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Veröffentlicht am 21.02.2025

Heiter, witzig, lebensklug und positiv

Frau Hempels Tochter. Roman
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"Frau Hempels Tochter" wurde von Alice Berend (1875-1938) im Jahr 1913 geschrieben und ist somit schon mehr als 100 Jahre alt. Während manche Klassiker sich mühsam und schwerfällig lesen, handelt es sich ...

"Frau Hempels Tochter" wurde von Alice Berend (1875-1938) im Jahr 1913 geschrieben und ist somit schon mehr als 100 Jahre alt. Während manche Klassiker sich mühsam und schwerfällig lesen, handelt es sich hier um ein heiteres, witziges, lebenskluges und unglaublich positives Buch, dessen Lektüre so richtig Freude bereitet, und gleichzeitig sehr interessante Einblicke in das Leben der "kleinen Leute" im Berlin dieser Zeit und die Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg vermittelt.

Zwar heißt das Buch "Frau Hempels Tochter", doch im Zentrum der Handlung steht eindeutig Frau Hempel selbst. Diese lebt gemeinsam mit ihrem Mann Hempel und der jugendlichen Tochter Laura in einer kleinen, dunklen Hausbesorgerwohnung in einem größeren Wohnhaus in Berlin. Sie kümmert sich als Hausbesorgerin sehr tüchtig um alle anfallenden Tätigkeiten, verdient da und dort noch etwas dazu, und spart für ihre Tochter Laura, denn diese soll es mal besser haben. Ihr Mann Hempel arbeitet als Schuster und ist gutmütig und friedfertig, die Hosen an hat in dieser Beziehung aber eindeutig die Frau, und ihm scheint das nicht viel auszumachen. Ein erfrischend modernes Frauenbild für so ein altes Buch! Gleichzeitig zeigt es damit aber auch auf, wie historisch die Position der Frau in der Arbeiterklasse oft schon früher als in bürgerlichen Schichten eine modernere war: schon aus finanziellen Gründen mussten beide Partner arbeiten und eine Hausfrau daheim konnte sich in diesem Milieu keiner leisten.

Und so wird auch von Laura, die gerade die Schule beendet hat, erwartet, nicht untätig zu Hause zu sitzen, sondern eine Anstellung zu suchen. Diese findet sie erst als Kindermädchen für ein nicht mehr ganz junges Paar im gleichen Wohnhaus, das überraschend nach langer Ehe doch noch Eltern geworden ist, und dann als Hausangestellte für eine andere Familie etwas weiter weg. Laura hat (noch) nicht die Charakterstärke, das Selbstbewusstsein, den Enthusiasmus und die Tatkraft ihrer Mutter, sie ist von der Statur her zart und auch vom Gemüt still, zurückhaltend und verträumt. Im Wohnhaus, in dem sie mit ihren Eltern lebt, wohnt auch ein junger verarmter Graf, und zwischen den beiden entspinnt sich eine zarte Romanze.

Richtig Bewegung kommt in der Mitte des Romans auf, als sich für Frau Hempel kurzerhand die Gelegenheit ergibt, mit ihren Ersparnissen eine Badeanstalt zu erwerben und somit von der Arbeiterin zur Unternehmerin aufzusteigen. Mutig und tatkräftig, wie es ihrem Naturell entspricht, stürzt sie sich in dieses Abenteuer, und findet dort auch gleich eine Position für Laura, die an der Kasse sitzt und Tickets verkauft. Später bringt es Frau Hempel sogar noch zur Zinshausbesitzerin, damit ist der soziale Aufstieg vollendet.

Neben der Familie Hempel selbst lernen wir noch so einige weitere Zeitgenossen kennen: Bewohner des Hauses, Besucher der Badeanstalt und noch so einige weitere. Alle sind liebevoll und humorvoll gezeichnet, und es gibt insgesamt zwar auch Neid und Menschen, die der Familie Hempel den sozialen Aufstieg nicht gönnen, aber insgesamt gibt es sehr viele schöne Begegnungen zwischen Menschen, gegenseitige Unterstützung, freundschaftliches Beisammensein und auch die Integration einiger durchaus schrulliger oder nicht den sozialen Normen der damaligen Zeit gefallener Personen in das soziale Umfeld.

