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Veröffentlicht am 29.09.2019

Erstaunlich und lesenswert

Menschen neben dem Leben
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REZENSION – Vor einem Jahr überraschte Herausgeber Peter Graf mit der Wiederentdeckung eines vor 80 Jahren in London auf Englisch erstveröffentlichten Romans „Der Reisende“ (1939) des damals erst 24-jährigen ...

REZENSION – Vor einem Jahr überraschte Herausgeber Peter Graf mit der Wiederentdeckung eines vor 80 Jahren in London auf Englisch erstveröffentlichten Romans „Der Reisende“ (1939) des damals erst 24-jährigen Ulrich Alexander Boschwitz (1915-1942). Jetzt folgte die deutsche Erstveröffentlichung seines bereits 1937 in Stockholm auf Schwedisch erschienenen Debüts „Menschen neben dem Leben“. Zwei Jahre zuvor war der damals 20-Jährige – sein jüdischer Vater war 1915 als Soldat im Ersten Weltkrieg gefallen – mit der Mutter aus Berlin nach Skandinavien emigriert.
Obwohl in großbürgerlichem Hause aufgewachsen, dürfte Boschwitz die frühzeitige Ausgrenzung der Berliner Juden unter den Nazis bewusster erlebt haben als jene Welt der Kriegsheimkehrer, Bettler, Prostituierten und Verrückten in seiner Kindheit der 1920er Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, deren „Nebenwelt“ er in seinem Romandebüt dennoch so facettenreich und faszinierend schildert. Seine Protagonisten gehören der untersten Gesellschaftsschicht an, dem Berliner „Lumpenproletariat“. Trotz Armut und Obdachlosigkeit versuchen sie tagtäglich, ihrem Leben noch einen Sinn zu geben.
Da ist der alte Fundholz, der mit dem letzten Rest seines Stolzes das Betteln und trockenes Brot jeder Gefängniskost vorzieht, sich ansonsten mit seinem Schicksal abgefunden hat. Ihm folgt, treu ergeben wie ein Hund, der ewig hungrige und seit seiner Kindheit verrückte „Tönnchen“. Als Dritten im Bunde lernen wir den arbeitslosen Straßenbahnschaffner Grissmann mit leichtem Hang zur Kriminalität kennen. Aber da sind auch noch Frau Fliebusch, die nach dem Kriegstod ihres Mannes an der Welt verzweifelt, der blinde Kriegsheimkehrer Sonneberg, der mit seinem Schicksal hadert, und der „schöner Wilhelm“ genannte Zuhälter.
Sie alle werden uns vertraut. Wir begleiten sie beim Betteln oder beim Warten, bis endlich wieder ein Tag ihres trostlosen Lebens geschafft ist und sie sich abends alle im „Fröhlichen Waidmann“ treffen. Der „Waidmann“ ist in Boschwitz Roman gleichsam eine „Nebenwelt“, die die „Menschen neben dem Leben“ ihre Alltagssorgen vergessen lässt. Gehören sie draußen in der Tageswelt zur untersten Gesellschaftsschicht der Verlorenen, formen sie im „Waidmann“ ihre eigene Welt, ihr eigenes Gesellschaftssystem. Hier regiert der ehrbare Vorstand des Ringvereins, eine in damaliger Zeit für Berlin typische mafiöse Vereinigung. Hier steht der „schöne Wilhelm“ zusammen mit der Edelnutte Minchen gesellschaftlich noch über dem Möchtegern-Ganoven Grissmann und allen anderen.
Boschwitz beschreibt dieses ihm doch eigentlich fremde Milieu so detailreich, als wäre er selbst Stammgast im „Fröhlichen Waidmann“. Vieles mag er sich in zeitgenössischer Literatur angelesen, vieles schon als Kind auf der Straße beobachtet haben. Als Halbjude selbst aus der Berliner Gesellschaft ausgegrenzt, kann er seinen Figuren deren Schicksal nachfühlen. Boschwitz fasziniert durch seine lebendige Szenerie voller Empathie, die uns seine „Nebenwelt“ so sympathisch werden lässt. Vielleicht hätte der damals erst 22-jährige Autor, wäre er älter und lebenserfahrener gewesen, seinen Charakteren noch mehr Tiefenschärfe geben können. Dennoch ist „Menschen neben dem Leben“ zweifellos ein erstaunlicher und deshalb lesenswerter Roman. Nach diesem Debüt und Boschwitz' zweitem Roman „Der Reisende“ wäre man auf einen dritten Roman gespannt. Doch Ulrich A. Boschwitz starb als 27-Jähriger, als das britische Schiff, das ihn und andere „feindliche Ausländer“ aus Australien nach England zurückholen sollte, auf der Überfahrt nach deutschem Torpedo-Beschuss versank.

