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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 09.06.2024

Spannendes Beziehungsdrama

Treibgut
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REZENSION – Eigentlich geschieht gar nicht so viel in „Treibgut“, dem im April vom Kindler Verlag veröffentlichten Roman von Adrienne Brodeur. Den Handlungsrahmen bilden die Vorbereitungen zur großen Party ...

REZENSION – Eigentlich geschieht gar nicht so viel in „Treibgut“, dem im April vom Kindler Verlag veröffentlichten Roman von Adrienne Brodeur. Den Handlungsrahmen bilden die Vorbereitungen zur großen Party anlässlich des 70. Geburtstags des Meeresbiologen Adam Gardner. Reicht dies für einen 460-Seiten-Roman? Und ob! Denn nicht die Handlung steht bei der amerikanischen Autorin im Vordergrund ihres Romans, sondern das überaus komplizierte Beziehungsgeflecht innerhalb der gutsituierten, in der Öffentlichkeit als musterhaft erscheinenden Vorzeigefamilie mit Vater Adam und den erwachsenen Kindern Ken und Abby. Der Autorin gelingt es auf faszinierende Weise, das in der familiären Abhängigkeit überaus schwierige Miteinander ebenso wie Gegeneinander unterschiedlicher Charaktere psychologisch tiefgründig und sprachlich eindringlich zu schildern, dass gerade dieser hintergründige Kleinkrieg für Spannung sorgt und beim Lesen einen Sog erzeugt, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag.
Im kapitelweisen Wechsel lernen wir jeweils für sich die Protagonisten immer näher und besser kennen: Adam Gardner blickt voller Sorge und zunehmender Verunsicherung auf seinen bevorstehenden Geburtstag: „Vielleicht war siebzig nicht das Ende der Welt, aber doch ein schwindelerregender Meilenstein, ein Riesenschritt auf den Abgrund der Sterblichkeit zu.“ Der einst erfolgreiche Meeresbiologe - „ein weiterer dummer Wisenschaftler mit Größenwahn, von seinem eigenen aufgeblasenen Ego zu Fall gebracht“ - mag sich nicht damit abfinden, dass er von jüngeren Wissenschaftlern aus seinem Büro gedrängt wird, und versucht, sich selbst zu trösten: „Er war ein Genie, dessen Aufgabe darin bestand, die endlosen Wunder der Tiefe zu erforschen. Er brauchte diesen schäbigen Arbeitsplatz nicht und erst recht nicht die damit verbundenen Scherereien.“ Ein letztes Mal will er sein Können beweisen und die Sprache der Wale entschlüsseln.
Sein Sohn Ken (41) ist erfolgreicher Immobilienunternehmer, Vater zweier pubertierender Zwillingstöchter, der in mentaler Stärke und unternehmerischem Erfolg seinem Vater nachzueifern versucht. Doch er steckt gerade in einer Ehekrise und leidet psychisch noch immer unter dem Verlust seiner Mutter, die einst bei der Geburt seiner Schwester Abby verstarb, als er erst drei Jahre alt war. Er hat „noch immer die Melodie der Stimme seiner Mutter beim abendlichen Vorlesen im Ohr“. Doch Schwäche darf er sich nicht eingestehen und schon gar nicht nach außen zeigen, bemüht er sich doch gerade um ein politisches Amt.
Seine unverheiratete Schwester Abby (38) ist Lehrerin und eine bislang noch unbekannte Künstlerin, die dank einer kommenden Reportage in einem Kunstmagazin kurz vor ihrem Durchbruch als Malerin steht. Sie ist im Grunde unselbstständig und vom Wohlwollen ihres Bruders abhängig, dem das von ihr genutzte Atelier gehört. „Immer noch lief sie auf Zehenspitzen um die Launen ihres Bruders herum wie ein rohes Ei. Und um die ihres Vaters auch.“ Doch ihre Schwangerschaft – sie erwartet ein Kind von ihrem verheirateten Jugendfreund David – ist Anlass zur Selbstbefreiung aus familiärer Abhängigkeit.
Dabei hilft ihr auch die etwa gleichaltrige Polizistin Steph, die sich als ihre Halbschwester zu erkennen gibt, Ergebnis eines Seitensprungs des gemeinsamen Vaters Adam. Das über Jahrzehnte sorgsam bewahrte Bild einer Musterfamilie beginnt langsam zu bröckeln. Lange gehütete Familiengeheimnisse dringen ans Licht. „Wir alle setzen manchmal Masken auf“, stellt Kens Psychiater fest. „Das nennt sich Selbstschutz. ... Man kann vergangenen Schmerz nicht überwinden, ohne ihn zu durchleben. Das nennt sich sonst Leugnen.“ Diese Masken beginnen zu fallen. Alles läuft unaufhaltsam auf eine familiäre Katastrophe zu. So wird „Treibgut“ vor allem in der zweiten Hälfte zu einem spannenden Familienroman und Beziehungsdrama, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt.