Dazwischen eingestreut finden sich von der Erzählerin viele kleine Lebensweisheiten, die gut zu Frau Hempel und ihrer Einstellung passen, z.B. "Aber auch Gedanken haben Hände. Sie greifen, fassen, zerren und zupfen uns. Wir wissen oft gar nichts mehr von ihnen, aber sie sind da." oder "Der eine liebt sein Unglück, der andere sein Glück, und es ist schwer zu entscheiden, was von beidem lohnender ist, besonders wenn man bedenkt, wie vergänglich das Glück ist." oder "Kein Unheil ist so groß wie die Angst davor."

Daran, wie auch insgesamt an der Charakterisierung der Personen in diesem Buch, zeigt sich, was für eine ausgezeichnete Menschen- und Milieukennerin Alice Berend gewesen sein muss. Im Nachwort gibt der Verlag einen Einblick in ihr turbulentes Leben, das selbst von gesellschaftlichem Abstieg und Wiederaufstieg und vielen Herausforderungen geprägt war - dieses gibt einen schönen Rahmen, um das Buch und dessen Entstehungskontext noch einmal genauer zu verstehen.

"Frau Hempels Tochter" ist ein warmherziges und positives Buch, das beim Lesen viel Freude bereitet, bildet und neue Denkanstöße liefert, und das ich jedem, der sich für diese Zeit, das Arbeitermilieu und sozialen Aufstieg interessiert, aber auch allen, die einfach nur gerne humorvoll gut unterhalten werden möchten, wärmstens empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 19.02.2025

Gut recherchierter und vielperspektivischer historischer Roman

Der große Riss
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Es ist die Zeit um 1900 und nach einem missglückten Versuch der Franzosen, einen Kanal zu bauen, der Atlantik und Pazifik verbindet, haben sich nun die US-Amerikaner entschlossen, dies zu tun. Gleich am ...

Es ist die Zeit um 1900 und nach einem missglückten Versuch der Franzosen, einen Kanal zu bauen, der Atlantik und Pazifik verbindet, haben sich nun die US-Amerikaner entschlossen, dies zu tun. Gleich am Anfang des Buches finden wir eine Anzeige, in der um 4000 tüchtige Arbeitskräfte für den Bau des Panama-Kanals geworben wird, und auch sonst spricht sich schnell nicht nur in Panama, sondern auch in vielen anderen Regionen in der Nähe herum, dass man hier leicht Arbeit finden und Geld verdienen könne. Das lockt verschiedenste Menschen an, sich am Bau zu beteiligen, doch die Arbeit ist anstrengend, kräftezehrend und gefährlich, gilt es doch, förmlich einen Riss durch das Gebirge zu bauen, um die beiden Ozeane miteinander zu verbinden.

Besonders gut hat mir an diesem Buch gefallen, dass wir es aus so vielen Perspektiven erleben. Es gibt einige Hauptfiguren, die immer wieder vorkommen, doch zwischendurch gibt es immer wieder kleinere Abschnitte, in denen wir das Geschehen auch aus dem Kopf einiger Nebenfiguren betrachten können. Das schafft insgesamt ein vielseitiges Bild der damaligen Zeit und Gesellschaft. Dabei gelingt es der Autorin, die Perspektiven geschickt so aufeinander aufzubauen und miteinander zu verweben, dass das Lesen angenehm und vergnüglich ist und man sich immer gut auskennt, worum es gerade geht.

Wir lernen zum Beispiel die jugendliche Ada kennen, die mit ihrer Mutter und ihrer Schwester auf der Insel Barbados lebt und sich kurzentschlossen als blinde Passagierin auf einem Schiff auf den Weg nach Panama macht, um hier Geld zu verdienen. Denn ihre Schwester ist schwer krank und kann nur durch eine ärztliche Behandlung geheilt werden, die die Familie sich jedoch nicht leisten kann.