Veröffentlicht am 17.09.2019

Für alle Ortheil-Fans und Freunde klassischer Musik

Wie ich Klavierspielen lernte
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REZENSION – Es ist gewiss kein Buch nur für Klavier- und Musikenthusiasten, wie der Insel-Verlag beteuert. Und doch ist „Wie ich Klavierspielen lernte“, das neue autobiographische Werk von Hanns-Josef ...

REZENSION – Es ist gewiss kein Buch nur für Klavier- und Musikenthusiasten, wie der Insel-Verlag beteuert. Und doch ist „Wie ich Klavierspielen lernte“, das neue autobiographische Werk von Hanns-Josef Ortheil (68), auch kein Buch für jedermann. Man sollte möglichst seine Autobiographie „Die Erfindung des Lebens“ (2009) zuvor gelesen haben, um einen verständnisvolleren Einstieg ins neue Buch zu finden. Denn das familiäre Schicksal des vierjährigen Ortheil, der tagsüber in enger Abgeschiedenheit mit seiner nach dem Tod ihrer vier Söhne völlig verstummten Mutter lebt und dadurch selbst sprachlos wurde, ist das entscheidende Motiv, das Klavierspiel zu erlernen.
Der kleine Ortheil lernt das Klavierspiel nicht wie andere Kinder aus gutbürgerlichem Elternhaus als erzieherische Maßnahme. Eines Tages erbt die Familie ein altes Klavier. „Das Klavier ist bei uns angekommen, aber wir lassen es warten. Vielleicht hat auch Mutter Angst davor, dass es zu reden anfängt. Außer meinem Vater spricht niemand in der Wohnung. Stattdessen herrschte eine schwere, oft lastende Stille.“ Nur durch Zufall entdeckt der Vierjährige die unerwartete Möglichkeit, wenn schon nicht mittels des Sprechens, nun durch die Musik mit der Mutter, die in Jugendjahren selbst Pianistin gewesen war und ihrem Sohn bald Klavierunterricht gibt, kommunizieren zu können. „Wir sprachen nicht mit Worten miteinander, sondern mit Musik.“
Im Folgenden schildert Ortheil seine Stationen auf dem über 15 Jahre dauernden Weg zur Verwirklichung seines frühen Traums, Konzertpianist zu werden. Wir erfahren von Attitüden seiner Lehrer und von Eigenarten bekannter Pianisten. Wir erfahren einiges über klassische Musik sowie über unterschiedliche Techniken und Interpretationsmöglichkeiten. Nach mehrjährigem Einzelunterricht, dem kurzen Besuch eines Musikinternats sowie der gezielteren Ausbildung an einer Musikhochschule mit ersten Konzertauftritten bewirbt sich der inzwischen 20-jährige Abiturient erfolgreich um ein Stipendium am Konservatorium in Rom. Doch ausgerechnet in Rom platzt Ortheils Traum von einer vielversprechenden Pianisten-Karriere.
Natürlich verliert sich der Schriftsteller als einst ausgebildeter Konzertpianist in seinem Buch hin und wieder in fachlichen Einzelheiten, die den musikalisch ungebildeten Leser abschrecken mögen. Dann aber packt uns der grandiose Erzähler wieder mit der Schilderung des engen Verhältnisses zu seinen Eltern. Mutter und Sohn gewinnen durch das gemeinsame Klavierspiel schnell ihre ihre Sprache zurück. Die Mutter beginnt sogar wieder zu musizieren und auch Ortheils Vater entdeckt auf ganz eigene Art seine Liebe zum Klavierspiel.
Leider fehlen den einzelnen Kapiteln des Ortheilschen Werdegangs die entsprechenden Altersangaben des Musikschülers, so dass man nie genau weiß, wie alt der Erzähler gerade ist. Andererseits geht es dem Schriftsteller Ortheil wohl auch weniger um den Musiker Ortheil, sondern um dessen musikalisches Umfeld – die klassische Musik, das damals zeitgenössische Musikverständnis und den Musikunterricht in jenen Jahren.
Für Hanns-Josef Ortheil ist damals in Rom eine Welt zusammengebrochen. Noch heute denkt der Schriftsteller voller Wehmut an jene Jugendjahre, wie aus den in seine Erzählung eingestreuten Zwischentexten des inzwischen 68-Jährigen herauszulesen ist. Doch die Fans seiner Bücher wird es freuen, dass er sich einen anderen Beruf suchen musste und heute ein erfolgreicher Schriftsteller ist. Mindestens für sie und alle Freunde klassischer Musik ist „Wie ich Klavier spielen lernte“ eine empfehlenswerte Lektüre. Für andere Leser kann es ein lohnenswertes Wagnis sein.

