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Veröffentlicht am 13.10.2022

Wenn das Leben in die Schieflage gerät

Die Ewigkeit ist ein guter Ort
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Elke verliert den Halt. Von jetzt auf gleich kann die junge Theologin aus Köln nicht mehr beten, weder laut noch leise. Die Worte wollen einfach nicht aus dem Mund, selbst das Vaterunser geht nicht mehr ...

Elke verliert den Halt. Von jetzt auf gleich kann die junge Theologin aus Köln nicht mehr beten, weder laut noch leise. Die Worte wollen einfach nicht aus dem Mund, selbst das Vaterunser geht nicht mehr über ihre Lippen. Elkes Umwelt reagiert mit Unverständnis. Sie soll doch die Pastorenstelle ihres Vaters übernehmen, in einem kleinen Ort in Norddeutschland. Aber will sie das wirklich? Ihr Leben gerät buchstäblich aus den Fugen, mit einer toten Maus, einem Papagei namens Gertrude, einer Gruppe von Steilwandfahrern und einer Leerstelle in ihrem Leben.

Der Roman hat mir gut gefallen. Eine ungewöhnliche Geschichte, an der mich nur der allzu verständnisvolle und perfekte Jan etwas gestört hat. Die Autorin hat mit der Schieflage von Elke und der väterlichen Kirche ein schönes Bild gefunden. Wenn das Fundament nicht fest ist, wackelt es oben. Es geht um ein unverarbeitetes Ereignis, das sich durch die Sprachlosigkeit einen Weg an die Oberfläche sucht.

Die Geschichte ist leicht geschrieben, läßt sich flott lesen, regt aber dennoch zum Nachdenken an. Es handelt sich keinesfalls um eine Art Bekehrungsschrift, sondern um die teils amüsante, teils traurige Sinnsuche der Protagonistin, aus der jede/r etwas für sich selbst mitnehmen kann.

"Ich weiß noch nicht, wie es um mein Fundament bestellt ist. Aber ich möchte mein Leben gerne im Licht dieser Ewigkeit sehen. Die Ewigkeit ist ein guter Ort." (S.295)


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Veröffentlicht am 13.10.2022

Medizinstudent zwischen Kosaken und Husaren

Der Wintersoldat
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Gegen den Willen seiner wohlhabenden polnischstämmigen Familie beginnt Lucius ein Medizinstudium in seiner Heimatstadt Wien. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbricht, sieht Lucius seine Chance, dem ungeliebten ...

Gegen den Willen seiner wohlhabenden polnischstämmigen Familie beginnt Lucius ein Medizinstudium in seiner Heimatstadt Wien. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbricht, sieht Lucius seine Chance, dem ungeliebten theoretischen Studium zu entkommen und endlich praktische Arbeit leisten zu können. Als er nach einigen Umwegen sein Ziel in Galizien, dem östlichen Teil des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs, erreicht, sieht er sich mit einem Behelfslazarett in einer Kirche konfrontiert und er, der die Medizin lediglich aus Büchern kennengelernt hat, ist der einzige Arzt. Läuse, verantwortlich für Typhusepidemien, Ratten, und Amputationen, die durch Wundinfektionen nötig werden sowie psychische Leiden bestimmen fortan sein Leben als Mediziner. Durch die praktische Hilfe der erfahrenen Schwester Margarete gelingt es Lucius bald, eine Art Routine zu entwicklen. Besonders die erfolgreiche Behandlung eines Patienten mit Nervenleiden bringt Lucius Auftrieb, bis ein Rekrutierungskommando nach wieder wehrfähigen Soldaten sucht. Lucius trifft eine folgenschwere Entscheidung. In einer nebeligen Nacht verliert er zudem Margarete aus den Augen und in Galizien steht die Brussilow-Offensive bevor.

Daniel Mason hat einen unglaublich eindrucksvollen Roman über die Schrecken des Krieges geschrieben. Schonungslos werden die desolaten Zustände an der Front beschrieben, der grausame Umgang mit dem "Kriegsmaterial" Mensch, die unzureichende Ausrüstung der Soldaten, der fehlende Nachschub an medizinischer Ausstattung, die Planlosigkeit der militärischen Aktionen und vor allem die Sinnlosigkeit des Kriegs. Der Autor versteht es geschickt, bereits während der geschilderten Studienzeit in Wien die nicht mehr zeitgemäße, wirklichkeitsferne und in Selbstherrlichkeit versunkene Obrigkeit darzustellen; bestes Beispiel ist Professor Zimmer.

