunden mit „einer Portion Optimismus, der den Leser an die eigenen Stärken glauben lässt“. Dies alles trifft auf seine im März veröffentlichte postnukleare Dystopie „Der Weizen gedeiht im Süden“ zu. Nach vier Jugendromanen hat sich Erik D. Schulz erstmals an einen Roman für Erwachsene herangewagt – und dieses Wagnis ist gelungen.
Nicht nur der 75. Jahrestag des amerikanischen Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945, sondern erst recht die derzeitigen weltpolitischen Verwerfungen durch autokratische Staatslenker, hier vor allem der Wirtschaftskonflikt zwischen den USA und China, geben diesem Roman, dessen Autor sich in seinem Hauptberuf in der Organisation Internationaler Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges und die Abrüstung atomarer Waffen (IPPNW) engagiert, eine besondere, eine fast erschreckende Aktualität. Denn auch Schulz' Roman beginnt nach einem weltweiten Atomkrieg, der durch einen Wirtschafts- und Cyberkrieg zwischen den USA und China ausgelöst wurde. Das Leben in der nördlichen Hemisphäre ist weitestgehend vernichtet, Europa ist verstrahlt und bei minus 25 Grad mit hüfthoher Schneedecke bedeckt.
In einem mit allem Lebensnotwendigen komfortabel ausgestatteten Riesenbunker in den Schweizer Alpen überleben 300 Menschen. Doch plötzlich ist das Trinkwasser verstrahlt, auf dem unterirdischen, überlebenswichtigen Weizenfeld breitet sich die Getreidepest aus und der zum Psychopathen sich entwickelnde Bunker-Leiter wird immer unberechenbarer. Um dem garantierten Strahlen- und Hungertod zu entkommen, flieht eine kleine Gruppe um den Arzt Oliver Bertram und dessen 14-jährige Tochter Annabel aus dem Bunker und findet nach mehrwöchigem abenteuerlichem und gefährlichem Weg durch die lebensfeindliche Schneewüste Europas und die Hitze Nordafrikas endlich Rettung im Sudan, allerdings nicht ohne vorher noch in einem mit tausenden europäischen Überlebenden überfüllten Flüchtlingslager dem Typhus ausgesetzt zu sein. Dennoch ist der afrikanische Kontinent, die einstige „Wiege der Menschheit“, nun die letzte Hoffnung aller Überlebenden.
Der Autor versteht es, mit seinem Roman die Leser zu packen. Die stellenweise in Einzelheiten gehenden, trotzdem nie langweilenden Schilderungen lassen den Roman absolut authentisch wirken, auch wenn märchenhaft klingt. So überrascht es doch, dass die Flüchtlingsgruppe im zerstörten Locarno nicht nur ein vollgetanktes Kleinflugzeug findet, sondern ihr Anführer sogar einen Flugschein hat, um die Gruppe komfortabel nach Afrika zu bringen. Auch wundert man sich, dass im Laufe der Flucht alle Begleitpersonen um Oliver Bertram ums Leben kommen, aber kein Mitglied seiner neu geformten „Familie“.
Doch sind dies als dramaturgische Mittel nachzusehende Punkte in dem sonst recht wirklichkeitsnah erscheinenden Roman. Dem Autor gelingt es tatsächlich, wie eingangs zitiert, die an sich selbst gestellten Forderungen zu erfüllen: Die Geschichte ist spannend und trotz der tristen Weltuntergangsstimmung noch unterhaltend. Die Figuren sind im Guten wie im Schlechten nachvollziehbar charakterisiert. Abschließend bleibt sogar der vom Autor versprochene Optimismus und tröstliche Hoffnungsschimmer eines möglichen Neuanfangs nach der Katastrophe.

Veröffentlicht am 21.04.2020

Faktenreich, historisch interessant und spannend

Weißes Feuer (Darktown 2)
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REZENSION – Noch spannender und interessanter als der erste Band „Darktown“ (2018) ist der im November im Dumont-Buchverlag veröffentlichte Folgeband „Weißes Feuer“ des amerikanischen Schriftstellers Thomas ...