Dann gibt es den Malariaforscher John und seine Frau Marian aus den Vereinigten Staaten. John hat ein ehrgeiziges Ziel: er möchte die Malaria nicht nur erforschen, sondern auf Panama auch ausrotten, ähnlich wie es gelungen ist, das Gelbfieber zurückzudrängen. Aus Vorsicht rät er seiner Frau, das Haus während der Regenzeit nicht zu verlassen, doch diese hält die monatelange Einsamkeit nicht aus und schlägt seinen Rat in den Wind. Als sie daraufhin erkrankt, sucht John nach einer Pflegerin für sie und findet Ada, die sich gerade tapfer dafür einsetzt, dass ein auf der Straße liegender Kranker ins Spital kommt und ärztlich versorgt wird. Beeindruckt von ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit stellt er sie ein.

Der gerettete Kranke wiederum ist Omar, der Sohn eines Fischers, der selbst keine Zukunft als Fischer für sich sieht und das Meer scheut, nachdem seine Mutter dort verschwunden ist, als er klein war. Er sucht Arbeit im Panamakanal, was zu einem heftigen Konflikt mit seinem Vater Francisco und monatelangem Schweigen zwischen den beiden führt. Denn Francisco ist gegen den Bau des Kanals und fühlt sich und sein Leben auch von seinem Sohn durch dessen berufliche Entscheidungen abgewertet.

Und dann gibt es noch weitere Menschen, die zum Beispiel davon betroffen sind, dass ihre Stadt umgesiedelt oder geflutet werden soll, um den Bau des Kanals zu ermöglichen und die versuchen, sich dagegen zu wehren.

Nebenbei erfährt man in dem gut recherchierten Buch auch historisch so einiges, was ich vorher noch nicht wusste, z.B. dass Panama bis kurz vor dem Bau des Kanals Teil von Kolumbien war. Interessant zu lesen und gleichzeitig traurig ist auch, wie sehr die damalige Gesellschaft noch nach Klassen und Hautfarben geteilt war, so gibt es z.B. in der Apotheke eine gut bestückte Abteilung für "Gold" (für die Menschen mit heller Hautfarbe) und eine weniger gut bestückte Abteilung für "Silber" (für alle, die dunklere Haut haben). Und auch sonst erleben wir an vieler Stelle die Diskriminierung speziell benachteiligter Menschen und Gruppen, aber auch ihren Mut, zusammenzustehen, sich gegenseitig zu unterstützen und für ihre Rechte zu kämpfen, auch gegen eine gewaltige Übermacht.

Ich kann das Buch allen, die ein tiefgründiges, nachdenklich machendes und gleichzeitig unterhaltsames Buch über das wenig bekannte Thema der Zeit des Baus des Panamakanals lesen möchten, ausdrücklich empfehlen.

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Veröffentlicht am 18.02.2025

Das Recht zu wissen oder das Recht zu schweigen

Portrait meiner Mutter mit Geistern
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"Portrait meiner Mutter mit Geistern" von Rabea Edel ist ein tiefgründiges Buch, das beim Lesen Aufmerksamkeit braucht. In der vorderen und hinteren Umschlagklappe befindet sich ein Stammbaum der porträtierten ...

"Portrait meiner Mutter mit Geistern" von Rabea Edel ist ein tiefgründiges Buch, das beim Lesen Aufmerksamkeit braucht. In der vorderen und hinteren Umschlagklappe befindet sich ein Stammbaum der porträtierten Familie, und das ist gut so, denn diesen habe ich auch beim Lesen immer wieder gebraucht und war froh, nachschlagen zu können.

Ausgehend von Raisa, wie die Autorin selbst Jahrgang 1982, lernen wir bruchstückhaft immer mehr über ihre Familie und Herkunft, dabei erstreckt sich die Erzählung über mehr als ein Jahrhundert: die ältesten Familienmitglieder sind noch vor 1900 geboren, Raisas Kind im Jahr 2018.

