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Veröffentlicht am 04.12.2022

Abenteuerlich und historisch sehr interessant

Labyrinth der Freiheit
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REZENSION - Nach „Schatten der Welt“ (2020) und „Revolution der Träume“ (2021) erschien nun mit „Labyrinth der Freiheit“ im November beim Dumont Buchverlag der letzte Band der historischen Trilogie „Wege ...

REZENSION - Nach „Schatten der Welt“ (2020) und „Revolution der Träume“ (2021) erschien nun mit „Labyrinth der Freiheit“ im November beim Dumont Buchverlag der letzte Band der historischen Trilogie „Wege der Zeit“. Darin begleitet der Schriftsteller und Drehbuch-Autor Andreas Izquierdo (54) drei junge Menschen – den schüchternen Carl, den draufgängerischen Artur und die eigensinnige Isi – auf ihrem Lebensweg während der Wirren des frühen 20. Jahrhunderts, beginnend 1910 in der westpreußischen Kreisstadt Thorn bis zum Inflationsjahr 1923 in Berlin.
Der dritte Band beginnt in Berlin im Jahr 1922, wo sich die drei jungen, charakterlich so unterschiedlichen Freunde nach Ende des Ersten Weltkriegs und dem Verlust ihrer Heimat – Thorn gehörte seit dem Versailler Vertrag ab 1920 zu Polen – wiedergefunden hatten und es seitdem mehr oder minder erfolgreich geschafft haben, sich ein eigenständiges Leben als junge Erwachsene aufzubauen. Der Fotograf Carl ist Kameramann bei der UFA, Artur hat esals „Edel-Ganove“ – aber falls erforderlich auch vor Mord nicht zurückschreckend – zum Kiez-König in der Berliner Unterwelt geschafft und Isi hat es durch ihre Hochzeit mit dem dandyhaften Adelssprössling Aldo von Torstayn in den Adelsstand geschafft. Soweit scheint es, als wäre nach den Wirren des Krieges im Leben der drei Freunde etwas Ruhe eingekehrt. Doch neues Unheil kündigt sich an: Die Weimarer Republik steuert auf die Inflation zu und die konservativen Feinde der jungen Demokratie, in deren Einflussbereich über altbekannte Widersacher aus Thorn auch die drei Freunde geraten, werden im Untergrund aktiv: Artur, Isi und Carl entgehen nur knapp einem von rechtsgerichteten Verschwörern unternommenen Mordanschlag. Doch Artur geht mit seinen Männern vom Ringverein zum Gegenangriff über.