REZENSION – Noch spannender und interessanter als der erste Band „Darktown“ (2018) ist der im November im Dumont-Buchverlag veröffentlichte Folgeband „Weißes Feuer“ des amerikanischen Schriftstellers Thomas Mullen (46). Wieder geht es um den täglich sichtbaren und unsichtbaren Rassenkonflikt zwischen Schwarzen und Weißen in Atlanta, Hauptstadt des Bundesstaates Georgia, im Nachkriegsjahr 1950 und um die schwierige Arbeit der ersten acht, seit 1948 im Schwarzenviertel „Darktown“ eingesetzten Negro-Polizisten. Im Unterschied zum ersten Band, der die Tage direkt nach Gründung der vom Bürgermeister aus rein politischem Kalkül um Wählerstimmen geschaffenen Polizeieinheit aus nur wenigen Afroamerikanern schildert, sind die acht Darktown-Polizisten inzwischen auch mit Pistolen ausgerüstet, was die Gefahr möglicher rassistischer und persönlicher Konflikte noch erhöht.
Ohnehin ist die Situation der Negro-Cops, wie sie von den Weißen genannt werden, schwierig genug. Einerseits gelten Afroamerikaner grundsätzlich als Bürger zweiter Klasse, andererseits sind diese Uniformträger für die meisten Bewohner Darktowns Autoritätspersonen - allerdings nicht für alle. Denn als Polizisten dem von Weißen bestimmten System zugehörig, werden sie von manchen Schwarzen wiederum nicht anerkannt. So ist auch für den schwarzen Polizisten Lucius Boggs und seinen Partner Tommy Smith, die wir wieder auf ihren nächtlichen Streifengängen sowie in ihrem privaten Alltag auf Schritt und Tritt begleiten, der Polizeidienst eine tägliche Gratwanderung. Doch in diesem zweiten Band der „Darktown“-Trilogie geht es nicht allein nur um Einzelschicksale. Vielmehr beschreibt Mullen in „Weißes Feuer“ die gesellschaftliche Gesamtsituation des Rassismus in den amerikanischen Südstaaten sowie die schrittweisen Veränderungen auch innerhalb der schwarzen Gemeinschaft: Der zwar geringe, aber doch wachsende Wohlstand ist an der steigenden Zahl von Hauskäufen abzulesen. Doch wegen fehlenden Wohnraums in den von Schwarzen bewohnten Wohnvierteln dringen erste Hauskäufer in die von Weißen bewohnten Viertel vor. Dies führt zu neuen Konflikten und letztlich zum Auftritt des Ku-Klux-Klans sowie der noch gewaltbereiteren Nazi-Gruppierung der „Columbianer“.
Autor Thomas Mullen gelingt es großartig, die gesellschaftliche Komplexität des Rassismus in den Südstaaten, dessen Auswirkungen auch heute noch immer präsent sind, in einer spannenden Handlung und in unterschiedlichen Facetten darzustellen. Wir in dieser Thematik eher unerfahrenen Leser lernen viel über das Treiben des Geheimbundes Ku-Klux-Klan und der Nazi-Gruppierungen, die vor Mord an Schwarzen nicht zurückschrecken. Wir erfahren aber auch, dass es nicht nur zwischen Weiß und Schwarz gesellschaftliche Grenzen gibt, sondern auch eine Milieu-Abgrenzung einer gebildeten, wohlhabenderen Oberschicht der Afroamerikaner zur breiten Schicht ungebildeter einfacher Arbeiter.
Bemerkenswert an dieser Darktown-Reihe ist, dass deren Autor ein Amerikaner weißer Hautfarbe ist, blieb doch dieses Thema bislang eher wenigen schwarzen Autoren vorbehalten. Andererseits mag dies aber auch Ursache mangelnder Objektivität in der Charakterisierung seiner Figuren zu sein: Bei Thomas Mullen gibt es nur „gute Schwarze“ und – bis auf zwei Ausnahmen – nur „schlechte Weiße“, allen voran die korrupten und in Verbrechen verstrickten weißen Polizisten. Sieht man aber davon ab, ist der Roman „Weißes Feuer“ trotz seines historischen Faktenreichtums ein leicht lesbarer und überaus spannender Kriminalroman. Er vermittelt seinen Lesern zugleich auf lockere Weise viel Interessantes und Wissenswertes über die Jugendzeit des damals erst 20-jährigen, in Atlanta geborenen und aufgewachsenen Prediger-Sohnes Martin Luther King (1929-1968), der wegen der in Mullens genannten Lebensumstände zum Bürgerrechtler wurde. Auf den letzten Band der Darktown-Trilogie, „Lange Nacht“, darf man gespannt sein.

