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Veröffentlicht am 18.12.2023

Generationenroman, der die DDR-Geschichte spiegelt

In Zeiten des abnehmenden Lichts
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1. Oktober 1989: Wilhelm wird 90 und erhält den vaterländischen Verdienstorden in Gold. "Ich hab genug Blech im Karton." Er ist vergesslich geworden, starrsinnig und stößt seine Umwelt vor den Kopf. Wilhelm ...

1. Oktober 1989: Wilhelm wird 90 und erhält den vaterländischen Verdienstorden in Gold. "Ich hab genug Blech im Karton." Er ist vergesslich geworden, starrsinnig und stößt seine Umwelt vor den Kopf. Wilhelm und Charlotte sind die erste Generation in diesem Familienroman, der sich von den 1950er Jahren bis 2001 erstreckt. Als die beiden aus dem Exil in Mexiko in die DDR zurückkommen, sind beide vom System überzeugt und stürzen sich voller Tatendrang in den Staatsaufbau. Ihr Sohn Kurt hat Jahre in einem Gulag verbracht und sich mit seiner russischen Frau Irina ebenfalls in der DDR "eingerichtet". Deren Sohn Sascha nutzt die Aufbruchstimmung im Herbst 1989 und flieht in den Westen, an Großvaters 90. Geburtstag. Sein Sohn Markus bleibt in Ostdeutschland.


Eugen Ruge hat einen ganz wunderbaren Roman über eine außergewöhnliche Familie geschrieben. Das Buch hat mir unglaublich gut gefallen. Neben den Charakteren hat mich die Sprache sehr angesprochen. So treffend, humorvoll, sarkastisch und für jede Figur den richtigen Ton anschlagend, ist es ein Vergnügen dieses Buch zu lesen. Die Konstruktion der Geschichte ist sehr kunstvoll und überlegt. Sie findet auf drei Zeitebenen statt: Einmal die Geschichte der Familie, die 1952 bis 1995 fortlaufend erzählt wird, dann das Jahr 2001, das aus der Sicht von Alexander/Sascha erzählt wird und schließlich der 1. Oktober 1989, der von verschiedenen Familienmitgliedern zusammengesetzt wird. Die Zeitebenen wechseln sich ab und so baut sich die Geschichte nach und nach auf. Zweifel, Ängste und Erkenntnisse werden hochgeschwemmt und am Ende, wenn auch Sascha in Mexiko ist, ist er (unwissentlich) seiner Familie so nahe, wie selten zuvor.


Einen großen Teil des Buches habe ich gelesen, den ganzen Roman habe ich aber auch als Hörbuch gehört und das muss ich unbedingt empfehlen. Ulrich Noethen liest einfach fulminant! Er meistert die verschiedenen Dialekte, Akzente und fremdsprachlichen Einsprengsel ebenso wie die besondere Sprache dieses Roman. Es ist einfach eine Freude ihm zuzuhören. Durch den verschlungenen Aufbau des Buches war es mir aber wichtig, einen Großteil auch selbst zu lesen. Eine klare Lese- und Hörempfehlung.

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Veröffentlicht am 20.11.2023

Wer ist hier ein Monster?

Monster (Ein Bodenstein-Kirchhoff-Krimi 11)
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Dies ist bereits der 11. gemeinsame Fall für Pia Sander und Oliver von Bodenstein und der Krimi hat mir sehr gut gefallen.

Es geht sofort spannend los, als eine Sechzehnjährige vermisst wird, die eigentlich ...

Dies ist bereits der 11. gemeinsame Fall für Pia Sander und Oliver von Bodenstein und der Krimi hat mir sehr gut gefallen.

Es geht sofort spannend los, als eine Sechzehnjährige vermisst wird, die eigentlich bei einer Freundin übernachten wollte. Ihre Leiche wird bald gefunden, ganz in der Nähe des Elternhauses, hinter einem Marienaltar im Wald. Auf Lissys Kleidung gibt es zahlreiche Spuren, eine davon führt zu einem bereits vorbestraften Asylbewerber. Natürlich bekommt fast augenblicklich die Öffentlichkeit und damit auch die Presse Wind von der Sache und aus dem gesuchten Zeugen wird auf dem Papier sofort der Täter. Dieser bleibt jedoch unauffindbar. Als ein Mann ohne Schuhe Opfer eines Verkehrsunfalls wird, haben die Beamten des K11 in Hofheim neben der SOKO Lissy einen weiteren Fall auf dem Tisch. Oder ist es letztlich doch nur ein Fall?