Wie die beiden Vorgänger liest sich auch der dritte Band „Labyrinth der Freiheit“ wieder gleichermaßen als spannender Abenteuer- und informativer Geschichtsroman. Izquierdo gelingt es meisterhaft, uns auf leicht lockere Art mit den historischen Fakten, ihren Ursachen und Folgen sowie den gesellschaftlichen Begleitumständen vertraut zu machen. Wir erfahren fast beiläufig die wichtigsten politischen Hintergründe, die – als Folge des von vielen Deutschen damals nicht akzeptierten Versailler Vertrags – in die Radikalisierung konservativer Gruppierungen und zum schleichenden Erstarken der Nazis führen: „Einhunderttausend Nationale in Nürnberg feierten sich zwei Tage lang selbst, angeführt von einem gewissen Adolf Hitler, dessen NSDAP mir erst Anfang des Jahres zum ersten Mal aufgefallen war.“
Wir erleben die anfangs noch schleichende Inflation als Folge der Deutschland überfordernden Reparationszahlungen bis hin zur Hyperinflation des Jahres 1923. Wir beobachten die Zweiteilung der deutschen Gesellschaft in wohlhabende Kriegsgewinnler in ihren Villen und in Arme-Leute-Vierteln hungernde Kriegsverlierer sowie das Chaos einer scheinbar rechtlosen Zeit, in der die mafiös-strukturierten Ringvereine Berlins mit Anführern wie Artur als eigentliche Herrscher das Alltagsleben in ihren Stadtvierteln zu bestimmen scheinen. Nicht zuletzt lernen wir durch Carls Arbeit bei der UFA viel über die ruhmreiche Schaffenszeit der deutschen Filmwirtschaft sowie über die das Filmgeschäft revolutionierende Wende vom Stumm- zum Tonfilm und hören von noch heute berühmten Regisseuren wie Erich Pommer und Fritz Lang.
Es gelingt Andreas Izquierdo auf erstaunliche Weise, diese fast grenzenlos wirkende Sammlung politischer, wirtschaftlicher sowie gesellschaftlicher Fakten und Aspekte scheinbar mühelos in die abenteuerliche Lebensgeschichte der drei Freunde einzubauen, so dass trotz allem historisch Wissenswerten niemals das Gefühl aufkommt, vom Autor historisch belehrt zu werden. Vielmehr nimmt man dank des lockeren Schreibstils eines Unterhaltungsromans diese wichtigen Informationen eher nebenbei und unbewusst auf, während man den drei Freunden in ihrem aufreibenden Alltag folgt. Es lohnt sich also aus vielerlei Gründen, Izquierdos Roman „Labyrinth der Freiheit“ zu lesen. Hilfreich wäre es sicher, die beiden früheren Bände schon zu kennen. Doch auch unabhängig davon ist auch dieser dritte Band der Trilogie „Wege der Zeit“ wieder eine lohnende Lektüre.