Veröffentlicht am 05.04.2020

Lesenswerter Umweltroman und literarischer Genuss

Der brennende See
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REZENSION – Alles Leben kommt aus dem Wasser. Vielleicht spielt deshalb das Wasser immer wieder eine gewichtige Rolle in den so lebensnahen Werken des preisgekrönten deutschen Schriftstellers John von ...

REZENSION – Alles Leben kommt aus dem Wasser. Vielleicht spielt deshalb das Wasser immer wieder eine gewichtige Rolle in den so lebensnahen Werken des preisgekrönten deutschen Schriftstellers John von Düffel (54). „Vom Wasser“ (1998), „Schwimmen“ (2000) und „Wassererzählungen“ (2014) zeigen dies in ihren Titeln. Aber auch in „Houwelandt“ (2004) zieht es den Patriarchen ans Meer als wichtigstes Lebenselixier, und sogar John von Düffels Vortragssammlung „Wovon ich schreibe“ (2009) zeigt ihn selbst als Schwimmer bis zum Hals im Wasser. Auch sein neuester Roman „Der brennende See“ zeigt im Zusammenhang mit dem Klimawandel wieder das Wasser als teils verbindendes, teils trennendes Element im Generationenkonflikt zwischen den Protagonisten.
Hannah, Tochter eines kürzlich verstorbenen Schriftstellers, kehrt in die Stadt ihrer Kindheit zurück und findet bei der Wohnungsauflösung am Totenbett das Foto einer ihr unbekannten jungen Frau. Es ist die Gymnasiastin Julia, Tochter der früheren Schulfreundin Vivien. Hannah muss feststellen, dass die junge Umweltaktivistin beim alternden Vater ihre Stelle als Ersatztochter eingenommen hatte und beide sich – der eine literarisch, die andere im Straßenkampf – sich dem Umweltschutz verschrieben hatten, vor allem dem Erhalt des in einer Kiesgrube entstandenen Natursees. Diesen See nicht wie von der Stadt geplant in eine Müllhalde zu verwandeln, ist auch Matthias und Viviens Bestreben. Doch der Einsatz des Ehepaares für den See ist nur vorgeschoben, geht es beiden doch in erster Linie um ihr am See-Ufer noch im Bau befindliches Seniorenheim. Am Rande einer Müllhalde wäre ihr Projekt zum Scheitern verurteilt und das bereits investierte Geld verloren.
„Der brennende See“ zeigt einerseits in der Person Hannahs das gleichgültige Desinteresse vieler Menschen an ihrer Umwelt, andererseits in den Bauherren Matthias und Vivien deren Egoismus und gewinnorientierte Ausbeutung der Natur. Die Gymnasiastin Julia steht in John von Düffels Roman für die nächste Generation, die unter den verheerenden Folgen des von früheren Generationen zu verantwortenden Klimawandels konkret zu leiden haben wird, wie es der Autor in seinen die Kapitel einführenden, sich zum Schluss dramatisch steigernden Wetterberichten zeigt. Es geht in diesem Roman letztlich um die verheerenden Hinterlassenschaften der einen und das Umwelterbe für die nächsten Generation, die nicht einfach, wie Hannah es mit der materiellen Hinterlassenschaft ihres Vaters macht, dieses Erbe verweigern und sich eine neue Welt suchen kann.
Klimawandel und Umweltschutz geben verständlicherweise jedem zeitgenössischen Roman in seiner Kernaussage eine vorbestimmte Einseitigkeit. Welcher Schriftsteller will sich schon nachsagen lassen, nicht frühzeitig in seinem Werk seine Leser vor den Langzeitgefahren des menschlichen Raubbaues an der Natur gewarnt zu haben. Dies nimmt dann allerdings auch dem Leser des Romans „Der brennende See“ eine gewisse Dramatik. Dessen ungeachtet bleibt John von Düffels aktuelles Buch ein lesenswerter Roman, gelingt es ihm doch, die einerseits verlorene Dramatik durch ein spannendes Beziehungsgeflecht seiner menschlich so verschiedenen, überaus interessanten Charaktere mehr als zu ersetzen. Hinzu kommt, dass der angenehme, warmherzige Sprachstil des Autors und die starke Empathie für seine charakterlich so unterschiedlichen Figuren die Lektüre seines neuesten Romans zu einem literarischen Genuss machen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.03.2020

Ein bewegender und nachhaltig wirkender Roman

Nach Mattias
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REZENSION – Mit seinem Roman „Nach Mattias“ hat der niederländische Schriftsteller Peter Zantingh (37) ein Buch veröffentlicht, das seine Leser anfangs vielleicht irritieren mag, aber nach Lektüre des ...