Veröffentlicht am 26.08.2019

Ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte, lebendig geschrieben

Der Horizont der Freiheit
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REZENSION – Auf den ersten Blick – und das Cover des Buches mit der eleganten Dame vor der Patriziervilla trägt leider seinen Teil dazu bei – mag das neue Buch von Ines Thorn (55) wie ein nicht allzu anspruchsvoller ...

REZENSION – Auf den ersten Blick – und das Cover des Buches mit der eleganten Dame vor der Patriziervilla trägt leider seinen Teil dazu bei – mag das neue Buch von Ines Thorn (55) wie ein nicht allzu anspruchsvoller Liebesroman wirken. Doch nach den ersten Seiten spürt man: Das Buch bietet einiges mehr. „Der Horizont der Freiheit“ ist ein historischer Roman über die Vortage der Märzrevolution von 1848, der uns Leser an der republikanisch-demokratischen Aufbruchstimmung jener Jahre in Deutschland teilhaben lässt. Arbeiter und Bürger lehnen sich gegen die Vorherrschaft von Adel und Monarchie auf, Frauen kämpfen für ihre Emanzipation in der Männerwelt und die seit jeher am Rand der christlichen Gesellschaft stehenden Juden hoffen auf gesellschaftliche Gleichstellung.
Dies alles ist Inhalt des in Frankfurt am Main spielenden Romans, der kürzlich zum 175-jährigen Jubiläum des 1844 gegründeten Verlags Rütten & Loening erschien, heute nur noch ein Imprint des Aufbau-Verlags. Wir erleben die beiden jüdischen Verlagsgründer, den Kaufmann Joseph Rütten (1805-1878), der zwar 1842 seinen Geburtsnamen Jacob Beer Rindskopf abgelegt hat, aber nicht zum Christentum konvertiert ist, und den Verleger Zacharias Loewenthal (1810-1884), der sich erst 1847 nach seinem Wechsel zum Protestantismus in Carl Friedrich Loening umbenennen wird.
Es sind die verschiedenen historischen Facetten, die Thorns Roman jenseits der Liebesgeschichte zwischen dem schüchternen Rütten und Wilhelmine Pfaff, der jungen Witwe eines benachbarten Druckereibesitzers, so interessant macht. Denn der Autorin gelingt es, Fakten und Fiktion symbiotisch miteinander zu verbinden und dadurch dieses wichtige Kapitel deutscher Geschichte, wenn auch räumlich auf Frankfurt begrenzt, trotz aller Sachlichkeit lebendig zu vermitteln.
