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Veröffentlicht am 01.12.2022

Wenn die Worte fehlen

Dankbarkeiten
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Wie kann man sich vorstellen, dass Wörter einfach verschwinden? Sich verflüchtigen, nicht mehr greifbar sind; langsam aber sicher auf den Grund eines tiefen Sees gleiten, so tief, dass man sie nicht mehr ...

Wie kann man sich vorstellen, dass Wörter einfach verschwinden? Sich verflüchtigen, nicht mehr greifbar sind; langsam aber sicher auf den Grund eines tiefen Sees gleiten, so tief, dass man sie nicht mehr erreichen kann. So ergeht es Michka, die früher bei einer Zeitschrift gearbeitet hat. Als sie in ein Pflegeheim kommt, ersetzt sie immer öfter Wörter, die ihr nicht mehr einfallen wollen, durch solche, die ähnlich klingen. Die Gespräche mit ihr werden mit der Zeit kryptischer und kürzer. Ihr Logopäde Jérôme und ihre Ziehtochter Marie, sehen, wie Michka immer mehr von ihrer Eloquenz verliert. Beide wollen ihr unbedingt helfen, zwei Personen zu finden, bei denen Michka sich noch nicht bedankt hat. Diesem seit Jahrzehnten noch nicht ausgesprochenen Dank gilt ihre letzte Kraft.

Wunderschön und tieftraurig hat Delphine de Vigan diese Geschichte über den Verlust der Sprache geschrieben. Mir ist der kleine Roman wirklich ans Herz gegangen. Wirkt es zunächst noch humorvoll, wenn Michka sich mit ähnlich klingenden Vokabeln durch die Gespräche wurschtelt und dennoch von Marie und Jérôme verstanden wird, spürt man später die Verzweiflung, wenn selbst dies nicht mehr gelingt.

In ihren Träumen spricht Michka wie eh und je, das fand ich eine schöne Gegenüberstellung zu ihrem Wachzustand. Vieles wird nur in Andeutungen erzählt und bleibt offen, aber das passt sehr gut zu der Geschichte. Die titelgebenden Dankbarkeiten ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Es gibt nicht nur die unausgesprochene Dankbarkeit in der Vergangenheit, sondern auch die ausgesprochene in der Gegenwart, die Michka mit Marie und Jérôme verbindet.

Wir sollten es viel öfter sagen, selbst wenn es wie bei Michka anders klingt: "Dante".

Aus dem Französischen übersetzt von Doris Heinemann.

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Veröffentlicht am 01.12.2022

Die Kriegsreporterin im Schwanenteich

Die Gespenster von Demmin
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Larry trainiert, um einst in den Krisengebieten der Welt als Kriegsreporterin überleben zu können: Kopfüber vom Apfelbaum hängen oder die Hand bis zur Schmerzgrenze in eisiges Wasser tauchen. Larry ist ...

Larry trainiert, um einst in den Krisengebieten der Welt als Kriegsreporterin überleben zu können: Kopfüber vom Apfelbaum hängen oder die Hand bis zur Schmerzgrenze in eisiges Wasser tauchen. Larry ist 15 und lebt im kleinen Kosmos ihres Heimatortes Demmin; an der Peene gelegen, auf halber Strecke zwischen Stralsund und Neubrandenburg. Die Eltern leben getrennt, die Mutter arbeitet im Schichtdienst im Krankenhaus und sucht nach dem passenden Mann, der sie wieder glücklich machen soll. Neben ihrer Survivalausbildung und der lästigen Schule, jobbt Larry auf dem örtlichen Friedhof. Dort unterstützt sie die betagte Verwalterin Frau Ratzlow, die sich als einzige für ihr Trainingsprogramm interessiert. Larrys beste Freundin Sarina ist ständig verliebt, derzeit in Timo, der bei Netto Regale einräumt. Und dann ist da noch die alte Frau Dohlberg, die im Haus nebenan wohnt und sich mit ihren Gespenstern auseinandersetzen muss.