Veröffentlicht am 02.12.2022

Literarischer Genuss trotz punktueller Kritik

Der Friedhof der vergessenen Bücher
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REZENSION – Fünf Jahre nach Abschluss seiner zwischen 2003 und 2017 veröffentlichten Tetralogie um die Bibliothek der vergessenen Bücher, die den spanischen Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón (1964-2020) ...

REZENSION – Fünf Jahre nach Abschluss seiner zwischen 2003 und 2017 veröffentlichten Tetralogie um die Bibliothek der vergessenen Bücher, die den spanischen Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón (1964-2020) weltweit berühmt gemacht haben, dürfen seine Fans nun erneut in die mystisch-düstere Atmosphäre Barcelonas in der doch nur fiktiven Welt des Autors eintauchen: Nach der deutschen Hardcover-Ausgabe (2021) erschien Ende November beim S. Fischer Verlag nun auch die preiswertere Taschenbuchausgabe des Erzählbandes „Der Friedhof der vergessenen Bücher“. Mit seinen elf Erzählungen, von denen sieben bisher unveröffentlicht waren, setzt Zafón seiner Heimatstadt, die er allerdings schon 1994 als 30-Jähriger in Richtung Los Angeles verließ, erneut ein Denkmal.
Jede dieser elf Erzählungen, die zwischen dem 16. Jahrhundert und unserer heutigen Zeit spielen, nimmt der Autor einzelne Aspekte seiner vorangegangenen Tetralogie noch einmal auf, vertieft die Charaktere der Hauptfiguren – dazu gehören der Dichter David Martin, die Buchhändlerfamilie Sempere ebenso wie der geheimnisvolle Verleger Andreas Corelli –, lässt durch seinen alle Geschichten verbindenden Ich-Erzähler über deren Vorgeschichte berichten oder trägt damit zum umfassenderen Verständnis seiner magischen Welt um die tief unter Barcelona verborgene Bibliothek bei, in der die durch staatliche Willkür verbotenen und in Vergessenheit geratenen Bücher darauf warten, sich endlich ausgesuchten Lesern wieder öffnen zu dürfen.
Wie die vier Romane bilden auch die Erzählungen eine Erfolg versprechende Mischung aus Schauerroman und Thriller, aus historischem Roman und Liebesgeschichte. So dürfte Zafón mit diesem postum veröffentlichten Band eine breite Leserschaft ansprechen. Andererseits mag man gelegentlich auch ein Abgleiten ins Triviale und Kitschige beobachten, wenn immer wieder von engen, labyrinthischen Gassen Barcelonas, von düsteren, in Nebelschwaden eingetauchten Fassaden zu lesen ist, als würde in Spanien niemals die Sonne scheinen. Doch genau diese düstere Schein- oder Parallelwelt, diese mystische Atmosphäre ist es, die Zafóns Romane zu Bestsellern hat werden lassen.
Der vor 20 Jahren erschienene erste Band um die Bibliothek der vergessen Bücher, „Der Schatten des Windes“, ist nach Experten-Aussage „der größte spanische Bucherfolg seit Cervantes' Klassiker 'Don Quijote'“. Da passt es, dass Zafón gerade ihn in der atmosphärisch besonders beeindruckenden Erzählung „Der Fürst des Parnass“ wieder aufleben lässt. Wenn auch nur entfernt nach der realen Vita des spanischen Nationaldichters angelegt, erfahren wir hier vom Werdegang des zu Lebzeiten noch erfolglosen Miguel de Cervantes (1567-1616), der – so erzählt es Zafón – erst durch den teufelsgleichen Verleger Andreas Corelli, schon damals mit Engels-Brosche am Revers und uns aus „Das Spiel des Engels“ bekannt, zum Abfassen seines 1605 erstveröffentlichten und später zum National-Epos erhobenen Ritterromans „Don Quijote“ genötigt wird. Drucker und Verleger dieses Werks ist in Zafóns Geschichte Antoni Sempere, ein Ahnherr des aus „Der Schatten des Windes“ bekannten Buchhändlersohns und Dichters Daniel Sempere. Tatsächlich ist Cervantes in Madrid beigesetzt, doch Zafón lässt ihn in Barcelona begraben. Auf Cervantes' Grab errichtet Sempere ein Bauwerk, „einen Friedhof der Gedanken und Erfindungen, …. dass er eines Tages die größte aller Bibliotheken beherbergen würde, in der jedes verfolgte oder von der Ignoranz und Bosheit der Menschen verschmähte Werk eine Heimstatt fände und auf die Wiederbegegnung mit dem Leser wartete, den jedes Buch in sich trägt“.
Schon zwischen den einzelnen Bänden der Tetralogie vergingen Jahre, so dass es kaum möglich war, sich der jeweiligen Handlung bis zum nächsten Band zu erinnern. Andererseits ließ sich jeder Band auch unabhängig vom Vorgänger lesen. Dasselbe gilt für die nun veröffentlichten Erzählungen. Doch alle Bücher vereint die magische Erzählwelt Zafóns, die seine Werke so einzigartig machen, dass die Lektüre auch dieses Bandes trotz punktueller Möglichkeit zur Kritik schon sprachlich ein literarischer Genuss ist.