Das vertraute Personal aus den vorherigen Bänden kommt zügig zum Einsatz und als Leser ist man sofort mitten in der Handlung und kann das Buch praktisch nicht aus der Hand legen. Die Autorin versteht es auch in diesem Band, die Spannung permanent aufrecht zu erhalten. Als man meint, alles wäre schon geklärt, ist das Buch erst zur Hälfte durch. Es kristallisiert sich recht schnell heraus, was hinter dem Unfallopfer auf der Straße steckt, dennoch geht das Tempo des Krimis nicht zurück. Nele Neuhaus nimmt sich eines heiklen Themas an, zu dem sie viel recherchiert hat, wie der Quellennachweis zeigt, nämlich Migration und Kriminalität. Sie geht das Thema sensibel an und läßt durch die Beteiligten verschiedene Meinungen aufeinanderprallen. Aus dem dargestellten Konflikt ergibt sich die Frage: Was ist Gerechtigkeit?

Mir gefällt in diesem Buch wieder die Balance zwischen Krimigeschehen und privaten Ereignissen. Beides ist glaubhaft dargestellt, die Zerrissenheit, wenn Pia sich neben der Arbeit gleichzeitig um ihre demente Mutter kümmern muss oder wenn Oliver durch ein Trauma völlig neben sich steht und zudem wegen seines Alters Angst um seine Chefposition haben muss. Auch die Ermittlung wird so geschildert, dass man zwar eindeutig merkt, wie viel kleinteilige Arbeit nötig ist, aber dennoch nicht gelangweilt wird. Man verfolgt das Geschehen mit sehr großem Interesse. Und das gilt auch für die Dialoge, die ja benötigt werden, damit die Handlung in einem Krimi vorangeht, denn es werden ja ständig Leute befragt und Besprechungen abgehalten.

Das Cover reiht sich prima in die Serie ein und mit 553 Seiten bietet der Roman einige Stunden super Unterhaltung. Ich habe ihn an einem Wochenende durchgesuchtet. Für Krimifreunde eine absolute Empfehlung und für Fans der Reihe sowieso. Man kann es durchaus lesen, ohne die vorherigen Teile zu kennen.

Immer ein bisschen ärgerlich: Wahrscheinlich musste die Schlusskorrektur wieder sehr schnell gehen. Mir sind vier fette Druckfehler aufgefallen: vergessene Wörter, vergessenes Leerzeichen und Zeilensprung.


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Veröffentlicht am 08.11.2023

Beschwingtes Großstadtmärchen

Sungs Laden
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Alles beginnt mit einem Kulturgut, das Minh, Grundschüler am Prenzlauer Berg, in seiner Schule präsentieren soll. Gemeinsam mit seiner Großmutter stellt er eine Wassermarionettenpuppe vor, die bislang ...

Alles beginnt mit einem Kulturgut, das Minh, Grundschüler am Prenzlauer Berg, in seiner Schule präsentieren soll. Gemeinsam mit seiner Großmutter stellt er eine Wassermarionettenpuppe vor, die bislang ein vergessenes Dasein in einem Wandschrank gefristet hatte. Mit dieser alten Puppe aus Vietnam schwappt eine Welle über das Viertel, wie es sie noch nicht gegeben hat und verzaubert Menschen und Prenzlauer Berg.

Mit ganz viel Warmherzigkeit und Einfühlungsvermögen zeichnet Karin Kalisa diese bezaubernde Geschichte und ihre Figuren. Der humorvolle Schreibstil unterstreicht die sich verselbständigende Bewegung, die von den Akteuren immer weiter auf die - wortwörtliche - Spitze getrieben wird Es macht einen wirklich glücklich, diese langsam wachsende Symbiose zwischen Vietnam und Berlin zu verfolgen. Dabei verwebt die Autorin geschickt die Geschichte der zehntausend vietnamesischen Arbeitskräfte, die im Rahmen der sozialistischen "Bruderhilfe" in die DDR kamen, um dort eine Fachausbildung zu erhalten und im Gegenzug die dingend benötigte Arbeitskraft zu stellen. Eine Integration erfolgte in den meisten Fällen nicht, die auf Zeit angestellten Asiat:innen blieben unter sich. Beziehungen zu DDR-Bürger:innen waren untersagt, es galt sogar ein Kontaktverbot. Dieses traurige Kapitel wird anhand von Minhs Familie aufgezeigt, die aber auch den Anstoß zu der fast märchenhaft anmutenden Veränderung des Viertels gibt.

Ich habe den Roman sehr gerne gelesen. Er hat mich an Bergsalz erinnern. In diesem Buch der Autorin geht es auch um einen Ruck, der durch eine Gemeinschaft geht, die sich für "Fremdes" öffnet und alle am Ende glücklich entlässt. Ein Wohlfühlbuch, das zudem Interessantes über das - mir vorher unbekannte - Wassermarionettentheater vermittelt und die Geschichte der vietnamesischen Arbeitsmigrant:innen in der DDR ans Licht holt.