Veröffentlicht am 12.05.2024

Gelungene Mischung aus historischer Biografie und Gerichtsreportage

Joseph Süßkind Oppenheimer
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REZENSION – Am 4. Februar 1738 wurde der erst 40-jährige jüdische Großkaufmann Joseph Süßkind Oppenheimer – in den Jahren ab 1732 als Hof- und Kriegsfaktor und ab 1736 als Geheimer Finanzrat des württembergischen ...

REZENSION – Am 4. Februar 1738 wurde der erst 40-jährige jüdische Großkaufmann Joseph Süßkind Oppenheimer – in den Jahren ab 1732 als Hof- und Kriegsfaktor und ab 1736 als Geheimer Finanzrat des württembergischen Herzogs Carl Alexander tätig – unmittelbar nach des Herzogs überraschendem Tod aufgrund judenfeindlicher Anschuldigungen und Verleumdungen enteignet, angeklagt, nach Festungshaft elf Monate später hingerichtet und sein Leichnam sechs Jahre lang in einem hoch aufgehängtem Käfig zur Schau gestellt. Wir meinen, die Geschichte über diesen Justizmord zu kennen. Aber kennen wir sie tatsächlich? „Es ist nicht leicht, sich einer Person zu nähern, über die so viel geschrieben wurde, obwohl sich bislang nur eine Handvoll Leute tatsächlich mit den Prozessakten des Falles Oppenheimer beschäftigt hat“, schreibt Raquel Erdtmann im Nachwort zu ihrem im April beim Steidl Verlag veröffentlichten Buch „Joseph Süßkind Oppenheimer. Ein Justizmord“.
Tatsächlich waren die Prozessakten des Falles bis 1918 unter Verschluss. „Sehr groß war und ist das Interesse bis heute nicht“, schreibt Erdtmann Zwar hatte nur wenige Jahre später Lion Feuchtwanger diesen historischen Justizmord in seinem Roman „Jüd Süß“ bereits verarbeitet, während die Nazis für ihren antisemitischen Propaganda-Film wohl eher Wilhelm Hauffs Novelle „Jud Süß“ (1828) als Vorlage missbrauchten. Doch erst Anfang der 1990er Jahre hatte sich der Historiker Hellmuth G. Haasis (1942-2024) intensiv mit den Prozessakten und weiteren Originaldokumenten befasst und mehrere Bücher darüber veröffentlicht, so auch die Biografie „Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer“ (1998).
Inzwischen ist wieder eine Generation vergangen. „Es liegt in der Natur der Sache, dass sich jede Generation aus ihrem eigenen Blickwinkel und mit dem eigenen Gepäck der Geschichte nähert“, betont Erdtmann nun ausdrücklich im Nachwort. Als gelernte Journalistin hat sich die erfahrene Gerichtsreporterin für ihre historische Spurensuche durch acht Meter Archivbestand gearbeitet. Doch „eine gewisse Unschärfe bleibt“, sichert sich die Autorin vorsorglich ab: Auch die originalen Prozessakten vermitteln nur „ein gefärbtes, ganz und gar einseitiges Bild“, verfasst vom mehrheitlich aus Gegnern Oppenheimers zusammengesetzten Gericht.