Veröffentlicht am 15.11.2022

Unauffälliges Doppelleben im Hause Goncourt

Doppelleben
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REZENSION – Den Prix Goncourt, der seit 1903 als ältester und bedeutendster Literaturpreis Frankreichs alljährlich im November von der Académie Goncourt für den besten französischsprachigen Roman des Jahres ...

REZENSION – Den Prix Goncourt, der seit 1903 als ältester und bedeutendster Literaturpreis Frankreichs alljährlich im November von der Académie Goncourt für den besten französischsprachigen Roman des Jahres vergeben wird, kennt wohl fast jeder, der gern Bücher liest. Fragt man aber den Literaturfreund nach dem Leben der namensgebenden Schriftsteller-Brüder Edmond (1822-1896) und Jules Goncourt (1830-1870), spürt man oft Unwissen. Diese Wissenslücken lassen sich jedoch seit August mit der im Verlag Galiani veröffentlichten Romanbiografie „Doppelleben“ des Schweizer Schriftstellers Alain Claude Sulzer (69) auf wunderbare Weise schließen.
Der Autor entführt uns mit seinem einfühlsamen Roman zunächst ins Jahr 1869 und lässt uns am Alltag der zwillingsgleich lebenden Brüder Edmond und Jules in ihrer Villa in Auteuil am westlichen Stadtrand von Paris teilhaben. Dort war das Brüderpaar erst ein Jahr zuvor eingezogen. Sie erhofften sich die Stille zum Arbeiten, die in ihrer früheren Stadtwohnung gegenüber der lärmenden Musikwerkstatt von Adolphe Sax, dem Erfinder des Saxophons, nicht gegeben war. Doch kaum eingezogen, brach beim acht Jahre jüngeren Jules die tödliche Syphilis aus, mit der er sich schon als Jüngling 20 Jahre zuvor infiziert hatte und die schließlich 1870 zum qualvollen Tod des erst 39-Jährigen führte.
Sulzer schildert in einer Rahmenhandlung ähnlich nüchtern, fast brutal, wie es im gemeinsamen Tagebuch der Brüder nachzulesen ist, Jules' körperlichen und geistigen Verfall. Rückblicke mit Berichten aus dem bisherigem Leben beider Brüder zeigen bald ein Gesamtbild und lassen uns Edmond und Jules besser kennenlernen. Wir erfahren vom Tod der Mutter, von gesellschaftlichen Treffen mit ihrem Freund Gustave Flaubert und anderen Künstlerkollegen im Palais der Napoleon-Nichte Prinzessin Mathilde Bonaparte. In einer längeren Parallelhandlung erfahren wir vom traurigen Schicksal ihrer Haushälterin Rose.
Vor allem diese Gegenüberstellung zweier Lebensläufe in Glanz und Elend – das Wohlstandsleben der Brüder Goncourt, die sich aufgrund ihres ererbten Grundbesitzes und Vermögens ganz der Schriftstellerei widmen können, und zeitgleich jenes armselige, bedauernswerte Schicksal ihrer Haushälterin Rose – bringen die Spannung und Dramatik in Sulzers Roman. Erst jetzt erkennt man die eigentliche Aussage des Romantitels: Mit „Doppelleben“ ist weniger das Leben der zwei Brüder Goncourt gemeint, die doch eher nur ein, nämlich gemeinsames Leben führten, sondern vielmehr das Leben des Brüderpaares zeitgleich zu jenem ganz anderen ihrer Haushälterin – zwei Leben in zwei Parallelwelten. Diese Gegensätzlichkeit des „Doppellebens“ macht Sulzers gleichnamigen Roman nicht nur für Freunde literarischer Klassiker, sondern auch allgemein für Liebhaber historischer Romane interessant und lesenswert: Obwohl die Brüder Goncourt als genaue Beobachter bekannt sind, denen angeblich keine Kleinigkeit entging, achteten sie doch nur auf ihre eigene Gesellschaftsschicht. Der beklagenswerte „Absturz“ ihrer Haushälterin, die das Brüderpaar schon seit deren Kinderjahren treu umsorgte, zuletzt aber zur Trinkerin und Diebin wird, fiel beiden nicht auf. Rose gehörte für sie zwar als Dienstperson zum Haus, doch der Mensch Rose war für beide uninteressant.
Mit „Doppelleben“ ist dem bereits mehrfach ausgezeichneten Schweizer Autor wieder ein lesenswerter Roman gelungen, der dazu verleitet, sich nach der Lektüre mit den beiden Goncourts noch intensiver zu beschäftigen. Kritisch wäre allenfalls anzumerken, dass Jules' Krankheitsverlauf und körperlicher Verfall nicht in dieser Ausführlichkeit hätte beschrieben werden müssen.

Veröffentlicht am 06.11.2022

Unterhaltungsroman mit historischem Hintergrund

Die Lichter von Barcelona
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REZENSION – Mit den ersten freien Wahlen endete 1977 das diktatorische Franco-Regime. Doch die politische und literarische Aufarbeitung der grausamen und Millionen Opfer fordernden Militärdiktatur begann ...