Den Roman habe ich so, so gerne gelesen. Larry ist ein ganz toller Charakter, der seinen Platz im Leben sucht, umgeben von Trauer, Verlust und Einsamkeit. Unglaublich witzig und gleichzeitig mit ganz viel Tiefgang erzählt Verena Kessler die Geschichte dieses Mädchens und der sie begleitenden Personen. Der Roman wird aus der Sicht von Larry in der Ich-Perspektive erzählt, was eine ganz starke Bindung an den Hauptcharakter schafft. Kleine Passagen werden aus der Sicht der Nachbarin Frau Dohlberg erzählt, jedoch aus der personalen Erzählperspektive. Neben der Sprache hat mich auch die geschickt kombinierte Handlung begeistert, in der ganz viele kleine Rädchen nach und nach ineinander fassen.

So wird der Massenselbstmord, der im Frühjahr 1945 über 900 Menschen in Demmin das Leben kostete, nur in wenigen Sätzen und in Andeutungen erwähnt. Dennoch ist die Handlung der Gegenwart vielfach damit verknüpft und zeigt Gemeinsamkeiten von Frau Dohlberg und Larry auf, die sich erst im Laufe der Handlung einstellen. Der Wunsch Kriegsreporterin zu werden und die Vergangenheit der Stadt sind dabei nur die offensichtlichste Verbindung. So findet sich der anstehende Umzug von Frau Dohlberg ins Altersheim und das Aussortieren und Packen von Kisten später bei Larry in der Räumung der Garage wieder. Dabei hat mich besonders fasziniert, dass die beiden während des ganzen Romans nicht miteinander sprechen, sie sehen sich nur von weitem.

Und wie in einer klassischen Novelle gibt es in diesem 238 Seiten langem Buch ein "Dingsymbol", das als Leitmotiv immer wieder auftaucht:

"Da drüben, vielleicht zehn Meter von hier, steckt ein Schwan im Eis. Er scheint festgefroren zu sein. Mit seinem freien Flügel flattert er, als würde er mir winken." (S. 68)

Ich kann dieses Buch nur aus vollem Herzen empfehlen, es gibt so viel zu entdecken und es liest sich ganz wunderbar. Die Szenen im Netto-Markt oder auf dem Friedhof - ein Traum an Witz und Ironie, bei aller Bitterkeit und Traurigkeit, die sich im Roman finden.

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Veröffentlicht am 10.11.2022

Brennpunkt Berlin: Zwischen Studentenunruhen und Spionage

Kinder des Aufbruchs
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Endlich geht mit "Kinder des Aufbruchs" die Geschichte um die Zwillinge Alice und Emma weiter.

Nachdem in "Kinder ihrer Zeit" die Flucht aus Ostpreußen nach Berlin, die Trennung der Zwillinge, der Mauerbau ...

Endlich geht mit "Kinder des Aufbruchs" die Geschichte um die Zwillinge Alice und Emma weiter.

Nachdem in "Kinder ihrer Zeit" die Flucht aus Ostpreußen nach Berlin, die Trennung der Zwillinge, der Mauerbau und schließlich die geglückte Flucht nach West-Berlin 1961 im Zentrum standen, sind nun sechs Jahre vergangen. Alice und Emma leben immer noch in Berlin. Emma arbeitet weiterhin als Dolmetscherin und hat Kontakt in hohe politische Kreise. Alice ist mittlerweile Journalistin und berichtet erschüttert über das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Studentinnen und Studenten in Berlin 1967. Vor dem Hintergrund der Unruhen werden die Schwestern mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und alte Bekannte aus der DDR tauchen auf und suchen den Kontakt zu ihnen. Zu ihnen gehört die Sängerin Irma Assmann, die früher für den KGB spioniert hat. Langsam baut sich ein Geflecht aus Schuld, Misstrauen und Angst auf. Zudem wird Alice in eine Fluchtvorbereitung verwickelt und Emma fühlt sich einem verängstigten Heimkind verpflichtet, das sie mit der Zeit mehr als lieb gewinnt. Dann geschieht ein Mord und Stasi und BND scheinen ihre Hände im Spiel zu haben.

Claire Winter hat mit dem zweiten Teil um Emma und Alice wieder einen tollen Schmöker vorgelegt, der genau richtig ist, um es sich damit auf dem Sofa für ein paar Stunden gemütlich zu machen und alles um sich herum zu vergessen. "Kinder des Aufbruchs" kann problemlos ohne Kenntnis des ersten Teils gelesen werden.