Als Ergebnis ihrer Recherche schildert Erdtmann nun das überaus erfolgreiche Leben des ungewöhnlich intelligenten und selbstbewussten Joseph Süß Oppenheimer, der aus seiner geistigen und kaufmännischen Überlegenheit sich für Juden damaliger Epoche ungebührliche Freiheiten herausnimmt, die ihn sowohl bei den Juden, aber erst recht bei den Christen im kleinstaatlichen, bürgerlich strukturierten Württemberg hochmütig und arrogant wirken lassen. Vom katholischen Herzog gefördert, schafft sich der unangepasste Oppenheimer durch sein barockes Auftreten nicht nur bei im Ghetto lebenden Glaubensgenossen, sondern durch seine allzu modernen Staatsreformen auch im protestantischen Ständestaat nur Feinde und Neider, weshalb selbst seine Nutznießer vor Gericht später gegen ihn aussagen – auch um angesichts allgemeiner Rachegelüste bei den Repräsentanten der Stände ihre eigene Haut zu retten.
Erdtmann vermeidet literarische Interpretationsversuche, sondern hält sich strikt an Fakten und Original-Zitate, stellt manche einander gegenüber, um deren Aussage zu bestätigen oder Widersprüche aufzuzeigen. Interessant sind dabei nicht nur ihre Ergänzungen über das Leben der Juden und ihre gesellschaftliche Stellung im 18. Jahrhundert, sondern auch die Einschübe aus alttestamentarischen und jüdischen Schriften, als deren Kennerin sich Raquel Erdtmann schon 2014 mit ihrem Kinderbuch „Die Geschichte von Purim. Das Buch Esther“ erwiesen hat.
Das Buch „Joseph Süßkind Oppenheimer. Ein Justizmord“ ist eine Mischung aus historisch interessanter Biografie über Aufstieg und Fall eines überaus ungewöhnlichen Mannes, zugleich aber auch eine spannende Gerichtsreportage, durch die wir viel über das württembergische Justizsystem im 18. Jahrhundert erfahren. Raquel Erdtmann ist es auf nur 270 Seiten vorbildlich gelungen, die Vielzahl historischer Fakten und Zitate zwar sachlich korrekt, dennoch in einem lockeren, teilweise sogar schnoddrigem Ton zu einer auch für Nicht-Historiker leicht lesbaren und spannenden Lektüre werden zu lassen.

Veröffentlicht am 09.05.2024

Eindrucksvoller, wichtiger Roman über die Kolonialzeit

Die Stunde des Elefanten
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REZENSION – Vor über 25 Jahren veröffentlichte der niederländische Journalist Jan Geurt Gaarlandt (77) seinen ersten Roman „Mann in der Ferne“ unter dem Pseudonym Otto de Kat, das er auch für alle folgenden ...