Wie Lucius buchstäblich in den Krieg stolpert und wie die Hässlichkeit des Krieges ihn in vielen kleinen Episoden durch die Jahre begleitet, ist wirklich gut geschrieben und lesenswert. Man sollte allerdings nicht zu zart besaitet sein, denn die Behandlung von verwundeten Soldaten nimmt einen nicht unerheblichen Raum ein. Es gibt aber auch viele feinfühlige Kontrastszenen, in denen die Landschaft oder die zarte Beziehung zwischen Lucius und Margarete im Zentrum stehen. Die Abgeschlossenheit des kleinen Ortes in den Karpaten und die kleine Gruppe von Menschen, die sich um die Verletzten bemüht, sind einerseits repräsentative Figuren, andererseits haben sie aber auch ganz besondere Biographien erhalten. Die Örtlichkeit, die Figur des unerfahrenen Lucius und die beherrschenden Themen Krankheit und Tod haben mich ein klein wenig an Manns "Zauberberg" erinnert. Zeitlich überschneiden sich die Romane, wo der "Zauberberg" endet, beginnt der "Wintersoldat", nämlich mit dem 1. Weltkrieg und dem Zerfall der alten Ordnung.

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Veröffentlicht am 13.10.2022

Warmherziger und rührender Roman

Ein Baum wächst in Brooklyn
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Auf nichts freut sich die 11-jährige Francie mehr, als auf den Samstag in Brooklyn. Er verspricht so viel wundervolle Freuden, dass die ersten 70 Steiten des Romans nur einen Samstagnachmittag im Jahre ...

Auf nichts freut sich die 11-jährige Francie mehr, als auf den Samstag in Brooklyn. Er verspricht so viel wundervolle Freuden, dass die ersten 70 Steiten des Romans nur einen Samstagnachmittag im Jahre 1912 beschreiben. Mit der Begeisterungsfähigkeit und uneingeschränkten Liebe, wie sie nur ein Kind empfinden kann, wird jedes Ritual, jede Kleinigkeit beschrieben und plötzlich steht man mitten in Brooklyn. Geräusche, Gerüche und das ganze bunte Treiben auf der Straße, den Hinterhöfen und Geschäften, die Jagd nach jedem Penny, den der Trödler herausrückt und die wohlüberlegte Umsetzung des Ertrages in Süßigkeiten ziehen die Leser hinein in eine wunderschöne Geschichte.

Francie wächst in bitterer Armut auf, oft genug müssen sie und ihr Familie hungern und frieren. Die Zuversicht verläßt sie jedoch nicht, allem kann sie noch etwas Gutes abgewinnen, selbst dem trunksüchtigen Vater und den Erniedrigungen und Ungerechtigkeiten in der Schule. Sie hat ein Ziel, das sie nicht aus den Augen verliert: Eines Tages möchte sie Schriftstellerin werden.

"Aber Armut, Hunger und Trunkenheit sind doch hässliche Themen. Wir alle wissen ja, dass es das gibt. Aber man schreibt doch nicht darüber." (S. 406), urteilt die Englischlehrerin über Francies Aufsätze. Doch genau darüber schreiben Francie und Betty Smith und das so warmherzig, anrührend und liebevoll, dass man diesen Roman einfach lieben muss.

Überbordend an Beobachtungen, Situationsbeschreibungen und Ideen läßt der Roman uns teilhaben an Francies Weg ins Erwachsenenleben. Eine Geschichte die Mut macht, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und eindrücklich versinnbildlicht durch den Baum, der sich aus dem Schutt der Hinterhöfe in die Sonne reckt und wächst und wächst.

Riesige Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 13.10.2022

Die Nase im Wind

Logbuch der Leidenschaft
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Ein U-Boot-Kommandant segelt 1949 eine Yacht von Brake über den Atlantik nach Brasilien, vorbei an den Nordsee-Minen des 2. Weltkrieges. Ein amerikanischer Schriftsteller läßt sich eine 57-Fuß-Yacht bauen, ...

Ein U-Boot-Kommandant segelt 1949 eine Yacht von Brake über den Atlantik nach Brasilien, vorbei an den Nordsee-Minen des 2. Weltkrieges. Ein amerikanischer Schriftsteller läßt sich eine 57-Fuß-Yacht bauen, die statt der veranschlagten 7.000 Dollar dann doch stattliche 30.000 Dollar kostet, und sticht damit 1907 von San Francisco aus in See; mit an Bord sind nicht nur seine Schreibmaschine, sondern auch ein Grammophon und 500 Bücher. Dann gibt es da diese kleine Jolle, gerade mal 4,83 Meter lang und 1,85 Meter breit, ohne Unterschlupft, die 1963 mit zwei Mann Besatzung eine Strecke von 650 Meilen über den Nordatlantik zurücklegt, durch einen Orkan, der seinesgleichen sucht. Ein junger Franzose zerlegt den Rekord seines Vorgängers, indem er 2017 mit seinem 30 Meter langen Trimaran in 42 Tagen um die Welt segelt. Er schafft die 50.000 Kilometer unfassbare 6 Tage und 10 Stunden schneller, mit einem 15-köpfigen Team im Hintergrund und haufenweise moderner Technik. Die Apollo-Missionen standen gar Pate für eine Reparaturmethode.