Raisa ist mit vielen biografischen Lehrstellen aufgewachsen. Schon immer kennt sie als einziges Familienmitglied nur ihre Mutter, hat keine Geschwister, kennt ihren Vater nicht und hat auch zu niemand anderem aus der Familie Kontakt. Es seien alle schon gestorben, meint die Mutter zu ihr als Kind - viel später stellt sich heraus, dass so einige während Raisas Kindheit noch lebten, sogar Kontakt suchten und nur für die Mutter gestorben waren, die aufgrund dem, was sie mit ihnen erlebt hatte, keinerlei Kontakt mehr zu ihnen wollte. Sie und ihre Tochter, das sei genug. In den ersten Lebensjahren des Kindes reisen sie durch die Welt, sind mal hier mal dort, an verschiedenen Orten, bis sie sesshaft werden. Und doch begleitet das Aufwachsen der Tochter weiterhin ein tiefes Schweigen in Bezug auf ihre Herkunft.

Wir, die wir dieses Buch lesen, bekommen schon bald erste Hinweise auf die Natur der möglichen Familiengeheimnisse, denn die Kapitel werden wechselweise aus den Perspektiven verschiedener Familienmitglieder aus unterschiedlichen Generationen und Zeiten erzählt. Das Buch ist voll von Andeutungen und Hinweisen, die oft sehr subtil sind: so sind z.B. offensichtlich einige Familienmitglieder jüdischen Glaubens und praktizieren auch noch damit verbundene Rituale, aber ohne darüber zu sprechen, ohne sie in den Kontext zu stellen und im Verborgenen. Auch sonst wird vieles nicht gesagt, sondern nur angedeutet oder durch Symbole sichtbar gemacht. Und es gibt noch viele weitere Traumata in der Familie, über die nicht gesprochen wird.

Damit gelingt es der Autorin ganz ausgezeichnet, das Schweigen, das in der Kriegs- und Nachkriegsgeneration so verbreitet war, fühlbar und erlebbar zu machen und damit eine Erfahrung, die viele Menschen aus den jüngeren Generationen teilen, auf Papier zu bringen: das starke Gefühl, dass da etwas Wichtiges in der Familiengeschichte verborgen ist, immer wieder subtile Hinweise darauf, aber nicht wirklich zu fassen zu kriegen, was es ist.

Das Buch regt auch zum Nachdenken darüber an, wem Familiengeheimnisse überhaupt gehören: haben die älteren Generationen das Recht, zu schweigen, und wie weit geht dieses? Oder haben deren Kinder und Enkelkinder ein Recht, zu erfahren, was in der Familie geschehen ist, auch um die Muster nicht unbewusst weiterzutragen und davon beeinträchtigt zu sein? Wie stehen diese beiden legitimen Bedürfnisse im Verhältnis zueinander? Was macht das Schweigen mit den Familien, wie und wodurch kann es gebrochen werden und was verändert sich dadurch?

Wie können wir die Angst vor den Geistern der Vergangenheit verlieren? Eine Antwort darauf findet sich vielleicht auf S. 218, auf einem von mehreren Zetteln, die Raisas Mutter Martha an sie schreibt, weil Schreiben manchmal leichter ist als Sprechen:

"Zauberspruch
Keine Angst vor Geistern.
Sie sind nur Möglichkeiten, die wiederkommen.
AMEN."

Jenen am Buch Interessierten, die nicht gerne Geistergeschichten lesen, sei gesagt, dass in diesem Buch keine solchen explizit vorkommen. Es handelt sich um eine Familiengeschichte über mehrere Generationen, keine Geistergeschichte... der Titel ist insofern als Metapher zu verstehen bzw. nur insofern explizit, als natürlich einige der erwähnten Familienmitglieder in der heutigen Zeit nicht mehr leben. Erzählt wird von ihnen aber aus der Zeit, als sie gelebt haben, sie erscheinen nicht später als Geister.