REZENSION – Vor über 25 Jahren veröffentlichte der niederländische Journalist Jan Geurt Gaarlandt (77) seinen ersten Roman „Mann in der Ferne“ unter dem Pseudonym Otto de Kat, das er auch für alle folgenden Werke nutzte. Im Februar erschien nun sein Buch „Die Stunde des Elefanten“ beim Verlag Schöffling & Co, ein Roman über das dunkle Kapitel niederländischer Kolonialgeschichte, den „Völkermord unter der niederländischen Trikolore“. Darin stellt er mit Maxim van Oldenborgh und seinem Freund W. A. van Oorschot zwei ehemalige Leutnants der niederländisch-ostindischen Kolonialarmee gegenüber, die auf unterschiedliche Weise versuchen, ihren Einsatz kurz nach 1900 im Atjeh-Krieg gegen die Freiheitskämpferin Tjoet Nja Dinh (1848-1908) zu verarbeiten.
Maxim ist im Sommer 1909 bereits Bürgermeister der holländischen Nordsee-Insel Texel, verheiratet mit Roy und Vater von zwei kleinen Kindern. Dort besucht ihn für einige Tage sein Kriegskamerad W. A., mit dem er sich in der Kolonie während eines Lazarettaufenthalts angefreundet hatte. In den Gesprächen über ihre Dienstzeit wird deutlich, dass beide Kameraden die dort von verantwortungslosen Kommandeuren wie Oberst Frits van Daalen (1863 bis 1930) an Einheimischen verübten Gräuel entsprechend ihrem gegensätzlichen Charakter auch unterschiedlich verarbeiten oder dies zumindest versuchen. Während W. A. sich seine psychische Last von der Seele schreibt, indem er durch Vermittlung einflussreicher Gleichgesinnter noch während seiner Dienstzeit unter dem Pseudonym „Wekker“ in mehreren Zeitungsartikeln in den Niederlanden den willkürlichen Massenmord an Einheimischen und die Machenschaften verantwortlicher Kolonialherren anprangert, damit die Menschen in seiner Heimat „aufwecken“ will und tatsächlich für Unruhe im Parlament sorgt, hat sich Maxim mit seinen „vergrabenen“ Erinnerungen auf die kleine Insel zurückgezogen, schweigt über das Erlebte – selbst im Ungewissen, ob auch er an solchen Morden beteiligt war oder sich nur die Schuld anderer zu eigen macht. „War er vielleicht bei dem verbrecherischen Marsch durch die Gajo- und Alasländer dabei gewesen, auf denen Hunderte Frauen und Kinder erschossen worden waren, nur dass er das verdrängt hatte?“ Maxims Freund „Wekker“ ist es inzwischen gelungen, sich auch schöner Momente in der Kolonie zu erinnern, nicht aber ihm selbst, wie er sich eingesteht: „Wie schaffst du das, diese Erinnerungen intakt zu halten“, fragt Maxim seinen Freund, „ich krieg das nicht hin, bei mir sind sie fast immer düster, beschmutzt.“ Deshalb empfiehlt ihm sein Freund, unbedingt psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Doch trotz ihres soldatischen Einsatzes in der Kolonie und der von Landsleuten verübten Verbrechen fühlen sich beide Kameraden von diesem exotischen Land gepackt: „Ostindien ist vollkommen anders. Wir gehören da nicht hin, aber man muss nur einmal dort gewesen sein und schon ist man verloren.“ Maxim bleibt trotz dieser Sehnsucht auf seiner kleinen Insel, während W. A. als Direktor der Eisenbahngesellschaft nach Niederländisch-Ostindien zurückkehrt.
Dem Autor gelingt es mit seinem ähnlich einem Kammerspiel überwiegend auf nur zwei Personen beschränkten Roman auf packend eindringliche Weise, uns durch die Gegenüberstellung seiner charakterlich gegensätzlichen Protagonisten dieses düstere Kapitel niederländischer Kolonialgeschichte objektiv näherzubringen – wohlwissend, dass die Niederlande in jener Phase der Kolonialisierung keine Ausnahme waren: „Niederländer, Deutsche, Engländer und Franzosen – wo sie auftauchen, richten sie ein Blutbad an.“ Er schildert das politische Denken und Handeln jener Zeit und das Fehlen politischer Kontrolle über die Kolonie aufgrund der weiten Entfernung zum Indischen Ozean. Zugleich zeigt er aber auch die Faszination der Weite dieses exotischen Indonesiens damaliger Zeit auf einige junge Kolonisten, die aus ihrer in engen Grenzen lebenden und denkenden Heimat ausbrechen wollten: „Wie lächerlich das doch ist, sich trotzdem nach einem Feldlager in einer magischen Landschaft zu sehen, nach dem Ruf eines Elefanten, nach Urwald, der an den Berghängen emporwuchert.“ Otto de Kats Roman „Die Stunde des Elefanten“ ist eine ausgezeichnete und wichtige Erzählung, um die Kolonialzeit um 1900 – nicht nur die niederländische – und ihre Menschen etwas besser verstehen zu können.