So begleiten wir die Abgeordneten, zu denen 1848 auch Rütten und Loewenthal gehören, zur Nationalversammlung in die Frankfurter Paulskirche, wo sich bürgerliche Konservative erfolglos mit Republikanern zu einigen versuchen. Wir sind aber auch unter den demonstrierenden Arbeitern draußen vor der Frankfurter Paulskirche, in deren erster Reihe Wilhelmines beste Freundin, die rebellische Henriette Zobel (1813-1865) steht. Zobel ging tatsächlich als Regenschirm schwingende „Emanze“ und mutmaßliche Attentäterin in die Frankfurter Stadtgeschichte ein. Im Gegensatz zu ihr emanzipiert sich Wilhelmine Pfaff auf andere Art, in dem sie sich von der rechtlosen Ehefrau in eine erfolgreiche Unternehmerin wandelt – nicht zuletzt dank der Aufträge aus der „Literarischen Anstalt“ der beiden Verleger Rütten und Loewenthal. Beide machten sich, wie wir im Roman ebenfalls erfahren, einen Namen durch die Verbreitung revolutionärer Texte von Karl Marx, Ludwig Börne oder Karl Gutzkow. Den wirtschaftlich größten Erfolg ihrer Anfangsjahre verdankten sie aber dem heute legendären Kinderbuch „Struwwelpeter“ des Frankfurter Mediziners Heinrich Hoffmann.
„Der Horizont der Freiheit“ ist also weit mehr als ein nüchternes Auftragswerk zur Erinnerung an die vor 175 Jahren erfolgte Gründung des Verlags Rütten & Loening. Ines Thorn hat einen sorgsam recherchierten und historisch interessanten Roman geschrieben, der uns zu denken geben sollte: Vor 175 Jahren kämpften viele Deutsche unter Einsatz von Leib und Leben für Freiheit und Demokratie – für hohe Werte, die in unserer heutigen Gesellschaft vielfach missachtet und nicht mehr genügend wertgeschätzt werden.

Veröffentlicht am 17.08.2019

Ein anspruchsvoller Spannungsroman

Das Echo der Wahrheit
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REZENSION – Zeitgleich zu seinem Weltbestseller „Das Buch der Spiegel“ (2017) arbeitete der aus Rumänien stammende, heute in Brüssel lebende Schriftsteller Eugene Chirovici (55) bereits an seinem nun auf ...

