Über tiefen Schlaf und eine augenöffnende Rolle
In deinem SchlafManche Bücher sind in ihrer Einzigartigkeit ganz besonders, weil man so ein ähnliches Buch noch nie gelesen hat. Das kann sich auf die Inhalte genauso beziehen wie auf die Erzählweise. „In deinem Schlaf“ ...
Manche Bücher sind in ihrer Einzigartigkeit ganz besonders, weil man so ein ähnliches Buch noch nie gelesen hat. Das kann sich auf die Inhalte genauso beziehen wie auf die Erzählweise. „In deinem Schlaf“ von Ekaterine Togonidze ist so ein Buch. Es stellt uns eine Welt vor, die mitteleuropäischen Leserinnen und Lesern in vielem fremd vorkommen wird: nicht nur handelt das Buch von Menschen im modernen Georgien, das sowieso schon für viele Deutschsprachige ein eher weißer Fleck auf der Landschaft ist. Auch geht es um Themen, die wenig im Scheinwerfer der mitteleuropäischen Berichterstattung stehen: eine geschickte Verwebung der persönlichen und transgenerationalen Traumatisierungen als Folge des Abchasienkriegs in den 1990ern mit einem Familiendrama in der heutigen Zeit, bei dem ein Mädchen nach einem Schock des Allein-Gelassen-Werdens während eines Erdbebens in einen tiefen koma-ähnlichen Schlaf fällt.
Für dieses medizinische Phänomen gibt es einen Namen: es handelt sich um das Resignationssyndrom und es tritt hauptsächlich bei Flüchtlingskindern auf, deren Aufenthaltsstatus ungeklärt ist und die sich psychisch so tief verunsichert fühlen, dass sie unbewusst aus dieser gefährlichen Welt flüchten wollen, sodass ihr Bewusstsein sich auf unbestimmte Zeit verabschiedet.
Nia Kandelaki ist eine junge georgische Schauspielerin Anfang 30, verheiratet mit Demna, den sie eigentlich sehr liebt und der als Kind in den 1990ern mit einer Verwandten aus Abchasien in einen anderen Teil Georgiens flüchten musste. Vordergründig scheint Demna mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen, ist ein liebevoller Ehemann und Vater, geduldig und großzügig. Doch, für Nia als Mutter absolut unbegreiflich und unverzeihlich, hat er ausgerechnet, als es wirklich darauf angekommen wäre, als Vater in ihren Augen komplett versagt: als ein Erdbeben die Stadt erschütterte, ist er einfach davongelaufen und hat seine Tochter Gabriela alleine in der bebenden Wohnung zurückgelassen. Diese wurde körperlich zum Glück nicht verletzt, ist aber aufgrund des Resignationssyndroms nach dem Schock des Allein-Gelassen-Werdens in einen tiefen Schlaf verfallen, aus dem sie seit einem halben Jahr nicht aufgewacht ist.
Nia hat Demna wütend aus der Wohnung geworfen, hält die schlafende Tochter von ihm fern und will sich von ihm trennen. Selbst kümmert sie sich aufopferungsvoll – teilweise mit Unterstützung einer Pflegerin und ihrer Mutter für die Zeit, wenn sie selbst arbeiten muss –
Tag und Nacht um die Pflege der bewusstlosen Gabriela, während sie gleichzeitig versucht, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern und für Rollen in ihrem Beruf als Schauspielerin vorsprechen geht. Da wird ihr überraschend tatsächlich eine wichtige Hauptrolle angeboten: die der Anna, einer jungen abchasischen Flüchtlingsfrau in den 1990ern, die aus eben dem Krieg flieht, aus dem auch Nias Mann Demna als Kind geflohen ist, worüber sie aber nie miteinander gesprochen haben.
Über weite Teile des Buches wechselt die Geschichte zwischen den zwei scheinbar unverbundenen Settings, die doch in der Tiefe so viel miteinander zu tun haben, was sich immer mehr zeigt: einerseits Nia in ihrer Rolle als Mutter, die sich um die schlafende Gabi kümmert. Andererseits Nia in ihrer Rolle als Schauspielerin, die die flüchtende und vom Krieg gezeichnete Anna spielt, und in dem sehr authentischen Filmsetting unter physischen und emotionalen Belastungen ein wachsendes Verständnis dafür entwickelt, was es bedeuten kann, alles zurücklassen und verzweifelt unter Lebensgefahr über die eisigen Berge flüchten zu müssen.