Insgesamt handelt es sich um ein großartig erzähltes, vielschichtiges Buch, das zum Nachdenken anregt, viele Fragen stellt, einige davon beantwortet und viele offen lässt, und genau damit ein authentischer Spiegel wahrer Familiengeschichten ist. Es wird mich sicher gedanklich und emotional noch einige Zeit begleiten. Absolute Leseempfehlung für alle, die sich für europäische Geschichte und intergenerationale Familiendynamiken interessieren und tiefgründige Literatur schätzen!

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Veröffentlicht am 17.02.2025

Queere Liebesgeschichte unter dem Schatten der Nachkriegszeit

In ihrem Haus
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Hoch waren meine Erwartungen an dieses Buch, immerhin stand es auf der Shortlist des renommierten Booker Prize.


Einmal vorweg: wer sich sympathische, nahbare Charaktere in einem Buch wünscht, ist mit ...

Hoch waren meine Erwartungen an dieses Buch, immerhin stand es auf der Shortlist des renommierten Booker Prize.


Einmal vorweg: wer sich sympathische, nahbare Charaktere in einem Buch wünscht, ist mit diesem Buch nicht gut beraten.


Wir befinden uns in den Niederlanden in den 1960er Jahren. Die Geschehnisse der NS-Zeit werden überwiegend totgeschwiegen, der Zeitgeist ist bieder und konservativ, von Frauen wird erwartet, dass sie heiraten und Kinder bekommen.

Gleich in der Anfangsszene lernen wir drei Geschwister kennen, die mittlerweile elternlos sind, altersmäßig etwa Ende 20 bis Anfang 30: Louis, Isabel und Hendrik.

Die drei treffen sich zu einem Abendessen, bei dem der unstete Frauenschwarm Louis ihnen seine neueste Freundin Eva vorstellt... diese wird insbesondere von Isabel sofort verächtlich angesehen und abgewertet.

Isabel, aus deren Sicht fast das ganze Buch geschrieben ist, ist ein sehr eigenwilliger Charakter. Schon als Kind hatte sie kaum Freundinnen, war eher missmutig, hatte diverse teilweise verstörende Ticks und ist das Gegenteil davon, was man als charmant oder anmutig bezeichnen würde. Irgendwann in der Kriegszeit hat ihr Onkel ihnen ein schönes, großes Haus verschafft, in dem erst die Mutter mit den drei Kindern lebte, später die Mutter mit Isabel und nach deren Tod nur noch Isabel, die ledig und kinderlos ist, keinem Beruf nachgeht, aber offenbar genug Vermögen hat, eine Hausangestellte zu bezahlen, die sie auch nicht sonderlich freundlich behandelt und der sie unterstellt, zu stehlen.

Hier in diesem Haus lebt Isabel also ihr einsames, zurückgezogenes Leben vor sich hin, hat - abgesehen von gelegentlichen Abendessen bei den Nachbarn, ihrem beharrlichen Verehrer Johan und seltenen Besuchen der Brüder - kaum Sozialkontakte und will auch keine haben, sie will ihre Ruhe und ihren Rückzugsort. Ihren Bruder Hendrik verurteilt sie für seine Homosexualität und dafür, dass er mit einem Mann zusammenlebt. Überhaupt urteilt Isabel sehr hart und schnell über andere Menschen, und ist kein sehr reflektierter Charakter. Dabei schwebt über ihr das Damoklesschwert, dass das Haus nicht ihr gehört und der Onkel dieses ihrem Bruder Louis versprochen hat, wenn dieser mal eine Familie gründen würde... aber auch das liegt in einer fernen, ungewissen Zukunft und muss erst einmal passieren.