REZENSION – Zeitgleich zu seinem Weltbestseller „Das Buch der Spiegel“ (2017) arbeitete der aus Rumänien stammende, heute in Brüssel lebende Schriftsteller Eugene Chirovici (55) bereits an seinem nun auf Deutsch erschienenen Spannungsroman „Das Echo der Wahrheit“. Wohl deshalb ist die thematische Nähe beider Werke verständlich, geht es doch in beiden Romanen um die menschliche Sicht auf Fakten und Wahrheit. Wieder geht es um einen Jahrzehnte zurückliegenden Mordfall. Wieder zeigt uns Chirovici, dass wir uns der reinen, der objektiven Wahrheit niemals gewiss sein können, wird diese doch durch unsere Erinnerungen, durch subjektive Eindrücke, im schlimmsten Fall durch den Selbstschutz unseres Gehirns verfälscht. Wo hört also Wahrheit auf, wo fängt Phantasie an? Bildet man sich als Wahrheit nur ein, was man nach Jahrzehnten als Wahrheit sehen will? Als Betroffene kennen wir demzufolge oft nur ein verfälschtes Echo der Wahrheit, wie es uns der Buchtitel verrät, wobei der Goldmann-Verlag völlig zu Recht das Wörtchen „der“ kursiv hervorgehoben hat.
Denn was ist „die“ Wahrheit? Die Antwort auf diese Frage zu finden, bittet im neuen Roman Chirovicis der an Leukämie leidende Multimillionär Joshua Fleischer den New Yorker Psychiater James Cobb. Fleischer glaubt, als Student 1976 in Paris die damals von ihm angehimmelte Französin Simone ermordet zu haben, kann sich allerdings an den genauen Hergang des fraglichen Abends in der Hotelsuite, in der er sich mit seinem Studienfreund Abraham Hale und Simone aufgehalten hatte, überhaupt nicht erinnern. Wurde er tatsächlich zum Mörder? Oder war es Abraham? Cobb soll durch Hypnose die Wahrheit herausfinden, was ihm aufgrund einer starken Bewusstseinsblockade des Patienten allerdings nicht gelingt. Die Neugier des Psychiaters ist geweckt, weshalb er auch nach Fleischers baldigem Tod am Fall dranbleibt. Er lässt in Paris Polizeiakten jener Zeit auf Mord- oder Vermisstenfälle prüfen, befragt Personen, die den drei jungen Menschen damals nahestanden, fährt sogar selbst zu Nachforschungen nach Frankreich.
Kaum glaubt der Leser, einen der drei Beteiligten in seinem Charakter erkannt und das Verhältnis der drei Protagonisten zueinander verstanden zu haben, wird schon in der nächsten Zeugenaussage alles nichtig und die Personen völlig anders charakterisiert. Chirovici entwirft in „Echo der Wahrheit“ ein verwirrendes Spiel mit Erinnerungen und Illusionen. Jeder Zeitzeuge schildert das damalige Geschehen aus eigener Sicht und auch zum Selbstschutz in einem völlig neuen Licht. Doch jeder Zeuge behauptet von sich, die Wahrheit zu kennen. Doch jedesmal ist am Ende wieder nichts so, wie es schien. „Tatsachen können manchmal wirklich wahr und falsch zugleich sein; denn in der Realität gibt es so etwas wie die Wahrheit und nichts als die Wahrheit nicht“, heißt es deshalb im Buch.
Natürlich kommt Ich-Erzähler James Cobb schließlich doch der Wahrheit auf die Spur, die, was inzwischen kaum verwundert, wiederum ganz anders ist, als wir Leser bis dahin geglaubt hatten. Doch dem Autor gelingt es lückenlos, die verschlungenen Handlungsstränge trotz mehrfachen Perspektivwechsels so sinnvoll mit einander zu verknüpfen, dass uns auch diese Wahrheit endlich trotz der überraschenden Wendung als die reine Wahrheit logisch erscheint. Chirovicis Roman ist fesselnd geschrieben, in seiner wechselvollen Handlung immer aufs Neue packend. "Das Echo der Wahrheit“ ist dennoch kein Krimi, sondern nicht zuletzt wegen seiner psychologisch-wissenschaftlichen Aspekte ein anspruchsvoller Spannungsroman.

Veröffentlicht am 02.08.2019

Lesenswerte Romanbiografie, aber Vorkenntnisse erforderlich

Libertys Lächeln
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REZENSION - Mit seiner neuen Romanbiografie „Libertys Lächeln“ über das ereignisreiche Leben des Deutsch-Amerikaners Carl Schurz (1829-1906) setzt der Hamburger Schriftsteller Andreas Kollender (54) die ...