Wieder wird eine ausgefeilte fiktive Handlung in historische Ereignisse eingebunden und so eine überaus spannende und auch informative Geschichte gezaubert. Mit der bewegten Zeit von Schah-Besuch, Studentenunruhen, dem Tod von Benno Ohnesorg, den Protesten gegen die Allmacht des Springerkonzerns und der gespannten Lage zwischen Ost- und West-Berlin, hat die Autorin erneut einen überaus dramatischen Rahmen für ihre Geschichte gewählt. Die historischen Ereignisse sind hervorragend recherchiert und wunderbar aufbereitet, so dass sich die fiktive Handlung nahtlos einfügt. Das Berlin Ende der 1960er Jahre wird ganz wunderbar eingefangen. Der Schreibstil ist wie gewohnt sehr flott und leicht zu lesen, sehr bildhaft und die Geschichte ist von Beginn an spannend. Bis zum Ende wird die Spannungskurve aufrechterhalten, erst kurz vor Schluss laufen alle Fäden zusammen.

Die letzten Seiten hätten gerne noch etwas ausführlicher sein können, da ist für mich eine Leerstelle geblieben. Im Vergleich zum Rest des Buches, ging es etwas rasch zu Ende. Allerdings hat gerade diese Leerstelle das Potenzial für einen weiteren Roman.

Ich kann "Kinder des Aufbruchs" nur empfehlen, ein klasse Unterhaltungsroman mit Anspruch, der durch den lockeren und bildhaften Schreibstil, den Spannungsbogen und die eindrucksvolle Recherchearbeit besticht, die die Autorin nicht nur in das Archiv des Springerkonzerns, sondern auch in einen alten Fluchttunnel geführt hat. Das Nachwort von Claire Winter informiert ausführlich für die im Roman vorkommenden historischen Ereignisse.

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Veröffentlicht am 08.11.2022

Liebe zwischen Sozialismus und Solidarność

Im Wasser sind wir schwerelos
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Während eines Ernteeinsatzes lernen sie sich kennen, Ludwik und Janusz, gerade fertig mit der Uni und nun auf dem Feld, um Rote Beete auszugraben. Ihr obligatorischer Beitrag zum Sozialismus in Polen 1980. ...

Während eines Ernteeinsatzes lernen sie sich kennen, Ludwik und Janusz, gerade fertig mit der Uni und nun auf dem Feld, um Rote Beete auszugraben. Ihr obligatorischer Beitrag zum Sozialismus in Polen 1980. Ludwik hat das marode Regime satt und auch in seinem Umfeld äußern sich immer wieder Kritiker*innen. Aber durch Janusz treten diese Empfindungen zunächst in den Hintergrund. Ludwik, der sich schon als Neunjähriger zu einem anderen Jungen hingezogen fühlte und als Jugendlicher einen einschlägigen Park aufgesucht hat, verliebt sich fast augenblicklich. Im Anschluss an den Arbeitsdienst zelten die beiden einige Zeit an einem See, fern von allen Zwängen. Zurück in Moskau werden sie durch den Druck von Regime und Gesellschaft und der um sich greifenden Hoffnungslosigkeit auf eine gemeinsame und selbstbestimmte Zukunft eingeengt. Ludwik möchte in den Westen gehen, Janusz hingegen hat durch Beziehungen die Möglichkeit, ein besseres Leben als die meisten zu führen. Er möchte das Land nicht verlassen.

Die Handlung wird in Rückblicken aus der Sicht Ludwiks erzählt, der sich in Amerika befindet und sich an die Ereignisse im zurückliegenden Jahr erinnert. Wunderbar ruhig schildert Jedrowski die Liebe zwischen den beiden jungen Männern, die durch die gemeinsame Lektüre von "Giovannis Zimmer" von James Baldwin vertieft wird. Es gibt Parallelen in den Geschichten, aber Jedrowskis Protagonisten sind sympathisch, lebendig und bewegen sich in einer Aufbruchsstimmung. Anders als Baldwin zeigt Jedrowski einfühlsame und zarte Seiten an seinen Figuren. Allerdings spielt auch hier das Thema Scham eine ganz große Rolle. "Ich trug mein Anderssein und meine Scham im Inneren verborgen." (S. 104)

Man hofft so sehr auf einen guten Ausgang der Handlung. Die Situation im Land ist eindrücklich und griffig wiedergegeben, das Schlangestehen, die Nahrungsmittelknappheit, die schlechte ärztliche Versorgung und dann wieder der Überfluss auf der Seite der Privilegierten. Die Handlung ist durchweg interessant, es passiert ständig etwas und man fiebert mit. Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen und die Geschichte hatte ich schnell gelesen. Am Ende bleibt zumindest Hoffnung.