Bis dahin lebt Isabel also so vor sich hin in ihrem Haus. Bis es mit der Ruhe erst einmal vorbei ist: Louis quartiert unerwartet und gegen Isabels Willen seine Freundin Eva für etwa einen Monat im Haus ein. Isabel kann nichts dagegen tun, denn das Haus ist ja Louis versprochen und nicht ihr. Zuerst ist Isabels Abneigung gegen Eva groß... Eva, die sich so selbstverständlich in dem Haus bewegt und sich dort ihren Raum nimmt, als ob es ihres wäre. Die sogar im Schlafzimmer der Mutter übernachtet, obwohl ihr ein anderes Zimmer zugewiesen wurde. Und die überhaupt zwar manchmal ängstlich und verunsichert, aber insgesamt freier und lebensoffener wirkt als Isabel selbst.

Dann entwickelt sich, sowohl für uns Lesende als auch sicher von Isabel unerwartet, eine sehr stürmische lesbische Liebesbeziehung zwischen Eva und Isabel. Diese wird im Buch ausführlich und mit allen erotischen Details geschildert, woran sich zeigt, dass das Buch zwar in den 1960er Jahren spielt, aber ganz offensichtlich in der heutigen Zeit geschrieben wurde und den heutigen, offeneren und queerfreundlichen Zeitgeist bedienen möchte. In aller Ausführlichkeit erleben wir mit, was Isabel und Eva im Bett so miteinander machen, immer wieder.

Dahinter liegt eine viel ernstere Geschichte: die von Eva, die jüdisch ist, deren Vater von den Nazis ermordet wurde, deren Mutter im Konzentrationslager war und kurz darauf gestorben ist, die also ganz allein im Leben und auf der Welt steht, ihre eigenen Traumata mitträgt, und die ihre ganz besondere eigene Agenda verfolgt in Bezug auf das Haus. Auch in anderen Nebengeschichten zeigt sich, wie sehr auch die niederländische Gesellschaft in dieser Zeit noch am Verleugnen des Unrechts war, das auch dort jüdischen Mitmenschen geschehen war und wie wenig Bewusstsein es für Rückgabe geliehener oder gestohlener Gegenstände und Immobilien oder sonstige Entschädigung gegeben hat. Wie sehr man stattdessen noch einerseits in der Erinnerung an das eigene Leid in den Kriegsjahren und andererseits im Wunsch nach Vergessen verhaftet war.

Es ist also ein Buch über das, was an der Oberfläche sich zeigt und das, was tief darunter liegt. Sowohl an historisch Geschehenem, Verbrechen, Schuld und Ausgleich als auch an Emotionen. Isabel und Eva sind beides auf ihre Art innerlich stark verwundete, traumatisierte Frauen, die ihren eigenen Schmerz mit sich tragen und ganz unterschiedlich miteinander umgehen... auch diese eingeschlossenen Emotionen brechen sich möglicherweise in ihrer stürmischen Liebesbeziehung Bahn.

Auf dieses Buch muss man sich wirklich einlassen können und wollen. Es ist kein bequemes, angenehmes oder leicht zu lesendes Buch, und die überwiegend nicht sehr sympathischen Charaktere, insbesondere Isabel, aus deren Sicht fast das ganze Buch geschrieben ist, machen das Lesen nicht leicht. Ich habe mich nicht sehr gerne im Kopf von Isabel aufgehalten beim Lesen... und doch hat mir die Lektüre etwas gebracht, denn solche Menschen gibt es, Isabel ist in all ihrer Schrägheit durchaus authentisch gezeichnet und es ist horizonterweiternd, die Welt einmal aus ihrer Perspektive zu betrachten.

Zusätzlich macht das Buch sehr nachdenklich über Themen wie Schuld und Wiedergutmachung, und Opfer auf vielen Seiten (auch Isabel hat das Haus ja nicht selbst unrechtmäßig erworben, ist als Jugendliche dort hingezogen und auch für sie ist es zu Recht gefühlsmäßig ein Zuhause), aber auch über Themen wie die Stellung homosexueller, lesbischer und queerer Menschen in der Gesellschaft damals und heute. Damit ist es ein gutes Buch, das in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken und Diskutieren anregt, aber nicht unbedingt Wohlfühllektüre.