REZENSION – Mit den ersten freien Wahlen endete 1977 das diktatorische Franco-Regime. Doch die politische und literarische Aufarbeitung der grausamen und Millionen Opfer fordernden Militärdiktatur begann erst in den 2000er Jahren. Die Auswirkungen des Franquismus halten gesellschaftlich und politisch sogar bis heute an. Vergleichbar vor allem mit der deutschen Nachkriegsliteratur, sind deshalb in Spanien die Jahre der Franco-Diktatur noch immer ein für Autoren wichtiges Thema. Aktuelles Beispiel ist der im Juli im Limes Verlag veröffentlichte Roman „Die Lichter von Barcelona“ des mehrfach ausgezeichneten spanischen Schriftstellers und Drehbuch-Autors Pere Cervantes (51).
Die Handlung des Romans beginnt direkt nach dem Zweitem Weltkrieg im Jahr 1945 und setzt sich über 1947 bis 1949 fort. Diese Zeitspanne war einerseits die Zeit der Erholung vom Krieg, andererseits die düsterste Zeit der spanischen Diktatur in der Verfolgung des politischen Widerstands, eine Zeit gesellschaftlicher Unsicherheit, eine Phase der andauernden Bespitzelung. „Es war eine Art Waffenstillstand, während dem es verboten war, bei Tisch über Politik zu sprechen und die [Menschen] zu erwähnen, die nicht da waren, vor allem, wenn der Krieg und seine Folgen schuld daran waren.“ In dieser dunklen Zeit wächst der 13-jährige Nil Roig in der alleinigen Obhut seiner Mutter Soledad auf, denn Vater David lebt seit Jahren als Mitglied einer Widerstandsgruppe im Verborgenen. Nur des Vaters Stimme, der früher Hollywood-Filme synchronisierte, ist dem Sohn auf alten Filmrollen geblieben.
Um den armseligen Lohn seiner Mutter aufzustocken, bringt der Junge mit seinem Fahrrad die jeweils benötigten Filmrollen von einem Kino zum anderen. Ansonsten entzieht sich Nil der Wirklichkeit des unbarmherzigen Alltags, indem er in die Traumwelt der Filme und verbotenen Bücher entflieht. Beides ermöglicht ihm Buchhändler Leo, der nicht nur ein kleines Antiquariat betreibt, sondern im Keller auch ein geheimes Kino. Väterliche Freunde sind zudem der Filmvorführer Bernardo und sein Lebensgefährte und Platzanweiser Paulino. Eines Tages wird Nil im heimischen Hausflur Zeuge eines Mordes. Der Sterbende steckt ihm noch ein Schauspieler-Sammelfoto zu und flüstert den Namen seines Vaters David. Bald bekommt Nil zu spüren, dass andere auf der Jagd nach diesem Foto sind.
Nicht nur der Zeitrahmen der Handlung, das Gefängnis von Montjuïc und Leos Antiquariat mit verbotenen Büchern erinnern zwangsläufig an die ab 2001 erschienene vierbändige Bestseller-Reihe „Friedhof der vergessenen Bücher“ von Carlos Ruiz Zafón über die Geschehnisse um die Buchhandlung Sempere & Söhne in Barcelona. Wohl ganz bewusst hat der Limes Verlag für den Cervantes-Roman „El chico de las bobinas“ - auf Deutsch „ Der Junge mit den Filmrollen“ - deshalb auch als Titel „Die Lichter von Barcelona“ gewählt, ähnelt dieser doch Zafóns viertem Band „Das Labyrinth der Lichter“ aus dem Jahr 2017.
Doch an das literarische Niveau Zafóns reicht Pere Cervantes keinesfalls heran. Bei ihm spürt man vielmehr die Erfahrung des modernen Drehbuch-Autors. Die Handlung ist stark vereinfacht, die Personenzahl überschaubar, was der Autor von seinem Alter Ego am Schluss indirekt bestätigen lässt: „Um mit den Stimmen einiger weniger die Geschichte so vieler zu erzählen.“ Cervantes' Protagonisten sind zu strikt in bitterarme, politisch verfolgte Republikaner, die wie in einem Ghetto zusammenleben, sowie reiche System- und Kriegsgewinnler (Falangisten) eingeteilt. Dazwischen scheint es nichts und niemanden zu geben. Besonders störend ist vor allem die in Einzelheiten ergehende Schilderung sexueller und gewalttätiger Misshandlungen an den Opfern des Geheimdienstlers Victor Valiente, wo schon Andeutungen ausreichend gewesen wären. Dadurch verliert der Roman leider zusätzlich an literarischem Niveau. Dennoch: Das Buch „Die Lichter von Barcelona“ ist durchaus spannend, nur historisch allzu klischeehaft. So bleibt es allein ein gut zu lesender und aktionsreicher, deshalb sicher gut verfilmbarer Unterhaltungsroman mit interessanter Handlung.

Veröffentlicht am 01.11.2022

Düsterer Psycho-Roman, anfangs zu schleppend

Bullauge
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REZENSION – Eigentlich geschieht gar nicht so viel in „Bullauge“, dem im September beim Suhrkamp Verlag erschienenen neuen Werk des für seine Romane mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers Friedrich Ani ...