Eine klare Leseempfehlung für dieses schmale Büchlein von 220 Seiten.


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Veröffentlicht am 13.10.2022

Medizinstudent zwischen Kosaken und Husaren

Der Wintersoldat
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Gegen den Willen seiner wohlhabenden polnischstämmigen Familie beginnt Lucius ein Medizinstudium in seiner Heimatstadt Wien. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbricht, sieht Lucius seine Chance, dem ungeliebten ...

Gegen den Willen seiner wohlhabenden polnischstämmigen Familie beginnt Lucius ein Medizinstudium in seiner Heimatstadt Wien. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbricht, sieht Lucius seine Chance, dem ungeliebten theoretischen Studium zu entkommen und endlich praktische Arbeit leisten zu können. Als er nach einigen Umwegen sein Ziel in Galizien, dem östlichen Teil des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs, erreicht, sieht er sich mit einem Behelfslazarett in einer Kirche konfrontiert und er, der die Medizin lediglich aus Büchern kennengelernt hat, ist der einzige Arzt. Läuse, verantwortlich für Typhusepidemien, Ratten, und Amputationen, die durch Wundinfektionen nötig werden sowie psychische Leiden bestimmen fortan sein Leben als Mediziner. Durch die praktische Hilfe der erfahrenen Schwester Margarete gelingt es Lucius bald, eine Art Routine zu entwicklen. Besonders die erfolgreiche Behandlung eines Patienten mit Nervenleiden bringt Lucius Auftrieb, bis ein Rekrutierungskommando nach wieder wehrfähigen Soldaten sucht. Lucius trifft eine folgenschwere Entscheidung. In einer nebeligen Nacht verliert er zudem Margarete aus den Augen und in Galizien steht die Brussilow-Offensive bevor.

Daniel Mason hat einen unglaublich eindrucksvollen Roman über die Schrecken des Krieges geschrieben. Schonungslos werden die desolaten Zustände an der Front beschrieben, der grausame Umgang mit dem "Kriegsmaterial" Mensch, die unzureichende Ausrüstung der Soldaten, der fehlende Nachschub an medizinischer Ausstattung, die Planlosigkeit der militärischen Aktionen und vor allem die Sinnlosigkeit des Kriegs. Der Autor versteht es geschickt, bereits während der geschilderten Studienzeit in Wien die nicht mehr zeitgemäße, wirklichkeitsferne und in Selbstherrlichkeit versunkene Obrigkeit darzustellen; bestes Beispiel ist Professor Zimmer.

Wie Lucius buchstäblich in den Krieg stolpert und wie die Hässlichkeit des Krieges ihn in vielen kleinen Episoden durch die Jahre begleitet, ist wirklich gut geschrieben und lesenswert. Man sollte allerdings nicht zu zart besaitet sein, denn die Behandlung von verwundeten Soldaten nimmt einen nicht unerheblichen Raum ein. Es gibt aber auch viele feinfühlige Kontrastszenen, in denen die Landschaft oder die zarte Beziehung zwischen Lucius und Margarete im Zentrum stehen. Die Abgeschlossenheit des kleinen Ortes in den Karpaten und die kleine Gruppe von Menschen, die sich um die Verletzten bemüht, sind einerseits repräsentative Figuren, andererseits haben sie aber auch ganz besondere Biographien erhalten. Die Örtlichkeit, die Figur des unerfahrenen Lucius und die beherrschenden Themen Krankheit und Tod haben mich ein klein wenig an Manns "Zauberberg" erinnert. Zeitlich überschneiden sich die Romane, wo der "Zauberberg" endet, beginnt der "Wintersoldat", nämlich mit dem 1. Weltkrieg und dem Zerfall der alten Ordnung.

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