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Veröffentlicht am 08.11.2023

Das Schweigen einer Familie

Dschinns
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Hüseyin macht sich 1971 aus seinem kleinen Dorf in der Türkei auf den Weg nach Deutschland. Als er in Istanbul Station macht, entbrennt in ihm der Wunsch, hier einmal als wohlhabender Mann eine Wohnung ...

Hüseyin macht sich 1971 aus seinem kleinen Dorf in der Türkei auf den Weg nach Deutschland. Als er in Istanbul Station macht, entbrennt in ihm der Wunsch, hier einmal als wohlhabender Mann eine Wohnung zu besitzen. 1999 steht er wieder in Istanbul, nach fast 30 Jahren voller Plackerei im kalten Deutschland - in seiner Eigentumswohnung. Während es in Deutschland nur gebrauchte Möbel und nichts Schönes gab, ist er hier nahezu verschwenderisch in der Ausstattung. Eben noch denkt er, wie seine ahnungslose Familie auf diese Wohnung reagieren wird, da bricht er mit einem Herzinfarkt tot zusammen. So endet das erste Kapitel. Die nächsten sind jeweils aus der Sicht eines der vier Kinder geschrieben, das letzte Kapitel gehört der Mutter.

Der Roman wurde zu recht hoch gelobt. Ich habe ihn wahnsinnig gerne gelesen. Die Autorin verwendet einen flotten, ansprechenden und passenden Schreibstil und taucht ganz tief ein in die Geheimnisse, Sorgen und Wünsche jeder und jedes einzelnen, der verflucht glaubwürdigen Charaktere. Da werden so viele Themen angesprochen, so viele Ebenen beschritten und so viele Spuren gelegt. Man kann gar nicht anfangen, Beispiele zu nennen, weil es so wahnsinnig viele wichtige Aspekte gibt. Ganz großes Kino! Und wenn man das letzte Kapitel gelesen hat, steht einem der Mund offen, denn erst im Kapitel der Mutter fügen sich die Kontinente der einzelnen Familienmitglieder ineinander, werden Verhaltensweisen begründet und Geheimnisse gelüftet. Ich habe das Buch mit meiner Lesegruppe gelesen und es waren so gewinnbringende Gespräche, es gab so vieles, was erst durch die Diskussion ans Licht kam. Ich kann das Buch daher für Lesekreise uneingeschränkt empfehlen - für alle Einzelleser:innen natürlich auch. Ein ganz tiefer Blick in die Verstrickungen einer türkischen Arbeitsmigranten-Familie.

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Veröffentlicht am 30.09.2023

Das unangepasste Kind

Brüderchen
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In den Cevennen, dem südöstlichsten Teil des französischen Zentralmassivs, lebt eine Familie abgeschieden auf einem alten Hof. Teile der Gebäudeanlage sollen noch aus dem Mittelalter stammen und deswegen ...

In den Cevennen, dem südöstlichsten Teil des französischen Zentralmassivs, lebt eine Familie abgeschieden auf einem alten Hof. Teile der Gebäudeanlage sollen noch aus dem Mittelalter stammen und deswegen können die rötlichen Steine im Hof die Geschichte des unangepassten Kindes und seiner Geschwister am besten erzählen. Die Steine sehen alles und "stehen auf der Seite der Kinder" (S. 10), auf sie richtet sich ihr Blick. Folglich wird auch die Geschichte jeweils aus der Sicht eines der Geschwisterkinder erzählt.

Als das unangepasste Kind geboren wird, verändert sich für jedes Familienmitglied spürbar das eigene Leben. Wie die Geschwister mit dieser Herausforderung umgehen, ist einfach unglaublich schön und teilweise tieftraurig beschrieben. Die Autorin findet ganz wunderbare Worte, um in die Gefühlswelten der Figuren einzutauchen. Die karge, ursprüngliche und dennoch berauschende Landschaft spielt ebenso eine große Rolle im Roman und wird auf poetische Weise auf dem Papier zum Leben erweckt.

Mich hat diese Geschichte mit gerade einmal 174 Seiten zu Tränen gerührt und ich kann sie einfach nur weiterempfehlen. Trotz des ernsten und auch traurigen Themas wirkt der Roman insgesamt einfach nur sanft, leise und liebevoll und gleichzeitig ist es ein beeindruckendes und intensives Leseerlebnis. Während die Familie auf ihrem alten Hof und in den Bergen fest verortet ist, bleiben alle Personen namenlos. Was einerseits Distanz schafft, andererseits aber auch Raum läßt, damit die Figuren ganz nahe heranrücken können.

"Wenn man ein Kind hat, dem es schlecht geht, muss man ein Auge auf die Geschwister haben." (S. 94)

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