Veröffentlicht am 28.04.2024

Lesenswert für jeden Literaturfreund

Marseille 1940
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REZENSION – Mit seinem nicht nur literaturhistorisch äußerst interessanten Sachbuch „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ - im Februar beim Verlag C. H. Beck erschienen - hat Autor Uwe Wittstock ...

REZENSION – Mit seinem nicht nur literaturhistorisch äußerst interessanten Sachbuch „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ - im Februar beim Verlag C. H. Beck erschienen - hat Autor Uwe Wittstock das dramatische Kapitel deutscher Literaturgeschichte fortgeschrieben, das er zwei Jahre zuvor mit seinem Band „Februar 33. Der Winter der Literatur“ begonnen hatte. Mittels tragischer Einzelschicksale bekannter Schriftsteller wie Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel, Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Walter Benjamin und anderer, die nach Machtergreifung der Nazis in Frankreich Zuflucht gesucht hatten, erzählt Wittstock nun in seinem neuen Band, wie diese nach Besetzung und der Kapitulation der Grande Nation unter schwierigsten Bedingungen in den Monaten zwischen Mai 1940 und Oktober 1941 versuchten, in das nicht von den Nazis besetzte Südfrankreich und schließlich nach Marseille, dem einzigen noch freien Hafen an der Atlantikküste, zu kommen, um von dort nach Übersee fliehen zu können. Vor allem aber würdigt Wittstock den selbstlosen Einsatz des jungen amerikanischen Journalisten Varian Fry (1907-1967), dem es nach Gründung eines von ihm in New York mit finanzieller Unterstützung wohlhabender Amerikaner initiierten „Emergency Rescue Committee“ gelang, in diesen 18 Monaten mit Hilfe seines in Marseille aufgebauten Rettungsnetzwerks „Centre Américain de Secours“ etwa 2 000 deutschsprachige Kulturschaffende zur Flucht aus Frankreich zu verhelfen.
Wittstock schildert, journalistisch anhand von Briefen und Tagebüchern, Erinnerungen, Autobiografien und Interviews recherchiert - zwar chronologisch geordnet, aber szenarisch wechselnd - den Mut mancher, aber auch die Selbstaufgabe anderer Exilanten wie im Falle des fast 70-jährigen Heinrich Mann. Dass Frys Wirken nicht immer Erfolg hat, zeigt der Suizid des verzweifelten Walter Benjamin. Andere entwickeln eine unbedingte Entschlossenheit zur Weiterflucht wie Anna Seghers, die sich über hunderte Kilometer zu Fuß auf den Weg macht.
Während über die Schicksale der Exilanten vieles bekannt ist, geriet der heldenhafte Einsatz des amerikanischen Fluchthelfers Varian Fry in Vergessenheit. Im Gegenteil: Schon während seines Einsatzes in Marseille bekam er zunehmend Schwierigkeiten mit dem New Yorker US-Hilfskommittee, das ihn 1940 nach Frankreich entsandt hatte. Man warf ihm seine Arbeit als illegaler Fluchthelfer vor, statt nur Geld und Lebensmittel an die Hilfsbedürftigen zu verteilen. Schließlich fordert man ihn sogar zur Rückkehr in die USA auf. „Fry ist empört. Angesichts der Situation in Marseille erscheinen ihm solche Anweisungen unzumutbar, zumal wenn sie von Leuten kommen, die in Amerika in warmen Wohnungen an reich gedeckten Tischen sitzen und keine persönlichen Risiken eingehen.“ An seine Frau schreibt er: „Dieser Job ist wie der Tod – unumkehrbar. Wir haben hier etwas begonnen, das wir nicht ohne Weiteres beenden können.“
Erst 1994 wurde ihm eine angemessene Ehrung als erster amerikanischer „Gerechter unter den Völkern“ in Israels Holocaust-Mahnmal Yad Vashem zuteil sowie 1998 als Ehrenbürger Israels. Im Epilog seines Buches „Marseille 1940“ wundert sich auch Wittstock über die bis heute anhaltende Missachtung dieses Fluchthelfers: „Überraschend ist, wie wenig Anerkennung Varian Fry und seine Leute in Deutschland gefunden haben, obwohl die deutsche Kulturgeschichte ihnen doch einiges zu verdanken hat.“ Nicht einmal die von ihm Geretteten schrieben mehr als ein paar Zeilen in ihren Autobiografien. Auch der Varian Fry gewidmete Essay "Der Engel von New York" der ins Pariser Exil verbannten Schriftstellerin Gabriele Tergit (1894-1982) wurde bislang nicht veröffentlicht.
Deshalb kann man den Band „Marseille 1940“ nun als angemessene Würdigung dieses „amerikanischen Schindlers“ ansehen. Aber nicht nur aus diesem Grund, sondern auch wegen Wittstocks lebendiger Schilderung der bewegenden Einzelschicksale, die nur stellvertretend für viele andere Exilanten stehen, ist dieser Band unbedingt lesenswert. „Marseille 1940“ ist zwar ein für Literaturkenner interessantes Sachbuch - und doch noch mehr: Es ist eine für jedermann leicht lesbare und spannend geschriebene Erzählung über ein vielleicht vielen noch unbekanntes düsteres Kapitel deutscher Geschichte.