REZENSION – Eigentlich geschieht gar nicht so viel in „Bullauge“, dem im September beim Suhrkamp Verlag erschienenen neuen Werk des für seine Romane mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers Friedrich Ani (63), der vor allem durch seine Bücher um den pensionierten Polizeibeamten Jakob Franck und Kommissar Tabor Süden bekannt ist. Trotzdem wird man beim Lesen dieses Krimis, der weniger ein Kriminalroman als vielmehr ein bedrückender Psycho-Roman ist, von der für diesen Autor so typisch düsteren Stimmung langsam angezogen, bald berührt und schließlich doch irgendwie gepackt.
Hauptfigur ist der durch einen kürzlichen Unfall aus seinem Leben geworfene, seit seiner Scheidung allein lebende Polizist Kay Oleander in München, der uns seine Geschichte erzählt. Beim Einsatz auf einer Rechtsradikalen-Demo wurde er mit einer Bierflasche im Gesicht getroffen, wodurch er auf einem Auge blind wurde. Vom Polizeidienst vorerst freigestellt, kann er mit sich nichts anfangen und verfällt dem Alkohol. Aus Langeweile versucht er durch unerlaubtes Aktenstudium und heimliches Sichten von Video-Aufzeichnungen herauszufinden, welcher Demonstrant seine Verletzung verschuldet haben könnte. In den Akten ist der Name Silvia Glaser als Teilnehmerin genannt. Oleander sucht sie zuhause auf. Auch sie ist Invalide seit einem Fahrradunfall, ihrer Meinung nach durch einen Streifenwagen verursacht. Glaser, nach dem Unfall am politischen System zweifelnd, hat seitdem Kontakt zu einer rechtspopulistischen Partei, aus deren Fängen sie sich jetzt befreien möchte, aber Schwierigkeiten befürchtet. Sie gesteht Oleander, Andeutungen für ein geplantes Attentat aufgeschnappt zu haben, und bittet ihn um Hilfe. Erst zögert Oleander, vermutet sogar eine Falle, beschließt aber dann doch, dem Verdacht eines möglichen Attentats nachzugehen. Doch wie soll er vorgehen? Von offizieller Seite kann er seit seiner Freistellung nicht auf Unterstützung hoffen. Zum Glück erklärt sich Kollege Gilles bereit, ihm inoffiziell und im Verborgenen zu helfen.
Anis neuer Roman schleppt sich anfangs doch etwas dahin, dass man als Leser schon einiges an Durchhaltevermögen braucht. Doch wer die bisherigen Romane dieses Autors kennt, weiß, dass es sich lohnen kann durchzuhalten. Tatsächlich wird man fast unmerklich von Seite zu Seite tiefer in die betrübliche Lebenssituation sowohl Oleanders als auch Glasers gezogen. Es ist faszinierend, wie Friedrich Ani tief in die Psyche seiner beiden Protagonisten eindringt, in gewisser Weise ihre Seele seziert. Faszinierend ist auch Anis Beschreibung, wie Oleander und Glaser, obwohl anfangs sich gegenseitig stark misstrauend, langsam einander näherkommen in dem Gefühl, verlassen von ihren Mitmenschen nur sich selbst gegenseitig Beistand bieten zu können.
„Bullauge“ ist eine Mischung aus einem düsteren Krimi Noir und einem aktuellen Politthriller, bildet doch die aktuelle Szene aus Rechtspopulisten und Querdenkern den Handlungshintergrund. Anfangs noch schleppend im Handlungsfortschritt, nimmt der Roman leider erst spät an Fahrt auf, um schließlich mit einem überraschenden und rasanten, vielleicht aber doch absehbaren Finale zu enden. „Bullauge“ ist wie alle Bücher Anis ein sprachlich ausgezeichneter, aber leider dramaturgisch sich nur langsam, vielleicht zu langsam aufbauender, spät aber noch fesselnder Psycho-Roman mit aktueller Thematik. Er gehört sicher zu den besseren Romanen im aktuellen Buchmarkt. Doch habe ich durchaus schon Besseres und Spannenderes von Friedrich Ani lesen können.