Heiter, witzig, lebensklug und positiv
Frau Hempels Tochter. Roman"Frau Hempels Tochter" wurde von Alice Berend (1875-1938) im Jahr 1913 geschrieben und ist somit schon mehr als 100 Jahre alt. Während manche Klassiker sich mühsam und schwerfällig lesen, handelt es sich ...
"Frau Hempels Tochter" wurde von Alice Berend (1875-1938) im Jahr 1913 geschrieben und ist somit schon mehr als 100 Jahre alt. Während manche Klassiker sich mühsam und schwerfällig lesen, handelt es sich hier um ein heiteres, witziges, lebenskluges und unglaublich positives Buch, dessen Lektüre so richtig Freude bereitet, und gleichzeitig sehr interessante Einblicke in das Leben der "kleinen Leute" im Berlin dieser Zeit und die Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg vermittelt.
Zwar heißt das Buch "Frau Hempels Tochter", doch im Zentrum der Handlung steht eindeutig Frau Hempel selbst. Diese lebt gemeinsam mit ihrem Mann Hempel und der jugendlichen Tochter Laura in einer kleinen, dunklen Hausbesorgerwohnung in einem größeren Wohnhaus in Berlin. Sie kümmert sich als Hausbesorgerin sehr tüchtig um alle anfallenden Tätigkeiten, verdient da und dort noch etwas dazu, und spart für ihre Tochter Laura, denn diese soll es mal besser haben. Ihr Mann Hempel arbeitet als Schuster und ist gutmütig und friedfertig, die Hosen an hat in dieser Beziehung aber eindeutig die Frau, und ihm scheint das nicht viel auszumachen. Ein erfrischend modernes Frauenbild für so ein altes Buch! Gleichzeitig zeigt es damit aber auch auf, wie historisch die Position der Frau in der Arbeiterklasse oft schon früher als in bürgerlichen Schichten eine modernere war: schon aus finanziellen Gründen mussten beide Partner arbeiten und eine Hausfrau daheim konnte sich in diesem Milieu keiner leisten.
Und so wird auch von Laura, die gerade die Schule beendet hat, erwartet, nicht untätig zu Hause zu sitzen, sondern eine Anstellung zu suchen. Diese findet sie erst als Kindermädchen für ein nicht mehr ganz junges Paar im gleichen Wohnhaus, das überraschend nach langer Ehe doch noch Eltern geworden ist, und dann als Hausangestellte für eine andere Familie etwas weiter weg. Laura hat (noch) nicht die Charakterstärke, das Selbstbewusstsein, den Enthusiasmus und die Tatkraft ihrer Mutter, sie ist von der Statur her zart und auch vom Gemüt still, zurückhaltend und verträumt. Im Wohnhaus, in dem sie mit ihren Eltern lebt, wohnt auch ein junger verarmter Graf, und zwischen den beiden entspinnt sich eine zarte Romanze.
Richtig Bewegung kommt in der Mitte des Romans auf, als sich für Frau Hempel kurzerhand die Gelegenheit ergibt, mit ihren Ersparnissen eine Badeanstalt zu erwerben und somit von der Arbeiterin zur Unternehmerin aufzusteigen. Mutig und tatkräftig, wie es ihrem Naturell entspricht, stürzt sie sich in dieses Abenteuer, und findet dort auch gleich eine Position für Laura, die an der Kasse sitzt und Tickets verkauft. Später bringt es Frau Hempel sogar noch zur Zinshausbesitzerin, damit ist der soziale Aufstieg vollendet.
Neben der Familie Hempel selbst lernen wir noch so einige weitere Zeitgenossen kennen: Bewohner des Hauses, Besucher der Badeanstalt und noch so einige weitere. Alle sind liebevoll und humorvoll gezeichnet, und es gibt insgesamt zwar auch Neid und Menschen, die der Familie Hempel den sozialen Aufstieg nicht gönnen, aber insgesamt gibt es sehr viele schöne Begegnungen zwischen Menschen, gegenseitige Unterstützung, freundschaftliches Beisammensein und auch die Integration einiger durchaus schrulliger oder nicht den sozialen Normen der damaligen Zeit gefallener Personen in das soziale Umfeld.
Dazwischen eingestreut finden sich von der Erzählerin viele kleine Lebensweisheiten, die gut zu Frau Hempel und ihrer Einstellung passen, z.B. "Aber auch Gedanken haben Hände. Sie greifen, fassen, zerren und zupfen uns. Wir wissen oft gar nichts mehr von ihnen, aber sie sind da." oder "Der eine liebt sein Unglück, der andere sein Glück, und es ist schwer zu entscheiden, was von beidem lohnender ist, besonders wenn man bedenkt, wie vergänglich das Glück ist." oder "Kein Unheil ist so groß wie die Angst davor."
Daran, wie auch insgesamt an der Charakterisierung der Personen in diesem Buch, zeigt sich, was für eine ausgezeichnete Menschen- und Milieukennerin Alice Berend gewesen sein muss. Im Nachwort gibt der Verlag einen Einblick in ihr turbulentes Leben, das selbst von gesellschaftlichem Abstieg und Wiederaufstieg und vielen Herausforderungen geprägt war - dieses gibt einen schönen Rahmen, um das Buch und dessen Entstehungskontext noch einmal genauer zu verstehen.
"Frau Hempels Tochter" ist ein warmherziges und positives Buch, das beim Lesen viel Freude bereitet, bildet und neue Denkanstöße liefert, und das ich jedem, der sich für diese Zeit, das Arbeitermilieu und sozialen Aufstieg interessiert, aber auch allen, die einfach nur gerne humorvoll gut unterhalten werden möchten, wärmstens empfehlen kann.