Veröffentlicht am 05.04.2024

Literarisch und historisch interessant

Gabriele Tergit. Zur Freundschaft begabt
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REZENSION – Seit etwa zehn Jahren befasst sich die Literaturwissenschaftlerin Nicole Henneberg mit Werk und Leben der zeitlebens um ihren Erfolg gebrachten und zu Unrecht vergessenen jüdischen Schriftstellerin ...

REZENSION – Seit etwa zehn Jahren befasst sich die Literaturwissenschaftlerin Nicole Henneberg mit Werk und Leben der zeitlebens um ihren Erfolg gebrachten und zu Unrecht vergessenen jüdischen Schriftstellerin Gabriele Tergit (1894 bis 1982), die in jungen Jahren in Berlin als Gerichtsreporterin bekannt war. Mit der kommentierten Neuausgabe des satirischen Romans „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ (erstveröffentlicht 1932) ließ uns Henneberg im Jahr 2016 die Berliner Schriftstellerin wiederentdecken. Nach weiteren Neuausgaben wie Tergits Erinnerungen „Etwas Seltenes überhaupt“ (2018) oder ihres inzwischen zum Bestseller gewordenen zweiten Romans „Effingers“ (2019) sowie der Erstausgabe des dritten Tergit-Romans „So war's eben“ (2021) war Hennebergs Veröffentlichung einer ersten umfassenden Biografie „Gabriele Tergit. Zur Freundschaft begabt“, erschienen im Februar beim Verlag Schöffling & Co, nicht nur folgerichtig, sondern sogar notwendig, um der literarischen Gesamtleistung Gabriele Tergits erstmals umfänglich gerecht zu werden.
Nach intensiver Recherche und Sichtung von fast 50 Materialkästen im Deutschen Literaturarchiv Marbach mit umfangreicher Korrespondenz Tergits, Originalmanuskripten und wieder verworfenen Texten bringt uns Henneberg auf 400 Seiten einschließlich eines 30-seitigen Anhangs mit Quellen-, Literatur- und Namensverzeichnissen nicht nur das Leben Gabriele Tergits näher, sondern schildert auch eindrücklich deren in Flucht, Emigration, lebenslänglicher Heimatlosigkeit und fehlender Anerkennung als Schriftstellerin begründete Verzweiflung und letztlich auch Resignation.
Noch zu Kaisers Zeiten in einem Berliner Fabrikantenhaushalt geboren, arbeitete Elise Hirschmann ab 1924 unter dem Pseudonym Gabriele Tergit als Journalistin und heiratete 1928 den jüdischen Architekten Heinz Reifenberg (1894 bis 1968), Nachkomme wohlhabender Fabrikanten- und Bankiersfamilien. Deren Leben und Lebensumfeld bildete später die Grundlage ihrer stark autobiografisch geprägten Werke. Nach der Machtergreifung der Nazis konnte sich Tergit im November 1933 nur knapp ihrer Verhaftung entziehen und nach Prag entkommen. Noch im selben Jahr emigrierte sie mit ihrem Mann widerwillig nach Palästina, das für die deutsche