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Veröffentlicht am 07.02.2025

Ein Meisterwerk über Identität zwischen Bewahrung und Wandel

Die Kolonie
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„Die Kolonie“ von Audrey Magee hat mich verzaubert, seit ich das Buch zum ersten Mal gesehen habe. So ein schönes, hochwertig gestaltetes Cover! Wir sehen die beiden Männer, die im Jahr 1979 auf eine entlegene ...

„Die Kolonie“ von Audrey Magee hat mich verzaubert, seit ich das Buch zum ersten Mal gesehen habe. So ein schönes, hochwertig gestaltetes Cover! Wir sehen die beiden Männer, die im Jahr 1979 auf eine entlegene irische Insel kommen: den englischen Künstler, die Füße im Wasser. Ja, nass werden musste er hier förmlich, um sich einzulassen auf die Insel, um „heimisch zu werden“, wie er in einer seiner Skizzen beschrieben hat (ob ihm das voll und ganz gelungen ist und was es in Bezug auf seine Kunst bedeutet, erschließt sich nach der Lektüre). Wenn wir das Cover drehen sehen wir den zweiten Mann, den französischen Linguisten, bei einem seiner Strandspaziergänge. Zwischen den beiden wird das ganz besondere Licht sichtbar, das diese Insel auszeichnet.

Dieses Licht erhellt, wie ein Scheinwerfer, die besonderen Lebensumstände einer Familie auf dieser Insel, die aus vier Generationen besteht. Da gibt es die fast 90-jährige Bean Uí Floihnn, Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, und schon lange verwitwet, die alte Witwe. Ihre Tochter Bean Uí Neill, um die 60, ebenfalls schon verwitwet, seit um die 15 Jahren, als in einem tragischen Bootsunglück ihr Mann, ihr Sohn und ihr Schwiegersohn ums Leben gekommen sind, ist die Witwe mittleren Alters. Und ihre Enkelin, die junge Mairéad, die junge Witwe, die in ganz jungem Alter ihren Mann in diesem Unglück verloren hat, und daraufhin ihren Sohn, den jetzt jugendlichen James/Séamus (sein englischer/irischer Name) ohne ihn großziehen musste. Erwachsene Männer und generell jüngere Menschen gibt es nicht mehr viele auf der Insel, die meisten haben sie für bessere Lebensperspektiven für das Festland verlassen.

Als erstes kommt nun der englische Künstler Lloyd auf die Insel, er besteht extra darauf, mit dem traditionellen Boot Curragh anzureisen, auch wenn sonst üblicherweise Menschen und Güter mit einem größeren, schnelleren und sicheren Boot auf die Insel kommen. Er möchte die Insel voll und ganz spüren, sie in sich aufnehmen, um sie möglichst gut zeichnen zu können, und doch stehen ihm oft seine Bequemlichkeiten, Prägungen und Ängste dabei im Weg, zum Beispiel schon beim Einstieg ins Boot:

„Er streckte das rechte Bein nach unten aus, dann das linke, sich immer noch an die Leiter klammernd.
Selbstporträt I: fallend
Selbstporträt II: ertrinkend
Selbstporträt III: entschwindend
Selbstporträt IV: unter Wasser
Selbstporträt V: der Verschwundene.
Und loslassen, Mr Lloyd.
Ich kann nicht.“ (S. 11)

So muss Mr. Lloyd immer wieder diverse Ängste und Einschränkungen überwinden, um die Insel malerisch zu erkunden, und lässt doch gewisse Charakterfehler nie ganz hinter sich, wie sich zeigen wird.

Sein Ego ist überwältigend groß, er will nicht nur irgendein Künstler werden, sondern ein ganz bedeutender, berühmter, von den Galeristen bewundert und in der Kunstwelt verehrt. Diese Persönlichkeitseigenschaft teilt er mit dem Franzosen Masson, der etwas später auf die Insel kommt und dem es darum geht, ein berühmter Linguist zu werden, mit einem weit verbreiteten Buch und einem eigenen Lehrstuhl. Die Eitelkeiten und Wünsche der beiden Männer prallen aneinander, jeder stört sich am anderen, und gemeinsam auf der Insel zu sein klappt nur, indem einer der beiden ein deutliches Stück wegzieht.