Na, neugierig geworden?

Nicht nur für Segelfans hat Autor Marc Bielefeld hier 15 abenteuerliche Geschichten zusammengestellt, die von einer unbedingten Passion für das Wasser und das Segeln handeln. Obwohl es natürlich nicht ohne Fachvokabular geht, lassen sich die Reportagen auch ohne Segelkenntnisse hervorragend lesen. Der Autor versteht es, voller Emotionen die Leidenschaft zu vermitteln, die für die oft waghalsigen Segeltörns notwenig war. Alles andere als sachlich formuliert Bielefeld seine Texte, jede Geschichte für sich ein "dolles Ding". Besonders gut hat mir die Mischung gefallen, quer durch die Jahrhunderte, winzige Jollen und "hochnervöse Segelmonster": Männer auf der Jagd nach Rekorden und solche, die kurz vor dem Ziel lieber abdrehen; Frauen, die per Anhalter um die Welt segeln oder Armenspeisung betreiben.

Abgerundet wird das "Logbuch der Leidenschaft" durch Fotos zu jedem Beitrag in der Mitte des Buches. Das Inhaltsverzeichnis bietet gleichzeitig jeweils einen kurzen Abriss der einzelnen Reportagen. Die Literaturangaben enthalten einiges, das ich zusätzlich lesen werde, um mehr über einzelne Segelpersönlichkeiten zu erfahren.

Im August habe ich auf der Segelyacht von Freunden übernachtet. Ein 44 Fuß langes Boot aus den 1920er Jahren, eine Ketsch aus Teakholz. In der Wandkoje kam ich mir vor wie in einem Sarg und nun weiß ich, dass diese Rohrkojen tatsächlich so heißen: Coffin Bank, Sargkoje.

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Veröffentlicht am 22.09.2022

"Mumbai" oder "Kopenhagen"?

Der Markisenmann
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Das ist in etwa die gleiche Auswahl wie zwischen Pest und Cholera. So jedenfalls fühlt es sich für die fünfzehnjährige Kim an, als sie entdeckt, mit was ihr Vater mehr schlecht als recht sein Geld verdient, ...

Das ist in etwa die gleiche Auswahl wie zwischen Pest und Cholera. So jedenfalls fühlt es sich für die fünfzehnjährige Kim an, als sie entdeckt, mit was ihr Vater mehr schlecht als recht sein Geld verdient, nämlich mit dem Verkauf von unleugbar häßlichen Balkonmarkisen in zwei Designs. "Ein gigantischer Vorrat an Markisen, mit denen man halb Deutschland verschatten konnte." (S. 49) Sechs Wochen Sommerferien bei ihrem Vater, den sie bis dahin noch nie gesehen hat und von dem sie nichts weiß. Mutter, Stiefvater und Stiefbruder sind allein in Florida, wegen des "Vorfalls", und Kim sitzt in der Lagerhalle ihres Vaters mitten im Ruhrgebiet und weiß noch nicht, dass dieser Sommer ihr Leben verändern wird. Dass sie den Haustürverkauf ihres Vater in die Hand nimmt, ist erst der Beginn.

Vorweg: Ich habe mich weggeworfen vor Lachen. Die Verkaufstouren von Vater und Tochter, die Abende bei Klaus in Rosi's Pilstreff oder später im MBC, das Fußballspiel zwischen Schalke 04 und Dinslaken, das Skatturnier der Arbeiterwohlfahrt in Rheinhausen. Lauter Maximalausschläge auf der Gute-Laune-Skala. Der staubtrockene Humor, die Vergleiche und Metaphern haben mir sehr gefallen. ("Skat ist das Fliegenfischen unter den Kneipensportarten." S. 234)

Jan Weiler hat aber nicht nur einen urkomischen, kurzweiligen Roman geschrieben, sondern auch einen traurigen und nachdenklich stimmenden. Es geht um gescheiterte Beziehungen, den Platz im Leben und um Verrat und Schuld. Für Vater und Tochter stellt sich die zentrale Frage gleichermaßen: Warum hast Du das getan?

Die Geschichte wird in der Rückschau aus der Sicht von Kim geschildert. Daher liegt hier durchaus ein Coming-of-Age-Roman vor. Ihr Charakter ist den Lesern am nächsten, aber auch ihren Vater Ronald Papen und ihren Stiefvater Heiko Mikulla lernt man zusehends besser kennen und auch verstehen.

Eine absolute Leseempfehlung. Man lernt viel in diesem Roman, über Beschattung, die ehemalige DDR und über Eis und Wurst im Ruhrgebiet: "Bei Eis immer Venezia, denn das Venezia ist das Akropolis der Eisherstellung." (S. 164)

Es gibt viel Musik in diesem Roman und am Ende des Buches den QR-Code zum Soundtrack, der auch bei einem Audio-Streaming-Dienst hinterlegt ist. Großartige Idee.

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