REZENSION – Mit seinem Roman „Nach Mattias“ hat der niederländische Schriftsteller Peter Zantingh (37) ein Buch veröffentlicht, das seine Leser anfangs vielleicht irritieren mag, aber nach Lektüre des Gesamtwerks wohl niemanden unberührt zurücklassen, sondern noch längere Zeit beschäftigen wird. Es ist ein Buch über die plötzliche Leere im Leben anderer, die der unerwartete Tod eines jungen Mannes hinterlässt. „Nach Mattias“ ist ein Buch über die Trauer, ohne traurig zu wirken, denn vor allem ist es ein Hoffnung stiftender Roman über das Weiterleben „nach Matthias“.
„Nach Mattias“ gleicht einer Sammlung von Kurzgeschichten, die erst in ihrer Gesamtheit ein Ganzes bilden - wie vielteiliges Puzzle, dessen Einzelstücke noch nichts erkennen lassen. Erst wenn ein passendes Stück zum anderen kommt, beginnt man nach und nach ein Bild zu erkennen. So lassen auch die einzelnen Episoden in Zantinghs Buch, erzählt von immer wieder einer neuen Person, anfangs noch kein schlüssiges Bild erkennen.
Acht Personen aus dem Umfeld des kürzlich verstorbenen Mattias – manche stehen ihm nah, andere haben ihn kaum gekannt – erzählen ihre ganz eigene Geschichte. Wir lernen seine Freundin Amber kennen, die ihn nach einem Streit allein ins Konzert gehen ließ, und begleiten Mattias' besten Freund Quentin beim Marathonlauf, mit dem er versucht, vor seiner Trauer wegzulaufen. Quentins spät erblindeter Laufpartner Chris hat auch liebe Menschen verloren: Seine visuelle Erinnerung an Ehefrau und Tochter schwinden. Issam, der Roadie einer Pop-Band, kannte Mattias nur durch gemeinsames Computerspiel und über Facebook. Und Strandhaus-Besitzer Nathan kannte ihn überhaupt nicht, wartete aber an einem Abend vergeblich auf Amber und Mattias als Urlaubsgäste. Aller Leben bekommt durch Mattias' Tod eine neue Richtung.
Jeder, der ihn kannte, charakterisiert Mattias aus persönlicher Sicht, je nachdem wie nah oder fern er ihm stand. Daraus ergibt sich für uns Leser das Bild eines jungen, begeisterungsfähigen und lebenshungrigen Mannes in den Dreißigern, voller Energie und allen Menschen gegenüber aufgeschlossen, der plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Verständlich, dass Mattias' Mutter Kristianne ihren Sohn anders beschreiben würde als seine Freunde – ebenso wie die Einwanderin Tirra ihren Sohn ganz anders sieht als andere. Gerade dieses Gespräch zwischen den zwei Müttern, die jede ihren Sohn verloren hat, ist das emotional ergreifendste Kapitel des Buches, zugleich der noch fehlende Puzzle-Stein, mit dessen Hilfe sich uns Lesern endlich die Vorgeschichte um Mattias' Tod erschließt.
Peter Zantingh schafft es in seinem tief beeindruckenden und nachhaltig wirkenden Roman, mit kurzen Sätzen und ebenso kurzen Geschichten ein breites Spektrum von Gefühlen zu schildern, die unterschiedlichsten Charaktere lebendig und plastisch werden zu lassen. Zusätzlich fasziniert das Werk durch seinen für einen Roman ungewöhnlichen dramaturgischen Aufbau als literarisches Puzzle, dessen letzter Stein erst unser Bild vervollständigt. Uns wird gezeigt, wie charakterlich unterschiedlichste, sogar sich fremde Menschen durch Trauer miteinander vereint sein können. „Meine Trauer war nicht mein Eigen“, erkennt später auch Mattias' Freundin Amber. Peter Zantinghs erstes auf Deutsch veröffentlichtes Buch „Nach Mattias“ ist ein leiser Roman voller Gefühl, den man nach Abschluss seiner Lektüre nicht so schnell vergessen wird.