REZENSION - Mit seiner neuen Romanbiografie „Libertys Lächeln“ über das ereignisreiche Leben des Deutsch-Amerikaners Carl Schurz (1829-1906) setzt der Hamburger Schriftsteller Andreas Kollender (54) die Reihe seiner Lebensbeschreibungen bedeutender Deutscher fort, von denen trotz bemerkenswerter Leistungen heute nur noch wenige wissen. Deshalb ist dem Autor zu danken, dass er nach dem Widerstandskämpfer und Spion Fritz Kolbe („Kolbe“, 2015) und dem Reformator der Psychiatrie, Ludwig Meyer („Von allen guten Geistern“, 2017), sein Buch „Libertys Lächeln“ jenem deutschen Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit gewidmet hat, der in seiner zweiten Lebenshälfte sogar amerikanischer Präsident hätte werden können, wenn es die US-Verfassung nicht ausgeschlossen hätte.
Nicht einmal 20 Jahre alt, schloss sich der Student Carl Schurz jenen Gruppen an, die in der deutschen Revolution von 1848 gegen König und Adel für Freiheit und die Republik kämpften. Schurz wurde als ausgezeichneter Rhetoriker und Redner schnell zum Sprecher der Revolutionäre. Nach der Niederlage emigrierte er nach London, wo er im Kreis anderer Emigranten auf seine spätere Ehefrau Margarethe Meyer traf, die jüngere Schwester des oben erwähnten Psychiaters Ludwig Meyer. Beide wanderten 1852 in die Vereinigten Staaten aus. Margarethe, ebenso selbstbewusst und freiheitsliebend wie ihr Mann, eröffnete 1856 in ihrem Wohnort Watertown (Wisconsin) den ersten Kindergarten der USA. Carl Schurz wurde auch in den USA politisch aktiv, machte unter den deutschen Einwanderern erfolgreich Wahlkampf für Abraham Lincoln, wurde zum Dank Botschafter in Spanien. Im amerikanischen Sezessionskrieg stieg er als Truppenführer deutschstämmiger Soldaten bis zum Generalmajor auf, kämpfte gegen die Sklaverei und beendete schließlich seine politische Karriere als US-Innenminister. Während dieser vier Jahre von 1877 bis 1881 setzte sich Schurz für die Rechte der Indianer, aber auch für den Schutz der Wälder ein.
In Kollenders Romanbiografie „Libertys Lächeln“ erfahren wir in kurzen Kapiteln auf 300 Seiten aus dem komplexen Leben des Deutsch-Amerikaners. Carl Schurz sitzt 1901 in New York auf der Parkbank mit Blick auf die Freiheitsstatue und lässt das Erlebte in seiner Erinnerung Revue passieren: „Ich war Revolutionär in Deutschland, ich war mit Lincoln befreundet, ich war Generalmajor im Bürgerkrieg, ich habe eine entsetzliche Reise in die Südstaaten gemacht. Ich habe Menschen zu Grabe getragen. Ich bin Vater.“ Da der 72-Jährige inzwischen an Demenz leidet, hat er zum eigenen Ärger vieles vergessen, anderes taucht unzusammenhängend und unerwartet in der Erinnerung auf.
Diese in zeitgenössischer Literatur fast schon zur Mode gewordenen, scheinbar willkürlichen Sprünge durch Zeit und Raum ermöglichen in diesem Fall dem Autor einerseits, mit wenigen Episoden trotz dieser Lückenhaftigkeit einen zumindest groben, dabei unterhaltsamen Einblick in die Komplexität des Schurzen Lebens zu geben, wo in chronologischer Ordnung sonst eine ausführliche Biografie nötig wäre. Andererseits dürften diese Sprünge und Lücken bei Lesern, die noch nie von Carl Schurz gehört haben, zu Verwirrung und Unverständnis führen und sie zu vorzeitigem Abbruch verleiten. Dies wäre allerdings bedauerlich, ist doch „Libertys Lächeln“ ein in lockerem Stil geschriebenes, inhaltlich interessantes und empfehlenswertes Buch. Deshalb ist es ratsam, vor Lektüre des Kollender-Buches sich in Grundzügen über das abenteuerliche Leben des Carl Schurz und seiner Margarethe zu informieren.