Wie wird sich diese Entwicklung Nias auf das Verhältnis auf ihre eigene Persönlichkeit, aber auch auf das Verhältnis zu ihrer Familie auswirken? Wie geht es mit ihrer Ehe weiter? Was liegt hinter Demnas scheinbar rätselhaftem, so rücksichtslos wirkendem Verhalten während des Erdbebens? Und gibt es Hoffnung für die kleine Gabriela, jemals wieder aus ihrem komatösen Zustand zu erwachen?
Mit all diesen Fragen und noch vielen weiteren beschäftigt sich dieses Buch. Wir lesen es aus Nias Perspektive und sind ganz nah an ihrer Wahrnehmung dran. Nia ist eine sehr fleißige, engagierte Frau, eine besorgte, aufopferungsvolle Mutter und tüchtige Schauspielerin. Besonders empathisch und mitfühlend ist sie erst einmal nicht, doch macht sie im Laufe des Buches durchaus eine interessante Entwicklung durch.
Insgesamt ist es ein spannendes Psychogramm einer jungen Frau, die in vielem kulturell sicherlich ganz anders geprägt ist, als wir es aus Mitteleuropa kennen, und noch viel mehr als das: ein Buch, das nachdenklich macht und aufrüttelt in Bezug auf die Wunden, die durch Kriege und die damit verbundenen Traumatisierungen auch in diesem Moment so vielen Menschen zugefügt werden und die noch jahrzehntelang Auswirkungen nicht nur auf diese Menschen selbst, sondern durch das Phänomen der transgenerationalen Traumatisierung und familiären Weitergabe von destruktiven Mustern auch auf ihre Nachfahren haben.
Das Buch liest sich unglaublich spannend und hat auf mich einen richtigen Sog ausgeübt beim Lesen: atemlos habe ich die Geschichte immer weiterverfolgt und beide Erzählstränge – sowohl der rund um die schlafende Gabi als auch das sehr anschaulich geschilderte Filmsetting am inszenierten Kriegsschauplatz – haben mich überzeugt, fasziniert und gefesselt. Auch sprachlich ist das Buch besonders: in einer Dichte und Eindringlichkeit geschrieben, die ihresgleichen sucht.
Hier Sprachbeispiele aus beiden Abschnitten:
Nia als aufopferungsvolle Mutter und ihr innerer und zum Teil auch hörbar verbalisierter Monolog an die schlafende Gabriela:
„Ich spreche heiter, so heiter ich kann. Diese Rolle habe ich bekommen – die Rolle meines Lebens – und ich spiele sie. Aber ich habe immer Angst, ich habe Angst vor jedem vergangenen Tag, denn es sind schon einhundertvierundachtzig Tage, seitdem du schläfst, du bewegst dich nicht und wirst immer schlaffer. Dein Körper ist erschlafft, Muskeln – kraftlos, Reflexreaktionen – abgebaut. Gabriela, bitte, wach auf“ (S. 8)
Im Vergleich dazu nun eine der vielen Szenen aus dem Filmdreh, bei dem Nia die flüchtende Anna spielt:
„Szene 40. Außenbereich. Tag. Fortsetzung. Vergangenheit.
Annas Nachbarhaus bei Sochumi.
Das Haus steht lichterloh in Flammen, lodert und bricht in sich zusammen. Dichte Rauchschwaden steigen in den Himmel. Vor dem Haus rollen gepanzerte Fahrzeuge vorbei. Soldaten mit Sturmgewehren sitzen obenauf. Menschen hasten durcheinander, ihre Habseligkeiten auf den Rücken geschnallt. Einige beladen Autos in hektischer Eile. Anna geht mit dem Kind in entgegengesetzter Richtung der Panzer. Sie nähert sich einem Auto, spricht mit dem Fahrer und steigt ein.“ (S. 159)
Ekaterina Togonidze ist definitiv ein Ausnahmetalent als Schriftstellerin und ich werde sehr gerne demnächst weitere Bücher von ihr lesen. Für mich ist das Buch eines der absoluten Lesehighlights dieses Jahres! Nebenbei habe ich auch so viel über Georgien, den Abchasien-Konflikt, das Resignationssyndrom, transgenerationale Traumatisierung, aber auch darüber, wie Filme gemacht werden können (und auch, wie sie vielleicht nicht gemacht werden sollten) gelernt.
Danke an den Septime-Verlag dafür, diese Autorin auf Deutsch übersetzt und das Buch somit auch deutschsprachigen Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht zu haben. Leseempfehlung für alle, die ein ganz besonderes, spezielles, einzigartiges Buch lesen möchten!