Währenddessen kommen die Inselbewohner den beiden Männern auf verschiedene Arten näher, es entstehen scheinbar erste Freundschaften und Affären, und sie werden zu Hoffnungsträgern für die, die der Einsamkeit und Perspektivlosigkeit der Insel gerne entfliehen würden. Das gilt insbesondere für den jugendlichen James, der nicht wie sein Vater, Opa und Onkel als toter Fischer enden möchte, sondern inspiriert durch den Engländer von einer Karriere als Künstler träumt. Diese scheint nun auch in Reichweite zu kommen, James erweist sich als sehr talentiert, verbringt den Sommer zeichnend und malend neben Mr. Lloyd und hofft, mit diesem gemeinsam die Insel verlassen, auf die Kunsthochschule zu gehen und Ausstellungen machen zu können.

In diesem Buch geht es also auch ganz stark um das Thema Tradition vs. Moderne, um das, was Menschen bewahren möchten und das, was sie gerne hinter sich lassen möchten. Um ihre Identität und Sprache und darum, wer das Recht hat, diese zu bestimmen. An dieser Linie zeigt sich einer der großen Konfliktpunkte der beiden Besucher: durch den Kontakt mit dem Engländer sprechen die Inselbewohner mehr und mehr Englisch statt nur Irisch, was dem Franzosen mit seiner linguistischen Studie und seinem Wunsch nach Bewahrung der Reinheit des Inseldialekts in die Quere kommt.

Wir befinden uns im Roman im Jahr 1979, einem der Jahre, in denen der Nordirland-Konflikt blutig eskaliert ist. Davon bekommt man an der Insel lange nur sehr wenig mit, das Inselleben geht beschaulich für sich dahin und wird nur hin und wieder durch Radiomeldungen eines Attentats unterbrochen, die mit der Zeit aber mehr werden und gefühlt näherkommen. Es wird sich zeigen, ob und wie auch dieser anfangs so weit entfernt scheinende Konflikt die Inselbewohner und ihre Themen prägt.

Ein großes Thema, das sich durch das Buch zieht, ist auch der im Titel angesprochene Kolonialismus. Natürlich ist es kein richtiger Kolonialismus mehr, wie früher, doch stehen die beiden Besucher für ehemals starke Kolonialmächte, Großbritannien und Frankreich, und sie tragen in sich so einiges an problematischen Eigenschaften dieser. Wie viel Gutes, wenn überhaupt etwas, bringen sie mit ihrer Arbeit der Insel und ihren Bewohnern, und wo wird die Grenze zur kulturellen Aneignung und Ausbeutung tangiert bis überschritten? Auch dazu gibt das Buch sehr viel Stoff zum Nachdenken.

Sprachlich und stilistisch ist das Buch ein Meisterwerk. Es verfügt über eine ganz eigene Sprache, die es schafft, die Lesenden auf die entlegene Insel zu transportieren und ihnen ein lebendiges Gefühl davon zu vermitteln, wie es dort im Jahr 1979 gewesen sein könnte. Die Charaktere sind liebevoll, authentisch und detailliert gezeichnet. Und die großen Themen des Buches: Identität vs. das Fremde, Moderne vs. Tradition, Kolonialismus und im Hintergrund der schwelende Nordirlandkonflikt werden vielschichtig und authentisch eingebaut. Ein großartiges Lesevergnügen, das in vielerlei Hinsicht bildet und zum weiteren, eigenständigen Nachdenken anregt! Absolute Leseempfehlung und eines meiner Jahreshighlights! Ein absolut tolles Buch von Audrey Magee, überragend und kunstvoll übersetzt von Nicole Seifert.

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