Veröffentlicht am 26.03.2020

Beeindruckender Roman über einen unfreiwilligen Spion

Der Empfänger
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REZENSION – Eine ungewöhnliche und faszinierende Mischung aus Familiengeschichte und historischem Spionageroman ist Ulla Lenzes (46) fünftes Buch „Der Empfänger“, das kürzlich im Klett-Cotta-Verlag erschien. ...

REZENSION – Eine ungewöhnliche und faszinierende Mischung aus Familiengeschichte und historischem Spionageroman ist Ulla Lenzes (46) fünftes Buch „Der Empfänger“, das kürzlich im Klett-Cotta-Verlag erschien. Aus überlieferten Briefen und dem Lebenslauf ihres Großonkels entwickelte sie die wechselvolle Lebensgeschichte eines jungen Auswanderers, der aus purer Gleichgültigkeit und politischem Desinteresse in New York eher versehentlich zum Mitläufer der Nazis und unmerklich zu einem Rädchen im Getriebe deutscher Spionage wird. Es ist die Geschichte eines „kleinen Mannes“, der 1939 durch eine unüberlegte Entscheidung unerwartet, unbedarft und wehrlos zwischen die Fronten der kriegführenden Parteien gerät.
Bereits Anfang der Zwanziger Jahre war Josef Klein als junger Mann aus dem Rheinland in die USA ausgewandert. Doch richtig „angekommen“ ist er auch 1939 noch nicht. Er blieb alle Jahre ein heimatloser Niemand, von den Amerikanern nicht angenommen, den deutschen Emigranten fern geblieben, die vor Kriegsbeginn in antisemitischen und rassistischen Gruppierungen aktiv sind. Josef Klein lebt davon unberührt sein Leben im multikulturellen Harlem, liebt den Jazz und pflegt sein Hobby als Amateurfunker. Doch ausgerechnet seine technische Fähigkeiten als Funker fallen einer solchen Nazi-Gruppe auf, die ihn ohne sein Wissen für ihre Spionagetätigkeit ausnutzt. Viel zu spät erkennt Josef das Verhängnis seiner unbedachten Mitwirkung, meldet dies dem FBI, das ihn als Doppelagent verpflichtet. Nach Kriegseintritt der USA wird Josef auf Ellis Island interniert, erst 1949 nach Deutschland abgeschoben, wo er in Neuss im Haus seines Bruders aufgenommen wird. Doch auch hier bleibt der Entwurzelte heimatlos und setzt sich mit Hilfe früherer Nazi-Kontakte aus New York zunächst nach Argentinien, dann nach Costa Rica ab. Erst dort entwickelt der inzwischen über 50-Jährige nach längerem Aufenthalt heimatliche Gefühle. Doch auch hier lässt ihn seine Vergangenheit nicht ruhen: Sein Bruder schickt ihm eine Stern-Reportage über den Einsatz des deutschen Geheimdienstes in Amerika.
„Der Empfänger“ ist die Geschichte eines unfreiwilligen Agenten und Mitläufers ohne Überzeugung oder Schuldbewusstsein. Auch in Lenzes Roman, der kapitelweise zwischen New York (1939/1940), Deutschland (1949/1950) und schließlich Lateinamerika (1953) wechselt, geht es wie in den meisten Büchern über die Zeit des Nazi-Regimes und der Nachkriegsjahre um Schuld und Moral, um Verantwortung und Verantwortungslosigkeit. Aus Josefs Sicht waren es die anderen, die ihn missbraucht und nicht sein Leben haben leben lassen. „Einfach ein Mensch sein, dachte er. ... Einfach sein. Irgendwann kam die Einsicht, dass einfaches Sein das Schwierigste war. Alle wollten irgendetwas aus einem machen - und sei es, einen Deutschen, der nichts dafür konnte, Deutscher zu sein.“ Die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld sind fließend: Je nach Betrachtungsweise war er Täter, aber auch Verräter. Im Grunde blieb er ein Niemand, ein „Empfänger“ von Weisungen anderer, die er gefällig und bedenkenlos ausführte, um im Alltag seine Ruhe zu haben. Ulla Lenzes Roman hat keinen Helden. Vielleicht ist gerade dies das Einzigartige und Beeindruckende, vielleicht sogar Erschreckende an ihrem Buch: Josef Klein könnte jeder sein, jeder von uns.