Bildungsbürgerin kein „gelobtes Land“ war, und zog 1938 nach London, wo sie bis zu ihrem Tod (1982) lebte, nur schlecht als Journalistin und Schriftstellerin arbeiten konnte, vor allem aber viele Jahre als Sekretär (Geschäftsführerin) des Exil-PEN aktiv war, des Verbands deutschsprachiger Autoren im Ausland. Henneberg: „Die Mitglieder des Clubs bildeten ihren Freundeskreis und ersetzten zumindest ein bisschen das, was sie durch die Vertreibung verloren hatte.“
In der Nachkriegszeit besuchte Gabriele Tergit mehrmals ihre alte Heimatstadt („Der erste Zug nach Berlin“, 2000/2023), wurde aber häufig durch antisemitistische Äußerungen verschreckt. Tergit: „Hitler schwebt immer noch wie ein dunkler Geist über Deutschland.“ Dennoch versuchte sie wiederholt, als Schriftstellerin in Deutschland Anerkennung zu finden, war dies doch trotz jahrelangen Exils ihre Heimat geblieben: „Mein Leben in Berlin, das hat mich lebenslänglich geprägt.“ Doch ihr endlich veröffentlichter Roman „Effingers“ kam 1951 zur Unzeit und wurde kaum beachtet. Henneberg: „Nur wenige Buchhändler nahmen ihn überhaupt in ihr Sortiment, und die Menschen wollten von einer jüdischen Familie nichts lesen.“ Von einer Berliner Kulturdezernentin musste Tergit sich sogar sagen lassen: „Wer sind Sie überhaupt? Habe den Namen noch nie gehört.“
Auch 20 Jahre später bleibt trotz positiver Resonanz auf die Neuausgabe ihres Käsebier-Romans die erhoffte Anerkennung aus. Als sie 1977 einem Verlag das Manuskript ihres dritten Romans „So war's eben“ über die Blütezeit jüdischen Lebens anbietet, dem Deutschland viele Geistesgrößen und Mäzene verdankte, lehnt dieser eine Veröffentlichung ab: Dies sei ein „Buch für Insider, aber das werden nicht mehr sehr viele sein“. So kam es, dass dieser dritte Roman Tergits erst ein Jahr nach ihrem Tod nur in gekürzter Fassung und endlich 40 Jahre später (2021) durch Tergit-Expertin Nicole Henneberg in seiner originalen Fassung veröffentlicht wurde.
Mit den Neu- und Erstausgaben der Werke Gabriele Tergits, vor allem aber jetzt mit ihrer akribisch erarbeiteten, literarisch und historisch interessanten Tergit-Biografie hat Nicole Henneberg die jüdische Schriftstellerin nicht nur der Vergessenheit entrissen, sondern ihr das verdiente literarische Denkmal gesetzt. Wer Tergits Bücher inzwischen kennt, kommt um diese Biografie nicht herum, trägt sie doch viel zum besseren Verständnis ihrer Romane bei. Wer ihre Bücher noch nicht kennt, wird nun zweifellos zum Lesen ihrer Werke animiert. Die Biografie „Gabriele Tergit. Zur Freundschaft begabt“ ist also in jedem Fall eine unbedingt empfehlenswerte und zweifellos lohnende Lektüre.